Читать книгу Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter - Группа авторов - Страница 11
Die Fassung B
ОглавлениеDa der B-Redaktor den Text von A allgemein gekürzt hat, wie wohl bekannt, soll es nicht überraschen, dass seine Version der Tarquinius-Episode dreißig Verse weniger als das Original umfasst. Allerdings fällt beim genaueren Vergleich der Fassungen auf, dass der B-Redaktor seine Vorlage nicht nur gekürzt, sondern auch durch eigene Zusätze erweitert hat. Manchmal sind beide Tendenzen in ein und derselben Passage wirksam.
Als Conlatinus, aus Viterbo geflüchtet, sich vor dem Senat beklagt, der den Kriegszug gegen die Stadt beschließt, heißt es z.B:1
A 4368–76 Duo der helt vil balt floh ze Rome in die stat, duo claget er den altherren, wi iz im ergangen ware. si luten ir scellen: duo samenten sih die snellen. si sprachen alle dar zuo, wi iz Piternære ie getorsten tuon? si redeten daz iz groz laster wære, daz iz ie dehaimme Romære gescæhe. | B do der held lussam hin wider ze Rom cham, do begund er sein not sagen den senatorn und chlagen, und sein groz swær, daz er chaum entrunnen wære von den herren ze Bittern: die heten in erslagen gern; daz wær Trierer rat. daz dauht Romer missetat. si leuten di schellen: do samten sich di snellen. hervart si swuoren, ze Bittern si vuoren. |
An der synoptischen Gegenüberstellung der Passagen in A und B kann man sofort erkennen, dass die Änderungen von B sich alle auf die indirekte Rede beziehen. In der A-Fassung wird der Inhalt von Conlatinus’ Klage äußerst knapp zusammengefasst: do claget er […] wie iz im ergangen ware. Der Grund dafür ist, dass die Tatsachen, über die Conlatinus Bericht erstattet, zwar den Senatoren neu, dem Zuhörer oder Leser der Chronik dagegen bereits bekannt sind: Die dieser Passage unmittelbar vorausgehenden Verse enthalten einen ausführlichen Bericht des Erzählers über den Plan der Trierer, ihren Erzfeind Conlatinus in Viterbo ermorden zu lassen, und auch darüber, wie Conlatinus gerade noch mit seinem Leben davon gekommen war. Aus Rücksicht auf das Publikum verzichtet der Verfasser von A also auf eine Wiederholung der Begebenheiten. Der Bearbeiter von B nimmt dagegen keine Rücksicht auf das Informationsbedürfnis – besser gesagt: auf die Langeweile – seines Publikums, denn in einer beträchtlich erweiterten Wiedergabe von Conlatinus’ Rede lässt er die Verschwörung und die knappe Flucht zum zweiten Mal ausführlich erzählen. Allerdings kürzt er die verbalen Reaktionen der Römer; es heißt nur lapidar: daz dauht Romer missetat (,die Römer hielten es für eine Schandtat‘) und: hervart si swuoren (,sie verpflichteten sich zum Kriegszug‘). Durch diese Kürzung wird ein besonderer Aspekt des A-Textes gedämpft: Die Empörung der Römer über die Provokation, die der Verfasser des A-Textes in indirekter Rede darstellt (,Woher nehmen sich die Viterber die Freiheit?‘; ,Dass so etwas einem Römer passiert, ist ja unerhört!‘), ist nunmehr lediglich als Implikat der Behauptung daz dauht Romer missetat vorhanden. Der Verlust dieses Aspekts wird jedoch durch die Einführung einer neuen Perspektive auf die erzählten Ereignisse kompensiert: Conlatinus erscheint jetzt nicht nur als tapferer Krieger, der die Römer durch seine Waffentaten – also: handelnd – für sich zu gewinnen weiß; seine Rede vor dem Senat weist ihn auch als wirksamen Orator aus, der es versteht, die Römer durch die Überzeugungskraft seiner Worte für seine Sache zu gewinnen.
Tatsächlich besteht ein hoher Anteil der Erweiterungen von B in direkten oder indirekten Reden, die Conlatinus und auch seiner Ehefrau Lukretia in den Mund gelegt werden. Als Conlatinus z.B. die Römer im Kampf gegen die Viterber führt, ergreift er die Fahne und hält in B – das ist der Unterschied – eine Ansprache, mit der er die Römer ermutigt (trœsten) und zum Kampf auffordert (manen):
A 4403–04 Collatinus nam Romare van, er cherte an den burchgraben. | B der Trierer Collatinus, daz puoch sagt uns alsus, nam Romer vanen, er begund si trœsten und manen. |
Als Conlatinus behauptet, seine Frau sei die beste, drückt er sich in B ausführlicher aus als in A:
A 4441–46 Duo sprah der ellende man, der von Triere dar kom: ‘sam mir min lip! ih han daz aller frumigiste wip di der ie dehain man uf romisker erde gewan’. | B do sprach der ellende man von Trier: ‘sam mir mein leip! ich hans allr beste weip die mein ougen ie gesach. ich weiz wol daz mir nie geschach von ir reht leide. dez swer ich tausent aide, daz nie weip enwart, si ist von einer reiner art, daz weiz ich wol ane wan’. |
Diese Ergänzung ist besonders signifikant, weil sie aus einer Prahlerei (,ich habe die allerbeste Frau, die es in Rom je gegeben hat!‘) eine Liebeserklärung macht (,ich habe die allerbeste Frau, die mein Auge je gesehen hat‘). Conlatinus wird als getreuer Ehemann dargestellt, und seine Frau steht ihm an Vorbildlichkeit in nichts nach, wie aus seiner Rede hervorgeht. In diesem Zusammenhang verdient die Passage, in der Lukretia in die Erzählung eingeführt wird, unser Interesse. Der B-Redaktor tilgt den Hinweis auf Ovid und stellt stattdessen Lukretias von Gott gegebene sinne heraus:
A 4337–46 diu hiez Lucretia: si stat in Ovidio gescriben da. do wart im daz wip rehte also der lip. duo minnet ouh in diu frowe mit aller slahte triwen, mit zuhten unde mit guote, mit aller deumuote minnete si den helt palt. si heten grozer wunne gewalt. | B deu hiez Lucretia: also stet geschriben da. do er genam daz wip, si ward im liep sam der leip. ouch begunde in die vrowe minnen mit allen irn sinnen. si waz vil deumüet und phlak vil grozzer güet. da mit zierte si ir leben. die sinne het ir got geben. |
Mit sinne meint der Erzähler die Demut und die Güte, die Lukretias Charaker bestimmen; diese Tugenden legt sie wie ihr Ehemann nicht nur handelnd, durch vorbildliches Verhalten, sondern auch redend an den Tag. Dies sieht man deutlich an der Ansprache, die Lukretia gegen Ende der Episode vor ihren Verwandten auf dem Festmahl hält:
A 4767–68 | B si sprach: ‘nu vernemt freund alle wie eu daz gevalle: |
vil offenlichen sagete si Romæren allen wi iz ir mit dem kunige was ergangen. | ich wil eu offenleichen verjehen was mir laides ist geschehen. ein vil groz missetat: der chünich mich behuoret hat. daz schult ir vernemen rehte. vor der naht næhte, do ich mich legen wolte und vil gern slaffen solte, mein leut warnt mir entwichen, der chünich der cham geslichen. dehein mich vervie: des chuniges wille an mir ergie. daz lat eu allen leit sein, freund und lieben mag mein!’ |
In narratologischer Hinsicht handelt es sich um eine Situation, die Conlatinus’ Klage vor dem Senat sehr ähnelt: Eine bereits erzählte Ereignisabfolge wird erneut wiederholt, diesmal aber von einem innertextlichen oder intradiegetischen Erzähler vor einer textinternen Zuhörerschaft. In dieser Situation verfahren der jeweilige Autor bzw. Redaktor genauso wie vorher. Der Autor der A-Fassung erspart seinem Publikum die Wiederholung des ganzen Hergangs, indem er den Inhalt von Lukretias Ansprache knapp referiert (die Ähnlichkeit zu Conlatinus reicht bis in die verwendete Formulierung si sagete […] wie iz ir ergangen was); der B-Redaktor lässt dagegen die Ereignisse noch einmal ausführlich erzählen, in diesem Fall mit einer langen fingierten direkten Rede, die Lukretia in den Mund gelegt wird. Diese sermocinatio hat jedoch eine andere Funktion als die indirekte Rede des Conlatinus: Während es dem Bearbeiter dort darum ging, Conlatinus als wirksamen politischen Redner zu charakterisieren, kommt es ihm hier darauf an, das Pathos der Szene zu steigern, in der Lukretia, in ihrer Rolle als Verkörperung ehelicher Tugend und Treue, Selbstmord begeht.
Damit sind wir bei der wohl signifikantesten Neuakzentuierung der Erzählung durch den B-Redaktor angelangt, und zwar die Einführung von Tarquinius und Conlatinus:
A 4301–09 Daz buch kundet uns sus: daz riche besaz duo Tarquinius. der was der ubermutigest man der ie von muter in dise werlt bekom. | B Daz buoch sagt uns alsus: daz reich besaz Tarquinus. er waz der übermüetigest man den ie dehein muoter gewan. des engalt er vil schiere. |
Ain furste was bi den ziten ze Triere, der gewan michel liebe ze Tarquinio dem kunige. iz erginc in baiden ubele. er was ain riter vil gemait, […] | ein vürste chom von Triere, der was ein ritter gemait, […] |
In der A-Fassung fängt die Episode mit beiden männlichen Protagonisten und dem Motiv ihrer Freundschaft an; die Darstellung dieser Ausgangskonstellation geschieht im Zeichen der Prolepsis iz erginc in baiden ubele. Der B-Redaktor ersetzt diese Vorausdeutung durch eine andere: des engalt er vil schiere. Diese Prolepsis bezieht sich bezeichnenderweise nicht auf beide Männer, sondern auf Tarquinius; sie wird außerdem um einige Verse vorgezogen, so dass sie unmittelbar nach dem Hinweis auf den exzessiven übermuot des Königs steht; durch die Hinzufügung der Konjunktion des (,deswegen‘) wird die Prolepsis außerdem mit dem Motiv der königlichen superbia kausal verknüpft: Tarquinius wird ein böses Ende nehmen, weil er so hochmütig ist. Was die A-Fassung als Geschichte einer Männerfreundschaft mit tragischem Ausgang präsentiert, wird in B zu einem Exemplum des vor dem Fall kommenden Hochmuts umstilisiert.
Die moralisatio wird zum Schluss der Episode in einem Erzählerkommentar unterstrichen, der keinen Zweifel daran lässt, dass die Umakzentuierung der Geschichte eine vom B-Redaktor bewusst eingesetzte Strategie ist. In der A-Fassung beklagt Conlatinus in einem Selbstgespräch das Leid, das ihm der König angetan hat, bevor er diesen ersticht; der B-Redaktor streicht die Rede, um unmittelbar zur Darstellung der Tat überzugehen; und dort, wo die A-Fassung die Reaktion von den Anhängern des Königs in den Fokus bringt, spricht die B-Fassung das Urteil des Erzählers aus: wie wol sein leip dez wert waz! (,Wie wohl [der König] den Tod verdient hat!‘)
A 4808–24 also des Conlatinus gewar wart, er nam geburlich gewant, er straich nah im in daz lant. also er den kunic rehte ersach, | B do leit Collatinus an sich schnœdes gewant und straich im nah untz ern vant. also schier so er in an sach, |
daz wart er wider sich selbem sprah: ‘owe mir mines liben wibes! owe dir dines libes! swaz min ze rate sule werden, du muost ie dar umbe ersterben’. daz ros nam er mit den sporn, vil harte rach er sinen zorn. mit grimme huop er sih dar. des enwart niemen gewar | |
unz er durh in stach daz er niemer mer wart ersprach. Der kunic viel nider tot, di sine heten alle michel not. | den herren er ze tod erstach daz er tot viel an daz graz. wie wol sein leip dez wert waz! |
Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Der Redaktor der Fassung B bemüht sich offensichtlich, das exemplarische Potenzial der Tarquiniusepisode herauszuarbeiten; dabei handelt es sich sowohl um das Herausstreichen der positiven Exemplarität von Conlatinus und Lukretia, die als Beispiele für die Tugend in den verschiedenen Bereichen von Krieg, Politik, und Ehegemeinschaft zu gelten haben, als auch um die Betonung der negativen Vorbildlichkeit des Tarquinius, der als Exemplum eines durch Hochmut zu Fall gebrachten Herrschers präsentiert wird. Dem Redaktor gelingt es zwar nicht immer ganz, diese exemplarische Linie konsequent durchzuhalten – wie unten weiter ausgeführt, gibt es Stellen, in denen der Redaktor Conlatinus Charakterzüge zu unterstellen scheint, die seiner Vorbildlichkeit eher abträglich sind –, aber die Richtung ist deutlich.
Eines steht jedoch außer Frage: Der genaue Textvergleich soll die Forschung dazu veranlassen, ihre in Ermangelung einer synoptischen Ausgabe notgedrungen auf sehr kleinen Stichproben basierenden negativen Werturteile über die Kompetenz des B-Redaktors neu zu überdenken. Im Hinblick auf die Tarquiniusepisode scheint z.B. Jürgen Wolfs Charakterisierung der Fassung B als „inhaltlich nur dürftig verknüpfte[r] Flickenteppich“ eher problematisch zu sein; seiner Auffassung von den Prioritäten des B-Redaktors können wir uns auch nicht anschließen: „Augenscheinlich galt ihm der Sinngehalt des Textes und dessen Aussagewert als zweitrangig. Bestimmendes Moment waren reine Reime und die mediale Ästhetik, also das schouwen.“2 Unsere Untersuchungen zur Tarquiniusepisode legen nahe, dass der Bearbeiter offenbar ein sehr starkes Interesse an dem Sinngehalt und Aussagewert der Geschichte haben musste.