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I. Varianz von Fassung A

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Ausführliche Studien zur Varianz der drei Fassungen sind in Vorbereitung und folgen in nächster Zeit, so dass wir uns hier auf die bedeutendsten Aspekte der bekannten A-Fassung beschränken.1 Bei der Arbeit an beiden Ausgaben hat sich die A-Fassung immer wieder als ein dynamischer, von Beginn an für Retextualisierungsversuche offener Text gezeigt.2 Text- und überlieferungsgeschichtlich wesentlich ist, dass man an der Überlieferung von A genau dieselben formalen Tendenzen zur Besserung von Reim und Metrum beobachten kann, die für die Fassungen B und C so prägend sind. Wie eingangs erwähnt, wird von der Forschung immer wieder zu Recht behauptet, dass die Redaktionen B und C den alten Text von A modernisieren, und zwar auf eine Weise, die dem durch die höfische Epik bedingten Formwandel Rechnung trägt: Unreine Reime und Assonanzen werden beseitigt; die Toleranz der frühmhd. Dichtkunst gegenüber metrisch langen Versen mit bis zu sieben Hebungen und einer in rhythmischer Hinsicht sehr freien Taktfüllung (Takte – und auch Auftakte – mit drei und sogar mehr Silben sind in der Fassung A keine Seltenheit) wird eingeschränkt: In den Fassungen B und C wird der Vierheber mit geregeltem Wechsel von Hebung und Senkung zur angestrebten – wenn auch nicht immer vollkommen verwirklichten – metrischen Norm. Aus der Überlieferung der A-Fassung geht aber sehr deutlich hervor, dass es offensichtlich möglich war, den in formaler Hinsicht altertümlich wirkenden frühmhd. Text zu aktualisieren, ohne am Versbestand drastische Änderungen vorzunehmen. Dies war Schröder wohl bekannt, wie in folgendem Satz deutlich zum Ausdruck kommt: „Die hss. 2 und 4 [nach unseren Siglen: M und H] haben die gleiche tendenz, den vers von überflüssigem zu entlasten und mit bequemen mitteln einen reinen reim zu schaffen (2 freilich weit mehr als 4); sie treffen daher massenhaft in auslassungen und gelegentlich auch einmal in einer naheliegenden reimbesserung zusammen“.3 Dem Editor des neunzehnten Jahrhunderts, der sich zum Ziel gesetzt hatte, den Archetypus der A-Fassung möglichst getreu zu rekonstruieren, war diese Tatsache allerdings uninteressant.4 Seine Gleichgültigkeit hat sie der Forschung auch dauerhaft verschleiert.

Als Beispiel für die metrische Modernisierung des A-Textes nehmen wir folgende Zeilen aus der Tarquinius-Episode.5 Der Kontext ist folgender: Die Römer, die vor Viterbo lagern, um sich für die heimtückische Behandlung ihres Freundes Conlatinus zu rächen, unterhalten sich in einer Kampfpause. Bevor Conlatinus voller Selbstbewusstsein behauptet, die beste Frau in Rom zu haben, und mit verhängnisvollen Konsequenzen mit Tarquinius darüber eine Wette schließt, geht es allgemein um verschiedene höfische Themen:

V. 4423–25

A1 an den selben stunden
redeten si von sconen rossen unde von guoten hunden,
si redeten von vederspil,
[…]
H an den selben stunden
redeten sie von rossen unt guten hunden,
si redeten von vedirspil,
[…]
M an den selben stunden
von rossen si reden begunden,
von hunden unt von vederspil.
a2 an den selben stunden
reten si von schœnen rossen unt von guoten hunden.
si reten ouch von vederspil.

Der zweite Vers (V. 4424) hat sieben Hebungen in A1 (rédeten sí von scónen róssen únde von gúoten húnden; wenn man nach dem Heuslerschen System zählt, und die weibliche Kadenz als zweihebig auffasst, sind es sogar acht Hebungen), aber nur fünf (bzw. sechs) im Text von H, der das Adjektiv schœne getilgt und die Präpositionalphrasen von einem einzigen von abhängig gemacht hat (rédeten sí von róssen unt gúten húnden). Das Fragment a2 weist eine andere Lösung auf. Die Interpunktion und Rechtschreibung – Reimpunkt hinter rossen; die unmittelbar darauffolgende Konjunktion un(t) bzw. un(de) groß geschrieben – legen nahe, dass der Schreiber den metrisch sehr langen V. 4424 als zwei kürzere Verse von je vier (bzw. fünf) und drei (bzw. vier) Hebungen aufgefasst hat, obwohl diese Spaltung des Verses den Reim zerstört: Das Substantiv rossen steht verwaist da. Die Münchener Handschrift kürzt die zweite der beiden Präpositionalphrasen (von guoten hunden) und bringt sie in dem nächsten Vers unter, in dem durch die Tilgung von si redeten Platz geschaffen worden ist; V. 4424 bekommt an die Stelle der guoten hunde ein neues Reimwort begunden. Das metrische Ergebnis ist ein Dreiheber (bzw. Vierheber); die Änderungen erzielen darüber hinaus ein höheres Maß an syntaktischer Integration, da die Präpositionalphrasen in den beiden Versen 4424 und 4425 jetzt einer einzigen Verbalphrase reden begunden unterstellt sind: von róssen si réden begúnden, | von húnden únt von véderspíl.

Die Münchener Handschrift verdient besonderes Interesse, weil sie einen Text überliefert, der die für die frühmhd. Dichtung charakteristischen Halb- und unreinen Reime durch reine Reime substituiert. Manchmal wird die Verbesserung durch einfachen Ersatz eines Reimworts herbeigeführt, z.B. in den Versen 4661–62. (Kontext: Die Frau von König Tarquinius erfährt von seiner Wette mit Conlatinus und will, dass der König ihre Ehre wiederherstellt; sonst werde sie nie wieder glücklich sein.)

V. 4661–62

A1Ha15a11 […]
ode si gewunne niemer guot gemute.
der kunic ir antworte [antwurte, H].
M […]
oder si gewunne nimmer guten mut.
der chunich ir antwurt tut.

Alle Handschriften außer M haben den unreinen Reim (ge)mute / -muote : (ant)worte / -wurte. M dagegen hat einen reinen Reim, obwohl dieser die Einheitlichkeit der narrativen Zeitdarstellung empfindlich stört: Das periphrastische antwurt tut ist Präsens und rückt den Dialog zwischen Königin und König, über den der Erzähler sonst nur im Präteritum berichtet, für einen Augenblick in die unmittelbare Gegenwart (vgl. V. 4658: Si tet im manichvalt man; V. 4667: Diu chünigin begund wainen).

Bei einigen Reimbesserungen von M lässt sich eine ambitioniertere Retextualisierungsstrategie erkennen, die weit über den einfachen Ersatz eines Reimwortes durch ein anderes oder besseres hinausgeht. Als Beispiel dafür sei das Reimpaar V. 4361f. angeführt. Der Handlungskontext ist folgender: Die Herren von Trier wollen ihren Erzfeind Conlatinus ermorden lassen; es gelingt ihm, gerade noch mit seinem Leben zu entfliehen.

V. 4361f.

A1 […]
daz man in da scolte erslahen.
wi kume er dannen entran.
H […]
daz man in da solde habe irslagen.
wie kume er dannen intran.
M […]
daz man in solt han erslagen,
da von ist gut zesagen.
wi chaum er dan entran.
di red sull wir heben an.

A1H haben den Halb- bzw. unreinen Reim (er)slahen / -slân / ‑slagen : (ent)ran. Der Text, wie er in M überliefert ist, hat einen völlig neuen Vers (Da von ist gut zu sagen), der sich auf das Partizip erslagen reimt; durch die Hinzufügung dieses Verses wäre die originale Assonanz entran verwaist worden, wenn man nicht einen weiteren Vers hinzugedichtet hätte, der sich darauf reimt: Di red sull wir heben an. Mit anderen Worten, aus einem einzigen Verspaar mit Halbreim hat der Schreiber von M (oder der Vorlage von M) zwei Reimpaare je mit Vollreim gebildet; in narratologischer Hinsicht tragen die Plusverse mit ihren sehr formelhaften – man möchte fast sagen: mit ihren banalen – Aussagen zu einer stärkeren Profilierung der Erzählerrolle bei.

Die hier skizzierten Beispiele veranschaulichen, wie sich innerhalb der Fassungen noch viel im Fluß befand. Dass die mittelalterlichen Schreiber über mehrere Jahrhunderte ihre Vorlage so intensiv bearbeiteten, stellt uns vor die erneute Aufgabe, ihre Arbeit an allen drei Redaktionen zu schätzen und verstehen. Deutlicher als in der geplanten Druckausgabe tritt u.a. diese modernisierende Dynamik der A-Fassung sowie zahlreiche Änderungen der B- und C-Fassungen in der digitalen Präsentation hervor.6 Mithilfe der leicht handhabbaren Heidelberger Lichtpultfunktion werden zukünftige Forscher nicht nur die drei Hauptfassungen vergleichen, sondern nach Wunsch etwa mehrere Handschriften einer einzelnen Fassung oder gar ein spätes Zeugnis der A-Fassung neben eines der C-Fassung legen und im vollsten metrischen Detail analysieren können.

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