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Die andere Kaiserchronik
ОглавлениеJan-Dirk Müller
Die Kaiserchronik1 steht am Anfang der Auseinandersetzung volkssprachiger Geschichtskunde mit gelehrter Geschichtsschreibung. Es sind vor allem zwei Prinzipien, die ihren Stoff organisieren: die Chronologie und die strikte Abfolge der römischen Kaiser. Bekanntlich verstößt sie im Einzelnen gegen beide: Die Angaben der Regierungszeiten sind durchweg falsch, und die Reihe der Herrscher ist sowohl lückenhaft als auch um Namen erweitert, die nicht hineingehören. Trotzdem weisen beide Prinzipien nach allgemeiner Ansicht auf ein Geschichtsverständnis, das dasjenige einer volkssprachigen Laiengesellschaft von Grund auf transformiert.
Selten wurde die Gegenrechnung aufgemacht, der Anteil eines ‚anderen‘ Konzepts von Geschichte an der Kaiserchronik. Karl Stackmann hat auf einen Beitrag von Hanna Vollrath aufmerksam gemacht,2 die vom „Sog“ der mündlichen laikalen Kultur auf die litterate Kultur der Kleriker sprach:
Sie sagt, daß es während des jahrhundertelangen Nebeneinanders der zwei Kulturen, der mündlichen und der schriftlichen, im Mittelalter zu Rückwirkungen oraler Geschichtsauffassung auf die Träger der Schriftkultur gekommen ist.
Von dieser hat er das auf „literarischer Überlieferung“ gründende mittelalterliche Geschichtsdenken abgesetzt:
es ist ein Denken in der Dimension der Heilsgeschichte. Geschichte wird vorgestellt als eine gerichtete Bewegung, die von einem Anfang – der Schöpfung – her über eine geordnete Folge bedeutsamer Ereignisse bis zur Zäsur des Erscheinens Christi und von da über die Gegenwart weiter bis zu einem letzten Ziel – dem Jüngsten Gericht – führt. Für ein solches Denken ist eine klare Unterscheidung der Vergangenheit, des bereits zurückgelegten Weges, von der Gegenwart und der noch bevorstehenden Zukunft eine Selbstverständlichkeit.3
Die Kaiserchronik wird in der Regel in dieser Perspektive gelesen.4 Auch wo man einer theologisch-typologischen Deutung reserviert bis skeptisch begegnete und sich der Erzähltechnik, der narrativen Verknüpfung, dem Aufbau und dergleichen widmete, herrscht Konsens, dass die Kaiserchronik von der lateinischen Chronistik des 11. und 12. Jahrhunderts abhängig ist und in diesem Kontext erforscht werden muss.5 Mein Beitrag fragt nach Spuren einer anderen Geschichtsauffassung. Das ist eine Sichtweise, die sich u.a. in der Verschiebung des Schwerpunktes der Textanalyse abzeichnet. Zunehmend kommen bisher weniger beachtete Teile der Kaiserchronik in den Blick, wie z.B. die nachkarolingische Geschichte, in der sich deutlicher als in gelehrter Geschichtsschreibung das Selbstverständnis der Laiengesellschaft abzeichnet.6
Die Kaiserchronik will eine crônicâ sein (V. 17). Eine crônicâ rechnet von einem Gegenwartspunkt zurück und vermisst genau den Abstand zu denen, die vor uns wâren / unt Rômisces rîches phlâgen / unze an disen hiutegen tac (V. 21–23). Sie gehört also zum zweiten der von Stackmann skizzierten Typen. Seinen Anspruch sucht der Kaiserchronist durch ein möglichst lückenloses chronologisches Gerüst zu erfüllen, das die Geschichte des römisch-deutschen Kaisertums vollständig organisiert. Erst eine schlüssige Chronologie kann Basis einer kausalen Verknüpfung von Geschehnissen sein, die als wahrscheinlich gelten kann und den gelehrten Vorbehalt gegen die volkssprachige Geschichtskunde abweist. In der Tat dominiert die Ausrichtung der Kaiserchronik an der chronologischen Ordnung einen großen Teil des Textes und hat entsprechend die meiste Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden, zumal wo die durch gelehrte Überlieferung gesicherte Geschichtszeit mit Sage kollidiert wie beim Ostgotenkönig Theoderich dem Großen.7 Doch ist das nur die eine Seite.
Mathias Herweg hat auf die eigentümliche narrative Struktur eines Textes hingewiesen, der für ein noch ungeübtes volkssprachiges Publikum bestimmt ist.8 In vielem bleibt das gelehrte Geschichtskonzept stecken. Bekanntlich nimmt die Kaiserchronik viel Sagenmaterial auf; insbesondere in den Randzonen des Textes bemüht sie sich nicht um eine exakte Chronologie. Es sind vor allem drei Komplexe, die sich dem chronologischen Prinzip entziehen: 1. die vielen Sagen und Legenden,9 die der Erzähler einschaltet, 2. die Vorgeschichte des kaiserlichen Rom und 3. der weltgeschichtliche Rahmen der Geschichte des römischen Reichs.10
Kurz zu eins: Die Ordnung, der der Kaiserchronist sein Material unterwirft, ist immer dann gefährdet, wenn der zu erzählende Stoff eine eigene Faszination entwickelt. Das ist vor allem bei den eingeschobenen Sagen und Legenden der Fall, die mehr oder minder beliebig in den chronologischen Rahmen gezwängt werden, ohne genauer zeitlich fixiert zu sein: ez bechom (V. 690, Veronikalegende); Eines tages (V. 909, ein Verbrechen bei der Eroberung Jerusalems); Duo stuont iz unlange (V. 1235, Faustinianlegende); Aines tages kom iz sô (V. 4415, Beginn der – falsch datierten – Lucretia-Handlung); der cunich siechen began (V. 7813, Einsatz der Silvesterlegende) usw. Solche Zeitangaben sind in frühmittelalterlichen volkssprachigen Erzählungen überall da üblich, wo nicht, wie etwa im Heliand, die heilsgeschichtliche Ordnung der Geschichte genauere Bestimmungen verlangt.11 Das erzählenswerte Ereignis wird, so gut es geht, in die Herrscherchronologie eingefügt. Zu diesem Zweck muss Tarquinius, der Schänder der Lucretia, römischer Kaiser sein und viereinhalb Jahre und zwei Monate herrschen. Die Einschübe sind Relikte eines anderen Geschichtsverständnisses, das auf Bedeutsamkeit statt chronologische Vollständigkeit setzt.
Zu zwei: Der Erzähler nimmt einige Umwege, bevor er in die Chronik der Kaiser und Päpste einlenkt. Der Einsatz der Erzählung mit dem vor-kaiserzeitlichen Rom verliert sich ebenfalls in einem nebelhaften ‚Irgendwann‘, das typisch für frühe volkssprachige Epik ist:12 Hie bevor bi der haiden zîten (V. 43). Hie bevor ist von dem Zeitpunkt her gedacht, an dem die ‚eigentliche‘ Geschichte einsetzt: Die ‚eigentliche‘ Geschichte ist Geschichte des römischen Kaisertums als Rahmen der Christenheit; der haiden zîten fallen aus der Chronologie heraus. Man fragt nicht nach genauerer zeitlicher Artikulation. ‚Damals‘ stieg Rom durch die Brüder Romulus und Remus zur Weltherrschaft auf (V. 50); das war ‚irgendwann‘; sît (V. 55) – seitdem oder auch später – dienten ihm elliu diu rîche (V. 56). Es ist eine ungemessene Zeit vor der Zeit. Auch in diesem Abschnitt gibt es eine Zeitrechnung, doch ist es der römische Kultkalender, der seine Spuren in der christlichen Zeitrechnung hinterlassen hat und der in der Perspektive seiner christlichen Überwindung dargestellt wird.
Zu drei: Der Einsatz der ‚eigentlichen‘ Erzählung erfolgt unvermittelt: Aines tages iz geschach (V. 235), dass eine schelle anzeigt, das Dûtisc volch (V. 246) habe sich gegen Rom erhoben. Damit geraten die Römer mit demjenigen Volk aneinander, das ihre weltgeschichtliche Rolle übernehmen wird.13 Die Aufgabe, den Aufstand zu befrieden, wird Julius Caesar übertragen. Es beginnen die Auseinandersetzungen Caesars mit den Schwaben, Baiern, Sachsen und Franken. Damit schweift der Blick wieder in eine chronologisch nicht vermessene Vorgeschichte, in ‚Heldenzeit‘, die – etwa die Thüringer-Sage – auch in einigen kryptischen Anspielungen präsent ist. Diese Wendung zur Sage hat Konsequenzen für die Erzählweise. Deutlich sind noch heldenepische Initialformeln erkennbar:14 ze Swâben was dô gesezzen / ain helt vil vermezzen / genant was er Prenne (V. 273–275); in Bayern vil manich tegen inne saz (V. 294); Franke gesaz am Rhein (V. 373). Die Alexander-Sage wird in der Genealogie der Sachsen aufgerufen, denn diese stammen von des wunderlîchen Alexanders man ab (V. 328), von dem sagenhaften Heros, nicht dem Herrscher über das dritte Weltreich. Die Franken kommen wie das Geschlecht Caesars aus Troja, was Anlass ist, die Trojanersage einzuspielen, auf die Irrfahrten des Odysseus zu kommen, die Geschichte des Aeneas, die Städtegründungen durch versprengte Trojaner.
Dabei bleibt das zeitliche Verhältnis dieser Sagen zueinander unartikuliert. Alles spielt in einer dunklen Gleichzeitigkeit. Caesar besiegt die Stämme der Schwaben, Baiern, Sachsen und Franken, gründet feste Plätze in Deutschland, erobert Trier, und steht damit an der Spitze dieser heroischen Welt, unz im alle Dûtiske hêrren / willic wâren ze sînen êren (V. 453f.). Wenn man ihm die Rückkehr nach Rom versagt, kann er mit Hilfe der Herren in Dûtiscem rîche (V. 464) die Herrschaft in Rom erobern.
Jetzt könnte die Geschichte des römisch-deutschen Kaisertums beginnen, in das der Kaiserchronist die Geschichte der Evangelien und des frühen Christentums einordnet und die er klar chronologisch vermessen muss. Doch wird das chronikalische Prinzip, ohnehin erst nach längerem Anlauf erreicht, noch einmal verwirrt, wenn die geschichtstheologische Lehre von den vier Weltreichen, die aus der Auslegung zweier Träume durch den Propheten Daniel abgeleitet wird, eingespielt werden soll.15 Sie stammt wieder aus dunkler Vorzeit und erfüllt sich zur Zeit Caesars. In der schon bekannten unbestimmten Weise einer vorchronologischen Zeitbestimmung heißt es:
In den zîten iz gescach
dannen der wîssage Dâniêl da vor sprach
daz der chunic Nabuchodonosor sîne troume sagete
die er gesehen habete (V. 526–529)16
Wie häufig in den Adaptationen des Traums, sind Daniel 2 (der Traum des Nabuchodonosor) und Daniel 7 (Daniels Traum) zusammengelegt. In dem zweiten Traum zeigen vier Tiere, die Daniel sieht, vier künftige Reiche an. Das erste Tier ist eine geflügelte Löwin, das zweite ein Bär mit riesigen Zähnen, das dritte ein geflügelter Leopard; das vierte ist ein besonders furchtbares, jedoch unbezeichnetes Tier mit zehn Hörnern, dem ein elftes wächst. Seit der Spätantike stehen die vier Tiere für die Reiche der Babylonier, der Meder und Perser, der griechischen Makedonier (Alexander) und schließlich der Römer; das elfte Horn, auf das vierte Tier übertragen, kündigt den Antichrist an.17 Die Weltreichelehre gliedert Heilsgeschichte; in dieser ist das Römische Reich ausgezeichnet: An seinem Anfang, in der Fülle der Zeit, wird Christus geboren, und es dauert bis zum Weltende, bis zur Herrschaft des Antichrist. Allerdings ist sein Fortbestand im römisch-deutschen Kaisertum in der frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung keineswegs selbstverständlich, doch setzt sich dieses Bild im 11. und vor allem 12. Jahrhundert durch.18 Die Kaiserchronik kann also nicht auf eine jahrhundertelange Tradition bauen, sondern vertritt mit ihrer Reihe römischer und deutscher Herrscher einen relativ neuen Trend. Sie nimmt die Deutungsvorgabe auf, besetzt sie aber in charakteristischen Einzelheiten um.
Der Versuch des Kaiserchronisten, Daniels Prophezeiung seinem Geschichtswerk zu integrieren, zeigt, dass er diese Tradition kennt, doch ändert er ihre Bedeutung.19 Zum einen verändert er die Reihenfolge der Tiere, von denen Daniel träumt (Löwe, Bär, Leopard, von Daniel unbenanntes Untier), in Leopard, Bär, unbenanntes Untier (= Eber) und Löwin. Damit wird der Bezug auf die seit der Spätantike übliche Zuweisung der beiden ersten Weltreiche auf die vorderasiatischen Großreiche und die translatio imperii von Osten nach Westen zerstört. Am Anfang stehen die Griechen, dann folgt ein Tier, der Bär, der nicht für ein bestimmtes Weltreich steht, vielmehr der bezaichenet driu [!] kunincrîche / diu wider aim solten grîfen (V. 567f.) – welche das sein sollen, bleibt offen –, dann kommt schon an vorletzter Stelle Rom, an letzter das Reich des Antichrists.
Auch ist die Bezeichnungsfunktion gestört: Geht es um Reiche oder um einzelne Herrscher? Der von Edward Schröder herausgegebene Text ist da unentschieden. Seine Lesart – die Übertragung der Prophezeiung über die Reiche auf eine Prophezeiung über einzelne Herrscher – hat sich durchgesetzt,20 obwohl sie seiner eigenen Ausgabe zufolge keineswegs sicher ist. Zunächst heißt es:
[…] ûz dem mer giengen
vier tier wilde.
diu bezeichent vier chunige rîche,
die alle dise werlt solten begrîfen. (V. 532–535).
Das könnte auch ‚vier Reiche von Königen‘ bedeuten.21 Doch die folgenden Ausführungen machen diese Deutung unwahrscheinlich: Beim zweiten, dem Bären, ist gegen Schröders Schreibung driu kunincrîche wohl eher an drei Könige (driu kuninc rîche) zu denken (V. 567); beim ersten, dem Leopard, und dem dritten, dem Eber, ist vollends klar, dass auf einzelne Herrscher verwiesen wird, auf Alexander und den tiurlîchen Juljum (V. 572). Über Alexander heißt es:
Daz êrste tier was ein liebarte;
der vier arenvetech habete,
der bezaichinet den Chrichisken Alexandrum,
der mit vier hern vuor after lande
unz er der werlt ende rechande. […]
vil manic wunder relait der selbe man,
ain drittail er der werlte under sih gewan. (V. 536–540; 563f.)
Auch das dritte Tier bezeichnet einen einzelnen Herrscher:
Daz dritte ain fraislich eber was,
den tiurlîchen Juljum bezaichenet daz.
der selbe eber zehen horn truoc,
dâ mit er sîne vîande alle nider sluoc.
Juljus bedwanch elliu lant,
si dienten elliu sîner hant.
wol bezaichenet uns daz wilde swîn
Daz daz rîche ze Rôme sol iemer frî sîn. (V. 573–578)
Das vierte Tier, eine Löwin, meint dann den Antichrist (V. 585), dessen Herrschaft nicht am Ende des römischen Reichs steht, sondern am Ende der Zeiten kommen wird.
Damit verändert sich die Geschichtskonzeption fundamental, denn die Prophezeiung enthält kein Ordnungsmuster der Weltgeschichte insgesamt mehr. Indem die Reihenfolge verändert und der Antichrist sowie das elfte Horn des Ebers vom Repräsentanten Roms abgespalten und auf das vierte Tier übertragen sind, wird zwar, wie die Forschung bemerkt hat, das römische Reich von negativen Konnotationen entlastet.22 Aber es rückt aus seiner weltgeschichtlichen Position – als Telos von Geschichte überhaupt und als Aufschub des Erscheinens des Antichrist – heraus. Durch die Übertragung des prophetischen Tiers auf Caesar verweist der Eber nicht mehr auf die „christliche Erfüllung“23 der Weltgeschichte im römischen Reich, und es ist nicht mehr nötig, in einer Formulierung von Friedrich Ohlys Schüler Klaus Speckenbach, mit einer „unerhörte[n] und kühne[n] Umdeutung des Ebersinnbildes“ durch den volkssprachigen Autor zu rechnen.24
Die Verknüpfung des Ebers mit Caesar verwandelt die Danielsprophezeiung aus einer geschichtstheologischen Aussage in die Rühmung eines Heros.25 Julius ist ain vermezzen helt (V. 249), en allen wîs was er ein helt guot (V. 256), er wird ain guot kneht genannt (V. 267), der mit offenem strîte (V. 279) seine Gegner niederwirft. Diese sind guote reken / […] wol vertic unt wol wîchaft. / iedoch betwanc Juljus Cêsar alle ir chraft (V. 294–296). Indem der Eber auf ihn verweist, teilt er diese Eigenschaften dem römischen Reich mit: wol bezaichenet uns daz wilde swîn / daz daz rîche ze Rôme sol iemer frî sîn. (V. 577f.). Wie der Heros wird es nie einem anderen unterworfen werden. Die Prophezeiung wird mit einem anderen Deutungsmuster überschrieben.26
Es ist erstaunlich, dass Ohly, der im Allgemeinen die lateinisch-geistliche Tradition als gültigen Interpretationsrahmen volkssprachiger Literatur ansieht, ausgerechnet in diesem Fall der Volkssprache Vorrang einräumt. Begründet ist das darin, dass ein Teil der Umdeutung sich schon im Annolied findet, von der die Kaiserchronik hier abhängig ist. Die Forschung ist trotz ihrer Skepsis gegenüber Ohlys typologischer Deutung der Kaiserchronik ihm in diesem Punkt gefolgt.27 Ein Werk, das sich derart explizit in die Tradition gelehrter Geschichtsschreibung stellt, scheint an deren geschichtstheologischer Deutung teilhaben und den Eber deshalb als positives Zeichen deuten zu müssen.
Das ist angesichts der geistlichen Tradition alles andere als selbstverständlich. Die Deutung des ungenannten vierten Tiers der Danielprophezeiung als wilder Eber geht auf den Kirchenvater Hieronymus zurück, der es mit dem aper de silva identifizierte, der laut Ps. 79,16 den Weingarten Gottes verwüstet.28 Hieronymus sagt, Daniel verschweige den Namen des Tieres, damit man es sich umso schrecklicher vorstellen könne (ut quidquid ferocius cogitaverimus in bestiis).29 Alle Tiere, die Daniel sieht, sind schreckliche Tiere; das letzte wird alle Lande vernichten (Dan 7,23). Dies – und nicht nur entgegenstehende zeitgeschichtliche Erfahrungen mit dem spätrömischen Reich –, veranlasste Augustinus, in De civitate Dei die Lehre von den vier Weltreichen nach der Danielprophezeiung zu zitieren, doch sie allesamt, nicht zuletzt das römische Reich, als Erscheinungsformen der civitas diaboli zu bestimmen.30 Darin stimmt er mit Hieronymus’ Danielinterpretation überein.
Von Anfang an besteht also eine Spannung zwischen heilsgeschichtlicher Deutung und furchterregender Erscheinungsform der Tiere. Sie muss in dem Maß Schwierigkeiten bereiten, in dem das christianisierte Reich als Fortsetzung des Römischen Reichs und dieses als Telos der Weltgeschichte vor dem Erscheinen des Antichrist verstanden wird, wie dies in der lateinischen Geschichtsschreibung verstärkt seit dem 11./12. Jahrhundert geschieht. Bei der Übertragung in die Volkssprache ist der Charakter der Tiere weit weniger anstößig. In der feudalen Kriegergesellschaft sind Raubtiere und speziell auch der Eber durchaus positiv konnotiert. Seine Bestätigung findet das in der Heraldik. Adler, Löwen, Leoparden, Bären, selbst Wildschweine sind die beliebtesten Wappentiere.
Das Annolied,31 von dem die Kaiserchronik abhängig ist, steht der theologischen Weltreichelehre näher als diese, bringt die Tiere in der ‚richtigen‘ Reihenfolge, spricht aber auch von vreislicher dieri vieri (V. 11,8). Das vierte Tier beschreibt es als unbezwinglichen Eber vreisam mit eisernen Klauen und Zähnen (V. 16,5) und nennt es mit deutlicher Anspielung auf Psalm 79,16 auch waltswin (V. 16,7). Die zehn Hörner bedeuten zehn Könige, ein elftes zeigt den Antichrist an (V. 11,8):
iz haviti iserne clawin
daz necondi nieman gevan –,
iserni zeini vreisam :
wie sol diz iemir werdin zam ?
wolle beizeichinit uns daz waltswin,
daz did riche zi Rome sal vri sin.
der ebir zin horn truog
mit den ir sini vianti nidirsluog.
her was so michil unde vorhtsam :
zi Rome wart diu werlt al gehorsam. (V. 16,3–12)
Die Identifikation mit dem Römischen Reich war für die Forschung auch hier Anlass, die Beschreibung der Tiere positiv im Sinne der Heilsgeschichte zu deuten.32 Aber auch hier besteht die Verbindung des Ebers mit Gewalt fort. Der Eber versetzt seine Feinde in Schrecken (11,8; 16,3; 16,10); beim waltswin werden die negativen Konnotationen des Psalmisten zwar nicht ausdrücklich angesprochen – statt den Weingarten des Herrn zu verwüsten, unterwirft er alles der Herrschaft Roms –, dürften aber im Hintergrund stehen.
Diese Deutung nimmt die Kaiserchronik auf und vereindeutigt sie, indem sie die Prophezeiung nicht mehr auf das römische Reich, sondern auf den Heros bezieht, der es begründet, auf Julius Caesar, den Eroberer und Weltherrscher. Der Eber bezwingt alle Feinde wie Julius alle Länder: sie dienten elliu sîner hand (V. 576); er allein dient niemandem. Von ihm wird das auf die frîheit des römischen Reichs übertragen, das nie unterworfen werden wird, nicht auf Grund seiner heilsgeschichtlichen Qualität, sondern dank seiner physischen Überlegenheit. Frî ist eine Adelsqualität; wer frî ist, ist niemandem unterworfen. Die Prophezeiung wird im Sinne einer feudalen Kriegergesellschaft überschrieben.
Das bestätigt sich, wenn man den Eber in der Kaiserchronik weiter verfolgt. Aus dem heilsgeschichtlichen Symbol wird in der Geschichte des Kaisers Titus ein Feldzeichen. Titus erscheint keineswegs als einer „der vorbildlichsten Kaiser des römischen Reichs“,33 „mit allen vorbildlichen Tugenden ausgezeichnet“,34 sondern primär als ein erfolgreicher Krieger. Die Vorgeschichte seiner Herrschaft ist von urliuge unt strît geprägt (V. 4838), mit heroischen Taten und riesigen Verlusten. Sein Vater Vespasian wird von den Römern vorübergehend sogar abgesetzt. Er erobert Jerusalem und führt dann mit Titus einen blutigen Krieg gegen einen König von Babylonje. Um Roms Ehre zu bewahren, verfolgt Titus die Babylonjer bis in ihr Land. Dabei führt er eine grüne Fahne, die überdeutlich auf die Danielsprophezeiung anspielt:
mit golde was geworht dar an
ain eber wilde
in wunderlîchem pilde
der selbe eber zehen horn truoc,
mit dem er sîne vîande nider sluoc.
wol bezaichenet uns das eberswîn
daz daz rîche ze Rôme sol vor den andern sîn (V. 5264–5270)
Vor den andern sîn ist eine Paraphrase von frî. Sie deutet auf physische Überlegenheit, nicht heilsgeschichtliche Auszeichnung. Der Sieg im Zeichen des Ebers ist ein heroischer Kampf von helden um Ehre (V. 5236; 5252; 5271):
daz sperwehsel wart alsô grôz,
daz bluot allenthalben von in flôz.
ir wart alsô vil erslagen:
Mit tôten fulten si die graben.
dâ wart der swerte ain michel clanc
duo Tîtus in daz burgetor dranc,
do gefrumte der helt Tîte
manige wunden wîte,
manigen bluotigen schiltes rant.
da belac inne manic wîgant,
manic helt guoter
betrôret mit dem bluote,
die sih doh wol werten
die wîle daz si lebeten. (V. 5287–5300)
Ohne Zweifel ist zwar gegenüber der exegetischen Tradition das Bild des Titus positiviert. Titus und Vespasian, die die heilige Stadt zerstören, hatte diese Tradition nämlich auf den Psalmvers des aper de silva bezogen, und zwar auf seine ursprüngliche negative Bedeutung: Vespasian und Titus verwüsten Jerusalem, den Garten Gottes.35 Auch in der Kaiserchronik zerstört Vespasian Jerusalem; doch ist das nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zum legitimen Kampf gegen Babylonje. Der aper de silva wird aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst, indem Titus das Eberzeichen nicht bei der Zerstörung des heiligen Landes, sondern beim Rachekampf gegen den König von Babylonje führt. Dieser Kampf aber ist wieder im Sinne einer feudalen Ethik umgedeutet. Er dient nämlich römischer êre (V. 5168) und „erscheint als Rachefahrt wegen der Erschlagung römischer Männer in Jerusalem“.36 Der Kampf gegen Babilonje wird begründet: si sluogen uns unser mâge, / duo wir ze Jerusalêm wâren (V. 5243f.). Rache für Verwandte ist ein einleuchtendes Motiv innerhalb der feudalen Kriegergesellschaft.
Aufgewertet wird der Kaiser Titus, indem er zum feudalen Heros stilisiert wird. Zwar werden auch hier schon die Babylonjer haiden genannt (V. 5228) wie später die Gegner des christlichen Herrschers Heraclius. Aber Titus wird noch nicht als Anführer in einem Kreuzzug dargestellt , sondern als Heerführer eines heroischen Rachefeldzugs, der die Ehre Roms wiederherstellt.37 Seine Rede an seine Krieger kommt ohne jede heilsgeschichtliche Perspektive aus:
Owol ir Rômære,
gedenket an di grôzen êre,
die unser vordern uns habent an brâcht,
sîn ist nehainer slahte rât,
wir nesuochen siu dâ haime,
iz wirt in noh ze laide.
si sluogen uns unser mâge,
duo wir ze Jerusalêm wâren.
dar umbe wil ouh ih ersterben,
ode si muozen gerochen werden
an wîben unde an kinden.
wir suln in ze hûs bringen
die vil laiden geste.
nû weset nôtveste!
geêret elliu rômisken lant! (V. 5239–5253)
Wer sich dieser Verpflichtung entzieht (swer in dâ entrunne) solle gescaiden sein von allen rômiscen êren (V. 5252–5258). In diesem Sinne tritt Titus den Feldzug unter der Eberfahne an.
Der Eber hat noch einen weiteren Auftritt. Auch Pius Antonius kämpft unter dem Zeichen des Ebers (V. 7364; 7392) mit manigem helde edele (V. 7365). Hier aber ist er nur noch Feldzeichen. Da von vorneherein jeder heilsgeschichtliche Zusammenhang fehlt, trägt dieser goldene Eber nicht die Hörner der Danielsprophezeiung. Pius Antonius kämpft gegen den Angriff des Alarîcus in einer unerhört blutigen, aber auch unglücklichen Völkerschlacht:
ich waene, ê noch sît enwart
sturm alsô fraissam (V. 7359f.)
Das ist eine formelhafte Hyperbel profaner Heroik:
daz man iz iemer ze maere mac sagen. (V. 7380)
daz manz ze mære sagen mac
unz an den jungisten tac (V. 7418f.)
Wieder erreicht der Blutpegel heldenepisches Niveau: mit tôten fulten si di grâben (V. 7381). In den Tiber fließt so viel Blut, dass er schiffbar wird (da maht man mit sceffen hinne varn, V. 7384); es gibt so viele Tote, dass kein Buch sie zählen kann (ir wart alsô vil erslagen, / daz ir daz buoch nehain zal hât, V. 7385f.). Keine heilsgeschichtliche Bedeutung verhindert jedoch, dass entgegen der Prophezeiung Daniels der Eber zuletzt niedergestochen wird (V. 7392) und Alarich Rom erobert.
Eine heilsgeschichtliche Überformung profaner Geschichtsüberlieferung ist also nicht einmal dort konsistent, wo die Kaiserchronik auf heilsgeschichtliche Symbolik wie in der Danielsprophetie aufbauen könnte. Sie deutet deren geschichtstheologische Metaphorik nach dem Vorbild volkssprachiger Heldenepik um.38 Die Tiere der Danielprophezeiung erlauben, in die crônicâ der Kaiser ein heroisches Register einzuspielen, d.h. diejenige Form, in der die laikale Kriegergesellschaft ihre Geschichte erinnert. An entscheidenden Stellen geschichtstheologischer Deutung fällt der weltgeschichtliche Horizont für die chronologische Kaiser-Papst-Geschichte aus. Ohlys einhellig geistliche Deutung kann deshalb nicht ganz aufgehen. Die Veränderungen an der alttestamentlichen Prophezeiung zeigen, dass die Kaiserchronik nur oberflächlich in gelehrte Geschichtsschreibung integriert ist. Sie ist eine Chronik der Gewalt und des Unrechts, nicht christlicher Vollendung und trägt Züge einer laikalen Geschichtsüberlieferung.
Annolied und Kaiserchronik zitieren zwar die geschichtstheologische Deutung, überschreiben sie aber mit dem Geschichtsbild des Kriegeradels, in dem es vor allem auf Ehre und überlegene Gewalt ankommt. Eine typologische Deutung der Kaiserchronik kann deshalb nicht gelingen, denn der ,Sog‘ der Laienkultur (Hanna Vollrath) bemächtigt sich der Bildlichkeit der Danielsprophezeiung. Die Spannung kann im Annolied noch unausdrücklich bleiben. Die daran anknüpfende Kaiserchronik geht einen Schritt weiter, um den Preis, dass das geschichtstheologische Deutungsmaterial undeutlich wird.
Derartige Interferenzphänomene zumal im frühen Mittelalter müssten systematischer in den Blick genommen werden. Das anfangs noch nahezu unumschränkt geltende Schriftmonopol der Kleriker hat den Blick der Forschung einseitig auf deren Deutungskapazitäten gelenkt. Es wäre an der Zeit, die Gegenrechnung aufzumachen und den Einfluss einer – da unschriftlich – nicht überlieferten Laienkultur und ihrer Deutungsmuster auf die klerikale Überlieferung zu untersuchen.39
Dass die geschichtstheologische und feudale Geschichtsdeutung letztlich unvereinbar sind, belegt noch Jahrhunderte später Sebastian Francks Geschichtbibell (1531/1536).40 Wenn dort die Vorred vom Adler die Wappentiere der verschiedenen Reiche mustert, dann verfallen alle der Kritik, weil in ihnen sich stets ein Moment der Gewalt verkörpert. Dazu gehört auch die saw, ein gar vnnutz ja schedlich thier weil es lebt; als Wappentier weist Franck es den mit Caesar und den Franken verwandten Trojanern zu (Bl. 142r). Sein eigentliches Angriffsziel ist der (Reichs-)Adler, dessen Grausamkeit für eine Satire kaiserlicher Politik genutzt wird,41 doch verweist Franck generell auf die Herkunft der Tierwappen aus heidnischen Traditionen. Die Tradition der heydnischen vetter so in der finsternus haben gewandelt ist für den Christen unannehmbar (Bl. 142v). Am spätmittelalterlichen Wappenwesen, das eine widerchristliche Gewaltpolitik anzeigt, setzt Francks fundamentale Gesellschaftskritik vom Standpunkt eines spirituellen Christentums an. Auch das angeblich ausgezeichnete Römische Reich, das den Adler im Wappen trägt, wird bei Daniel durch ein schreckliches Tier symbolisiert: ein greülich thier macht Daniel aus der letsten Monarchy / ja vor all anderen das greülichest. (Bl. 143r). Hier ist das Verhältnis der konkurrierenden Metaphoriken geklärt, die in der Kaiserchronik noch undeutlich interferieren.