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II. Das Episodengerüst

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In einem nächsten Schritt möchte ich nun über diese Betrachtungen hinausgehen und danach fragen, was genau eine Episode in der Kaiserchronik ausmacht. Versteht man diese schon von Ohly beschriebenen Eingangs- und Schlussformeln, die immer nach ähnlichen Mustern gestrickt und mit großer Konsistenz eingesetzt werden, als Marker für die Episoden der Kaiserchronik, ergeben sich interessante Schlüsse.

So ist das Einsetzen des Episodenrahmens nicht ohne weiteres zu lokalisieren. Caesar, der im Einklang mit der weiteren mittelalterlichen Tradition als erster römischer Kaiser dargestellt wird,1 erhält beispielsweise keine entsprechende Einführungsformel, vielmehr wird sein Narrativ nahtlos aus der Einführung des salvatio Romae-Motivs heraus entwickelt. Bei der salvatio Romae handelt es sich um eine Art magisches Frühwarnsystem, das die Römer alarmiert, sobald sich eine der von ihnen eroberten Provinzen gegen sie wenden sollte. Als diese Vorrichtung anzeigt, dass das Dûtisc volch (V. 246) sich gegen das Römische Reich erhoben hat, wird Julius Caesar ausgesandt, um diese Rebellion niederzuschlagen. Erst später mit der Ermordung Caesars treten zum ersten Mal die typischen Elemente des den Abschluss der Episode markierenden Rahmens in Erscheinung:

diu rîche er mit michelem gewalte habete

die wîle daz er lebete,

daz buoch saget uns vur wâr:

niewan fiunf jâr.

Rômâre in ingetrûwelîche sluogen,

sîn gebaine si ûf ein irmensûl begruoben. (V. 597–602)

Die Berufung auf ein buoch als Quelle, die genaue Zählung der Jahre der Herrschaftszeit und die Darstellung der Todesumstände – oft erweitert um einen kurzen Bericht zum Schicksal der Seele nach dem Tod – geraten in den folgenden Kaiserepisoden zu verlässlich wiederkehrenden Elementen der Schlussformeln. Ähnlich verhält es sich bei der Einführung von neuen Kaisern. Erstmals bei Augustus, Caesars unmittelbarem Nachfolger, und später bei den anderen Kaisern lassen sich hier stereotype Elemente erkennen. Dies ist etwa beim Herrschaftsantritt des Tiberius der Fall, wenn es heißt:

Das buoch kundet uns sus,

daz rîche besaz dô Tybêrîus,

der gewan Rômæren michel êre. (V. 671–673)

In der Durchsicht der Antrittsformeln der antiken römischen Kaiser begegnet eine dreiteilige Struktur. In der Regel wird auch hier erstens das buoch als Quellenautorität aufgerufen, ehe – zweitens – der Name des nun die Kaiserwürde übernehmenden Herrschers folgt. Drittens wird abschließend oft noch eine kurze Perspektive auf die Herrschaft des jeweiligen Kaisers gegeben.

In fast allen Episoden antiker Kaiser ist die Beziehung zwischen der Person des Herrschers und seinem Reich durch das im Präteritum stehende Verb (er) besaz ausgedrückt. Dabei umfasst die Semantik von mhd. besitzen drei verschiedene Herrschaftsdimensionen.2 Als erstes die inaugurale: der Herrscher besteigt den Thron. Als zweites die sukzessive: der neue Kaiser beerbt einen ihm vorausgegangenen Herrscher. Und drittens die judikative: er fungiert als oberster Richter, als voget und rihtære, wie die entsprechende Formel in der Kaiserchronik (meist) lautet.3 In dieser Weise findet das an zentraler Stelle der Eingangsformel lokalisierte Verbalsyntagma (er) besaz jedoch nur für die antiken Kaiserepisoden konsequente Anwendung. Bei den mittelalterlichen tritt sie in der Regel zurück, taucht aber öfter in anderen Kontexten der Episode wieder auf. Dieses Detail kann in aufschlussreicher Weise als Beitrag zu einer der längsten und übergreifendsten Diskussionen in der Kaiserchronik-Forschung gelesen werden: der Frage, warum der römisch-antike und der mittelalterlich-deutsche Teil der Chronik narrativ so auffällig unterschiedlich gestaltet sind. Bereits Scheunemann stellte 1936 den „Wirklichkeitsbericht“ des deutschen Teils der „geformten Wirklichkeit“ des römischen Teils, die vielmehr auf „epische Darstellung“ abziele, gegenüber.4 Ohly begründete diese Ausdifferenzierung im hinteren Teil der Chronik damit, dass der Verfasser bei den antiken Herrschern mehr Spielraum zur narrativen Ausgestaltung hatte und bei den deutschen Herrschern, in Abwesenheit von größeren Sagen- und Legendentraditionen, eher auf historische Berichte angewiesen war. So rückten die antiken Herrschergestalten in den Fokus des Erzählinteresses.5 In jüngerer Zeit hat Christoph Petersen einen umgekehrten Ansatz entwickelt. Nach einer hilfreichen Aufschlüsselung der zentralen Unterschiede zwischen antiken und mittelalterlichen Teil der Kaiserchronik6 attestiert er dem römisch-antiken Teil einen negativen Bedeutungsgehalt, bedingt durch einen „Aufschub des im Anfang der Geschichte schon angelegten Zieles“,7 dem Aufstieg eines deutschen Reiches. Dieses Sinndefizit des römisch-antiken Teils müsse nun durch eine überbordende „Mythopoiesis“8 kompensiert werden, derer es im mittelalterlich-deutschen Teil ab Karl dem Großen nicht bedürfe, da dieser ein „konzeptuelles Kontinuum“9 mit dem deutschsprachigen Publikum des 12. Jahrhunderts teile. Dieser Ansatz kann schon deswegen nicht befriedigen, weil er über 80 % des Textes eine semantische Defizienz unterstellt, die sich kaum mit der sichtlichen Freude und dem großen Interesse am Auserzählen des römisch-antiken Materials vereinbaren lässt.10

Beide Erklärungsmodelle fokussieren auf die narrativen Strategien, in welchen sich der Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Chronik abbildet. Dies führt zurück zur Phraseologie der Einleitungsformeln der verschiedenen Episoden. Das Wegfallen des inchoativen besaz, das oben festgestellt wurde, fällt mit dem Umschwung vom römisch-antiken zum mittelalterlich-deutschen Teil zusammen. Dafür tritt nun die Ausarbeitung von genealogischen Verbindungen zwischen den aufeinander folgenden Herrschern in den Vordergrund.

Im römisch-antiken Teil sind solche Angaben nur selten zu finden: Augustus ist Caesars Neffe (V. 605), Domitian tritt als Titus’ Bruder auf (V. 5558) und Konstantin wird als Sohn und Nachfolger seines Vaters Constantius eingeführt (V. 7610–7613; 7806–7809). Doch erst nach Karl dem Großen werden Verwandtschaftsverhältnisse zum festen Bestandteil der Episodenrahmung. Angefangen von Ludwig dem Frommen werden von nun an fast alle Kaiser als die rechtmäßigen da genealogisch legitimierten Erben eingeführt. So heißt es zum Tod Karls des Großen : Do der mære kaiser versciet, / ain guoten erben er verliez (V. 15092–15093). Auch die anderen auf Ludwig folgenden Karolinger treten als Dynastie, nacheinander patrilinear die Herrschaft voneinander übernehmender Könige und Kaiser klar hervor.11 Es sei an dieser Stelle nur kurz darauf hingewiesen, dass auch Ottonen und Salier in dieser Weise deutlich als Dynastien untereinander verbunden und gegeneinander abgegrenzt werden. Zum dynastisch-genealogischen Modell kommt mit Ludwig dem Frommen auch die Wahl durch die Großen des Reiches als konstituierendes Mittel der neuen Episodeneinführung (V. 15239–15241). Durch die zunehmend systematisierte Anwendung dieser beiden Legitimationsmodelle tritt die im römisch-antiken Teil so prominente besaz-Formel fast völlig in den Hintergrund. Mit ihr verschwindet auch die Berufung auf ein anonymes und nicht spezifiziertes buoch als Quelle, die ebenso charakteristisch für die Episodenanfänge der Kaiserchronik bis hin zu Karl dem Großen ist. Das etablierte Muster nach dem Schema daz buoch chundet uns sus / das rîche besaz do […]12 der römisch-antiken Episoden wird durch ein neues, genealogisch ausgerichtetes Muster ersetzt: alse chaiser […] verschiet / einen guten sun/erben er liez.13 Beide Phrasen können erheblich variieren, sind aber deutlich unterscheidbar und bilden eine klare Verschiebung in der Schwerpunktsetzung der Einführungsformeln ab. Wo die Kaiserchronik sich zuvor bei jedem Herrscher aufs Neue auf die Autorität von schriftlich fixierten und tradierten Wissen berief – das buoch chundet uns sus – verbindet nun ein relativ geradliniges genealogisches Nachfolgemodell die einzelnen Herrscherepisoden miteinander. Dies markiert einen konzeptuellen Bruch im episodischen Paradigma der Chronik, aber weniger zwischen römischen und deutschen Herrschern, sondern vielmehr zwischen historiographisch legitimierten antiken auf der einen und genealogisch legitimierten mittelalterlichen Herrschern auf der anderen Seite. Während dies die Frage nach der Ursache für die Unterscheidung zwischen antiken und mittelalterlichen Teil der Kaiserchronik nicht beantwortet, profiliert sie doch den Unterschied klarer und auf struktureller Ebene.

Eine weitere Besonderheit der Geschichtspräsentation der Kaiserchronik ist es, dass der Inhalt der Episoden oft wenig bis gar nicht von den Kaisern handelt, die als Bezugspersonen für eine jeweilige Episode eingeführt werden. In der Tat scheint die Korrelation zwischen kaiserlicher Rahmung und narrativen Inhalt einer Episode oft durch Faktoren außerhalb der Komposition und Konzeption der Kaiserchronik bedingt zu sein. Beispielsweise findet sich die Schleifung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 nach Christus nicht, wie historiographisch vorgeformt und chronologisch zu erwarten, unter Vespasian, sondern bereits in der Tiberius-Episode. Dies rührt von der Quellentradition der Vindicta Salvatoris her, welche diese Verknüpfung aus heilsgeschichtlich-vergeltender Logik nahelegt: Tiberius konnte hier nur durch Veronikas Schweißtuch geheilt werden, aber nicht durch den Heiler Jesus selbst, weil dieser bereits von den Juden getötet worden war.14 Daher, so die Vindicta Salvatoris, habe er zur Bestrafung der Juden die Vernichtung Jerusalems durch seinen General Vespasian und dessen Sohn Titus befohlen.15 Dass der Fall Jerusalems also innerhalb des Episodenrahmens des Tiberius untergebracht wird, liegt in der externen Quellentradition begründet und hat folglich mit der chronologischen Ereignissequenz oder dem seriellen Kompositionsprinzip der Kaiserchronik wenig zu tun.

Es gibt zahlreiche weitere Beispiele dafür wie traditionelle Narrative durch ihre Einfügung in den Episodenrahmen der Chronik atomisiert werden. Ist das Narrativ erst einmal aus dem klassischen Kontext herausgelöst, spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob Caesar die Gallier oder die Germanen erobert, solange er der mit seinem Namen verbundenen Erwartungshaltung als Eroberer und erster Kaiser des Reiches gerecht wird (V. 257–525). Ähnlich verhält es sich mit Alarich: Es ist unerheblich, unter welchem Kaiser er Rom erobert und plündert, solange er diese traditionelle Handlungsvorgabe erfüllt (V. 7404–7411; 7417–7419). In diesem Fall führt die kontingente Kombination von Rahmen und Inhalten in der Kaiserchronik sogar zu einer anachronistischen Erzählpraxis, die der Text an anderer Stelle explizit verurteilt. So trifft Alarich bei der Plünderung Roms auf Kaiser Lucius Accommodus und erschlägt ihn (V. 7420–7425). Wenn man annimmt, dass Lucius Accommodus dem historischen Commodus entspricht, waren Commodus und Alarich realiter durch über 200 Jahre voneinander getrennt. Gegen genau diese Kollision nicht zeitgenössischer Protagonisten polemisiert die Kaiserchronik aber in der Zeno-Episode, wenn der Erzähler darauf hinweist, dass Dietrich und Etzel einander nicht begegnet sein konnten, da ihre Lebenszeiten 43 Jahre auseinander lagen (V. 14176–14187). Es zeigt sich, dass der Verfasser der Kaiserchronik bei Bedarf polemische Strategien anwenden kann, die auf chronologische Fehler abzielen, ohne sich dadurch in seiner eigenen chronologischen Gestaltungsfreiheit einschränken zu müssen.

Ein weiteres charakteristisches Merkmal, neben der inhaltlichen Kontingenz, ist die innerliche Abgeschlossenheit der einzelnen Episoden. So wird beispielsweise der heidnische Kosmos, der vor Beginn der Episodenstruktur bei der Darstellung der römischen Wochentage beschrieben wird, später zu keinem Zeitpunkt als Referenzpunkt herangezogen. Vielmehr wird in der Gaius-Episode, als der Jupitertempel eine Rolle spielt, dieser erneut eingeführt und prominent in Szene gesetzt, ganz so als sei der Jupitertempel im Kontext des römischen Kalenders der Wochentage nie erwähnt worden. Die innere Abgeschlossenheit und klare Abgrenzung der Episoden werden besonders da sichtbar, wo es über einzelne Episoden hinausgehende Bezüge aufzugreifen gibt. So wird Rom in der Lucius Accommodus-Episode durch Alarich und sein Heer zerstört, nur um dann, zu Beginn der direkt nachfolgenden Episode unter Kaiser Achilleus, wieder aufgebaut zu werden (V. 7426–7435). Dieser Wiederaufbau hat einerseits keinerlei Relevanz für die folgende Handlung der Achilleus-Episode, ergibt also nur Sinn im Bezug auf die Zerstörung der Stadt im vorangegangenen Abschnitt. Andrerseits wird diese Bezugnahme aber freilich zu keiner Zeit explizit hergestellt, sondern bleibt allein der Auffassungsgabe des Publikums überlassen. So zeigt dieser Zusammenhang den klaren konzeptionellen Einschnitt hinter jeder Episode: Ereignisse, die eigentlich Bestandteile einer kausalen historischen Sequenz wären, wie etwa Zerstörung und Wiederaufbau der Stadt Rom, werden nicht als solche präsentiert, wenn sie über die Grenze einer Episode hinauslaufen. Dies bestätigt, dass nicht inhaltliche Verknüpfungen, sondern die Episoden mit ihren Rahmen selbst als organisierende Elemente von Geschichtlichkeit im Vordergrund stehen.

Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass die Episodenstruktur der Kaiserchronik die Geschichte des Römischen Reiches als linear und progressiv organisiertes Paradigma entwirft und somit ein quantifizierendes Kontinuum des Zählbaren kreiert. Durch die immer gleiche, sich wiederholende Eingliederung von narrativen Atomen aus verschiedensten Traditionen und Kontexten in die markierten Rahmen der Kaiserepisoden, die ihrerseits in sich zählbar sind und die an ihren Enden jeweils die exakte Dauer der Herrscherjahre anführen, wird die historische qualitative Differenz zwischen den Ereignissen reduziert. Die Herrschaften der Kaiser sind selbst dabei Manifestationen der regulären und linearen Existenz des Reiches. Hayden White zufolge kann nur Ähnliches im Rahmen eines immer identisch applizierten Organisationsmusters sortiert werden.16 Oder anders ausgedrückt: die Organisation in einem einheitlichen Rahmensystem erzeugt Ähnlichkeit. Es entsteht so ein quantitatives Kontinuum des rîches, in dem sich Geschichtlichkeit vor allem in Zählbaren und weniger in Unterscheidbaren ausdrückt.

Durch die Atomisierung ihres ursprünglichen Kontextes beraubt, erfolgt die Semantisierung historischer Ereignisse allein durch ihre Einordnung in die Herrschaftszeit eines Kaisers. Historische Begebenheit ist dadurch weder einfach Ereignis, das zufällig in die Herrschaft eines Kaisers fällt, noch wird sie beispielsweise kausal durch das politische Wirken eines Kaisers bedingt. Vielmehr wird historische Ereignishaftigkeit zu einer Funktion imperialer Herrschaftszeit allein bedingt durch die lineare Entfaltung eines imperialen Herrschaftskontinuums. Angelegt findet sich dieses Kontinuum im Grunde schon im Prolog, wenn es heißt:

Ein buoch ist ze diute getihtet,

daz uns Rômisces rîches wol berihtet,

gehaizzen ist iz crônicâ

iz chundet uns dâ

von den bâbesen unt von den chunigen,

baidiu guoten unt ubelen,

die vor uns wâren unt Rômisces rîches phlâgen

unze an dîsen hiutegen tac. (V. 15–23)

Die quantitative Achse des römischen Reiches ermöglicht die retrospektive Projektion der Gruppenidentität, die Autor und Publikum der Kaiserchronik – das uns des Prologes – miteinander teilen, in die römische Vergangenheit.17 Die Aufgabe, das Römische Reich zu phlegen, ist dabei das vereinende Merkmal, in dem Gegenwart und Vergangenheit zusammenfallen. In derselben Weise, wie Identität zurückprojiziert werden kann, funktioniert die Achse auch in die andere Richtung, wenn die historische Verantwortung, das Römische Reich zu phlegen, bis in die Gegenwart des 12. Jahrhunderts, unze an dîsen hiutegen tac, verlängert wird. Die Vergangenheit der Kaiserchronik ist der Gegenwart ihres Publikums qualitativ ähnlich genug, um mentale Projektionen entlang dieser Achse in beiden zeitlichen Richtungen zu ermöglichen.

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