Читать книгу Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter - Группа авторов - Страница 15
I. Theoretische Grundlagen
ОглавлениеDie grundlegende Kompositionsstruktur der Kaiserchronik ist bekanntlich episodisch. In Anlehnung an Sueton, dessen De vita Caesarum das klassische Modell der Einteilung von Geschichte in Herrscherviten darstellt, kann man die Kaiserchronik als serielle Biographie betrachten. Die Chronik besteht aus einer Serie von 53 Episoden, die jeweils mit dem Machtantritt eines Herrschers beginnen und mit dessen Tod enden. Nach dem Prolog und einem prä-episodischen Teil, der von der Gründung Roms durch Romulus und Remus und den heidnischen Wochentagen berichtet, beginnt die Episodenfolge der römischen Herrscher mit Julius Caesar im ersten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung. Sie endet mit Konrad III. und den Vorbereitungen zum Zweiten Kreuzzug circa im Jahre 1147. Inhaltlich stehen die jeweiligen Herrscher nicht immer im Vordergrund und treten oft gänzlich hinter andere Inhalte zurück, aber das durch Antritt und Ableben der Herrscher konstituierte Rahmenwerk wird konsequent beibehalten.
Es ist Hayden White zu verdanken, den Blick von Historikern und Philologen für die narrativen Möglichkeiten geschärft zu haben, die auch solchen nicht-narrativen, rahmenden oder organisierenden Formen der Textgestaltung innewohnt. In seiner Abhandlung Content of the Form von 1987 bedient er sich anhand der Annales Sangallenses eines methodisch effizienten Zugriffs: White zeigt dabei auf, wie auch die wenig narrative und kaum kausal verknüpfende Geschichtspräsentation, wie sie sich in Annalen findet, in ihrer katalogartigen Darstellungsweise inhaltliche Aussagen zur Gestaltung von Geschichte vermitteln kann.1 Prinzipiell unterscheidet White historiographische Texte nach dem Grad ihrer inneren narrativen Verknüpfung und führt neben der Kategorie der Annalen jene der Chroniken und Historien an. Diese verknüpfen ihre Historiographie jeweils im zunehmenden Maße kausal und reflektieren sie inhaltlich stärker. Bei den Kriterien, die diesen zunehmenden Grad von Verknüpfung abstufen, handelt es sich um höhere historische Konzeptualisierung, größeren Umfang, größere narrative Kohärenz, die Organisation des Materials anhand von Themen und schließlich die Fokussierung auf ein zentrales Thema.2 Die Kaiserchronik wäre nach Hayden Whites Kriterien also der Kategorie der Chroniken zuzurechnen. Das in meinem Beitrag auf die Kaiserchronik angewandte Instrumentarium wurde jedoch hauptsächlich an Annalen entwickelt. Wie meine Ergebnisse aber zeigen werden, erscheint dieser methodologische ‚Querschuss‘ durchaus legitim: Was die rahmenden Elemente, welche die einzelnen Episoden der Kaiserchronik markieren, betrifft, so funktionieren diese ganz nach dem Prinzip der katalogisierenden Synchronisierung von Jahr und Ereignis in Annalen. White setzt als Voraussetzung für Historiographie fest, dass es ein bereits existierendes rechtliches und soziales System geben müsse gegen das oder im Namen dessen die typischen „agents“3 eines Narrativs in Position gebracht werden können. In der Kaiserchronik erfüllt die Episodenstruktur das Kriterium dieses vorauszusetzenden Systems, und die „agents“, die sich damit auseinandersetzen, sind die oft disjunktiven, kontingenten und in sich selbst abgeschlossenen Narrative, die vom chronikalen Episodenrahmen eingefasst werden. Nach Hayden White ist nun die Übertragung der Unterschiedlichkeit dieser in sich abgeschlossenen Narrative in Ähnlichkeit die große Leistung eines nicht narrativen Organisationsschemas von Text, wie es etwa bei Annalen der Fall ist. Dafür bedarf es aber eines „Metaphysischen Konzepts“.4 White charakterisiert dies als ein gemeinsames Thema für alle verschiedenen Gegenstände, die durch die jeweilige Form einer Historiographie als Ereignis registriert werden.5 In der Kaiserchronik ist dieses übergreifende Thema, unter dem alle historische Ereignishaftigkeit registriert wird, das Römische rîche, repräsentiert durch die serialisierte Herrschaft seiner Kaiser.
Der Prozess, in dem nun historische Narrative als ähnliche Ereignisse innerhalb eines nicht-narrativen Rahmens organisiert werden können, lässt sich mit einer von Richard Newald bereits 1960 geprägten Metapher gut beschreiben. Im Bezug auf die Antikenrezeption des Mittelalters spricht er von „Atomisierung“.6 Dieser Prozess löst Narrative aus ihrem historischen Kontext heraus und überführt sie in ein Gemenge aus frei verfügbaren und neu arrangierbaren „Story-Atomen“. Diese Atome beschreibt Newald als aus zwei Komponenten bestehend: erstens einer autoritativen Komponente – meist dem Namen einer zentralen Figur der antiken Erzähltradition – und zweitens aus einer fluiden Menge von mit dieser Komponente assoziierten Figuren, Konstellationen und Ereigniszusammenhängen.
Als Beispiel hierfür kann in der Kaiserchronik die Tarquinius-Episode mit der Lukretia-Erzählung herangezogen werden (Kaiserchronik V. 4301–4834). Sie wird anachronistisch zwischen der Nero- und der Galba-Episode eingespielt. Der Erzähler ist hier nicht an der Entwicklung einer kausal integrierten Darstellung des Jahrs der vier Kaiser (69 n. Chr.) von Nero bis Vespasian interessiert, sondern möchte die Geschichte von Lukretia erzählen. Dies erfordert die Interpolation von Tarquinius – eigentlich einer der vor-republikanischen legendarischen sieben Könige von Rom – in die Reihe der römischen Kaiser in Folge Julius Caesars. Mit sich bringt der Name ‚Lukretia‘ nicht nur die Einführung der Figur Tarquinius, sondern auch die des Conlatinus, sowie bestimmte Ereigniszusammenhänge, etwa den Wettstreit zwischen den beiden Männern um die Tugendhaftigkeit ihrer Frauen, die Vergewaltigung und den anschließenden Selbstmord Lukretias. Dass es in der Tat Lukretia ist, die vom Erzähler in den Mittelpunkt gestellt wird und die somit als Kern des Story-Atoms angesehen werden sollte, wird durch eine Quellenberufung klar: Denn weder Tarquinius noch Conlatinus werden durch eine solche eingeführt, sondern eben Lukretia, wenn es von ihr heißt: si stât in Ovîdîô gescriben dâ (V. 4337).7
Von diesem Beispiel ausgehend, möchte ich als nächstes das Episodengerüst der Kaiserchronik näher betrachten, das eine Einbettung atomisierter Inhalte möglich macht. Dieses Gerüst verstehe ich gemäß meinem Ansatz als wichtigstes Organisationssystem von historischer Distanz in der Kaiserchronik. Die Rahmen der einzelnen Episoden des Textes wurden von Ohly als „sich formelhaft wiederholende […] Eingänge und Schlüsse der einzelnen Kaisergeschichten“ beschrieben, wobei er „deren locker parataktische Hintereinanderordnung [als] typische Chronikform“ ansah.8 Schon Ohly und in seinem Gefolge Ferdinand Urbanek haben also das Episodengerüst nicht als starre Struktur, sondern als produktives dichterisches Stilelement begriffen.9 Bei der Beschreibung der Leistung dieses Gerüstes gelangten sie jedoch kaum über Ableitungen aus der Episodenzahl und der Summe der Herrscherjahre hinaus. Während man über die Einzelheiten der angestellten Berechnungen sicherlich streiten kann, ist Ohly und Urbanek doch darin recht zu geben, dass an den zentralen Stellen die wichtigsten Herrschergestalten positioniert sind: in der Mitte der Summe der Herrscherepisoden steht Constantin und in der Mitte der Summe der Herrscherjahre steht Karl der Große. Zwei Kaiser, deren Bedeutung schon inhaltlich von der Kaiserchronik ausführlich und beziehungsreich entwickelt wird, finden sich so auch durch die Episodenform hervorgehoben.