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Die drei Fassungen der Kaiserchronik in der Überlieferung am Beispiel von Tarquinius und Lucretia

Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young

Kaum ein anderes Werk des deutschen Mittelalters eignet sich für eine Untersuchung der Narrativierungsstrategien von Erzähltexten so wie die um 1150 vermutlich in Regensburg verfasste Kaiserchronik, die bereits im neunzehnten Jahrhundert als wichtiges Zeugnis der frühmittelhochdeutschen Literatur galt, allerdings zeitweise durch eine Privilegierung der kurz darauffolgenden Blütezeit ins Abseits geriet, und erst im letzten Jahrzehnt wieder intensiver in den Fokus der Forschung gelangt ist.1 Mit ihren knapp 17.000 Versen, die Legende und Sage mit eigener moralischer Pointierung zusammenflechten, schildert sie in einer Abfolge von 55 Herrschern die Geschichte des römisch-deutschen Reichs von Cäsar bis Konrad III. und stellt somit ein außerordentliches Monument der Literaturgeschichte dar. Sie ist die erste volkssprachliche Chronik Europas in Reimpaarversen, das erste Großwerk der frühmittelhochdeutschen Periode überhaupt, und enthält u.a. die erste ausformulierte Lebensgeschichte Karls des Großen in deutscher Sprache.2 Wer also erschließen möchte, was ein Laienpublikum des 12. Jahrhunderts über die Frühgeschichte des Heiligen Römischen Reiches wusste oder hörte, begegnet in diesem Text einer Vielzahl von Spuren und Belegen.

Dem Werk war offenbar ein großer Erfolg beschieden. Binnen hundert Jahren nach seiner Entstehung wurde es bekanntlich zweimal überarbeitet: zunächst um 1200, als der höfische Roman sich entfaltete und auf seinen Höhepunkt zuging; und nochmals 50 Jahre später, zu einer Zeit, als der Weltchronistik eine immer bedeutendere Rolle zukam. Diese jüngeren Fassungen (B und C genannt) wurden wohl in Unkenntnis voneinander unternommen und sind als völlig unabhängige Bearbeitungen zu verstehen. Dass es beiden Bearbeitern in erster Linie um eine formale ‚Modernisierung‘ des alten Textes ging, d.h. um reine Reime und metrischen Ausgleich, die den als altertümlich und nicht mehr zeitgemäß empfundenen frühmhd. Text der inzwischen etablierten poetischen Norm des paargereimten Vierhebers anpassen sollte, gilt längst als Gemeingut der Forschung. Die C-Fassung erhielt außerdem einen neuen Prolog und wurde durch zwei Fortsetzungen ausgeweitet (die sogenannte ‚bairische‘ und die sogenannte ‚schwäbische‘), die jeweils die Ereignisse aus der deutschen Reichsgeschichte bis zum Jahr 1250 erzählen und den Bericht bis zum Jahr 1278 weiterführen.

Die Beliebtheit des Werkes lässt sich auch an dem beträchtlichen Umfang seiner Überlieferung ablesen. Alle drei Fassungen wurden nämlich lang, breit und – signifikanterweise – parallel tradiert: Die A-Fassung mit 19 hochdt. Textzeugen vom 12. bis zum späten 15. Jahrhundert, die B-Fassung mit 15 Textzeugen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, und die C-Fassung mit 11 Zeugen vom 13. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert; eine weitere Handschrift überliefert eine Mischfassung von A und C.3 Von diesen insgesamt 46 Überlieferungsträgern enthalten drei noch den vollständigen Text von A, zwei den von B in vollem Umfang (ein dritter Zeuge ist defekt), vier den kompletten Text von C (ebenfalls auch mit einem bedeutenden aber defekten Zeugen); der Text der AC-Mischfassung bricht in der Karlsepisode ab. Am Ende des 16. Jahrhunderts kam noch eine frühneuzeitliche Umarbeitung der C-Fassung hinzu. Die nicht-fragmentarischen Überlieferungszeugen deuten auf die Anschlussfähigkeit des Werkes hin: Während C (mit Ausnahme der Mischfassung) nur alleine vorkommt, treten A und B auch in Sammelhandschriften auf, etwa in Verbund mit anderen Texten frühmhd. Literatur oder mit dem höfischen Roman und der Heldenepik. Zum Kontext dieser gewaltigen Tradierung gehören außerdem die lateinische Übersetzung eines kurzen Abschnittes sowie zwei Prosabearbeitungen des 13. Jahrhunderts, die sich in Kombination mit der Sächsischen Weltchronik und dem Schwabenspiegel einer umfangreichen Verbreitung erfreuten, und eine dreimal in Verbindung mit ersterer erhalten gebliebene niederdeutsche Fassung.4 Alles im allem lässt sich nachdrücklich bestätigen, was Eberhard Nellmann vor mehr als dreißig Jahren behauptete: „[K]ein anderer Text des 12. Jahrhunderts war derart erfolgreich.“5

Die Erforschung dieses literarhistorisch sowie überlieferungsgeschichtlich bedeutenden Werkes ist allerdings erschwert durch die 1892 von Edward Schröder vorgelegte kritische Ausgabe, die die Rekonstruktion der A-Fassung in ihrer ursprünglichen Gestalt auf der Grundlage der Vorauer Hs. anstrebte, die spätere Bearbeitungen jedoch stiefmütterlich behandelte und bis auf vereinzelte Angaben im Apparat gänzlich aussparte.6 Schröders Ausgabe und die damit verbundene Verfestigung der A-Fassung in der Literaturgeschichte haben die Entwicklung der Forschung maßgeblich geprägt und eindeutig beschränkt. Denn wie Kurt Gärtner vor geraumer Zeit feststellte: „Die Bearbeitungen B und C sind […] neue Werke. Auch wenn die Veränderungen des alten Textes nicht immer so weit gehen wie in der Strickerschen Bearbeitung des Rolandsliedes, eines von Form und Stil her der Kaiserchronik verwandten Werkes, so verdienen die Fassungen B und C ebenso wie Strickers Karl eigene Ausgaben, allerdings am besten in einer Synopse zusammen mit der ursprünglichen Fassung A. […] Die Fassungen B und C der Kaiserchronik gehören zu den Editionsdesideraten der Versepik des 13. Jahrhunderts.“7

Mit der Vorbereitung einer synoptischen Ausgabe aller drei Fassungen als Teil eines durch den britischen Arts and Humanities Research Council geförderten und in Cambridge, Marburg und Heidelberg durchgeführten Großprojektes soll dieser Wunsch jetzt endlich in Erfüllung gehen.8 Vorausgesehen ist eine Edition der drei mhd. Versfassungen der Chronik mit Einleitung, Stellenkommentar und kritischem Apparat. Als Leithandschriften sollen jeweils die Vorauer Handschrift (A), die Wiener Handschrift ÖNB Cod. 2779 (B), und eine zweite Wiener Handschrift ÖNB Cod. 2685 (C) dienen. Ein zweites, eng damit verbundenes Ziel des Projekts – Kaiserchronik digital – ist bereits abgeschlossen9 und öffnet der Forschungscommunity die gesamte Kaiserchronik-Überlieferung in digitalisierter Form im Rahmen einer Online-Präsentation. Jede Handschrift und jedes Fragment wird von einer recherchierbaren Transkription begleitet in einer Konstellation, die es den Nutzern erlaubt, entweder die Handschriften oder die Transkriptionen aufzurufen und in verschiedenen Kombinationen parallel zu lesen.10

Diese komplementär konfigurierten Ausgaben haben eigene Stärken und Schwerpunkte. Jene stellt die synoptische Vielfalt des Werkes zum ersten Mal in gut lesbarer Form dar, während diese multiple Vergleiche ermöglicht und feinste Unterschiede der Textvarianz dokumentiert, die in einem traditionellen Apparat sonst verlorengingen. Zusammen dienen beide Editionen dazu, neue Fragestellungen sowie innovative Zugänge zu einem der bedeutendsten Werke des deutschen Mittelalters zu eröffnen. Einige dieser Fragen werden im Folgenden am Beispiel der Tarquinius-Episode erläutert. Der Aufsatz soll konkret und exemplarisch zeigen, wie im deutschen Mittelalter eine Geschichte erzählt, umerzählt und weiter tradiert wurde. In einem ersten Schritt fokussiert er die Varianz der A-Fassung und in einem zweiten den Text der drei Fassungen. Aus Platzgründen kann die Analyse nur diese einzelne Episode behandeln und muss die Frage nach einer möglichen globalen Kohärenzstiftung des Werkes ausklammern, die die Forschung in letzter Zeit beschäftigt hat.11

Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter

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