Читать книгу Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter - Группа авторов - Страница 19
I. Einleitung
ОглавлениеDen Auftakt zum XXV. Anglo-German Colloquium ‚Geschichte erzählen: Strategien der Narrativierung von Vergangenheit in der deutschen Literatur des Mittelalters‘ wird man als markant bezeichnen dürfen. Mit sechs Vorträgen, die ganz oder teilweise der Kaiserchronik1 gewidmet waren, galten diesem Text mehr als ein Viertel der gesamten Präsentationen. Der Befund ist signifikant, verweist er doch auf die gesteigerte Aufmerksamkeit, welche die Kaiserchronik in der aktuellen Forschung erfährt. Ihre neuerliche Präsenz im mediävistisch-germanistischen Diskurs wird zum einen in dem von Mark Chinca und Christopher Young (Universität Cambridge) in Kooperation mit Jürg Fleischer und Jürgen Wolf (Universität Marburg) und der Universitätsbibliothek Heidelberg betriebenen Editionsprojekt greifbar,2 mit dem die Bearbeitung eines schon seit längerem formulierten Forschungsdesiderats3 in Angriff genommen wurde, zum anderen in der von Mathias Herweg 2014 vorgelegten zweisprachigen Auswahlausgabe der A-Fassung, die dem Text den Weg in den akademischen Unterricht an deutschen Universitäten geebnet hat.4 In den letzten zehn Jahren ist zudem eine ganze Reihe von Publikationen in unterschiedlichen Formaten erschienen;5 allein 2016 und 2017 kamen neben einem neuen Sammelband mit zehn Beiträgen6 vier substantielle Artikel von Mark Chinca und Christopher Young, Mathias Herweg und Claudia Wittig heraus,7 die bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung (‚Uses of the Past‘, ‚Political Didacticism‘, Formen der Kohärenzstiftung) immer auch die Frage nach der Art des Erzählens im Blick haben. Damit wird ein Zugriff auf den Text weiterverfolgt, der insgesamt als charakteristisch bezeichnet werden kann für die Neubelebung der literaturwissenschaftlichen Diskussion über einen Text, der, mittlerweile mit einer Fülle auszeichnender Qualifizierungen bedacht,8 als Experiment historischen Erzählens derzeit intensiv gewürdigt wird und somit als eine ebenso seltsame (wenn auch erklärliche) wie bemerkenswerte Ausnahme zu einer jüngst von Heike Sahm mit Recht beklagten Vernachlässigung des Frühmittelalters und der für seine Erforschung notwendigen Kompetenzen gelten darf.9
In meinem Beitrag „Römische Herrscher – ‚Deutsche‘ Gegner“ gehe ich der Frage nach, mit welchen Effekten und aufgrund welcher Konzeption(en) in verschiedenen Teilen der Kaiserchronik ‚Deutsche‘ als Gegner der römischen Herrscher dargestellt und zueinander in Beziehung gesetzt werden; der Begriff der ‚Deutschen‘ fungiert in diesem Zusammenhang als ein heuristisches Verständigungsinstrument, dessen Beibehaltung mit Blick auf die zuletzt von Uta Goerlitz entfaltete Problematisierung der Verabredung bedarf;10 er wird daher in substantivischer wie in adjektivischer Verwendung im Folgenden durchgängig in einfache Anführungszeichen gesetzt. Im Kontext der vorliegenden Fragestellung ist zunächst der Caesar-Abschnitt mit seiner Erzählung von den ‚deutschen‘ gentes von Belang, die Caesar zunächst unterwirft, um sie dann in einem Zug gegen Rom zu vereinigen. Die Analyse wendet sich sodann dem Tarquinius-Abschnitt und damit der Figur des Trierers und Wahlrömers Conlatinus zu, der in eine Konkurrenz zum römischen Herrscher Tarquinius tritt und der dessen Willkürherrschaft schließlich mit einem persönlich wie politisch motivierten Mord ein Ende setzt.11 Ich rücke damit ein Verfahren in den Blick, das in dem von Mathias Herweg vorgestellten Ebenenmodell zur Beschreibung von Strategien erzählerischer Kohärenzstiftung in der Kaiserchronik auf der mittleren Ebene der Abschnitte angesiedelt ist, auf der „Rekurrenzen von Schemata, Begriffen (und Eigennamen) sowie Motiven, dazu wiederkehrende Erzählkerne“ den Zyklus zusammenhalten.12 Das verbindende Moment stellt im Falle der ausgewählten Erzählungen die Opposition, ja die Konfrontation zwischen einem römischen Herrscher und einer Einzelperson respektive einem Kollektiv mit ‚deutscher‘ Herkunft dar, eine Konfrontation, welche die Gestalt einer Rebellion (‚Erhebung‘) annimmt; diese kann indes im Laufe der Erzählung wiederum in ein gemeinschaftliches Handeln im Interesse des rîches transformiert werden, sie kann sich aber auch auf der Grundlage eines zunächst störungsfreien, ja harmonischen Miteinanders entwickeln, um sich am Ende zwar gegen einen konkreten Machthaber zu richten, sich dabei aber dem Römischen Reich als dem ausschlaggebenden transpersonalen Faktor als dienlich zu erweisen. Die Analyse hebt somit auf die Dynamiken der geschilderten Ereignisse und die Komplexität der dargestellten Relationen ab, welche eine einsinnige Bewertung sowohl der ‚Deutschen‘ als auch der römischen Herrscher und damit auch die im Prolog der Kaiserchronik sowie in den rahmenden Eingangs- und Schlusspassagen der einzelnen ‚Viten‘ forciert vorgetragene Unterscheidung in ‚Gut‘ und ‚Böse‘ unterlaufen.13