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Einleitung
ОглавлениеGeschichte erzählen und Narrativierung von Vergangenheit
Sarah Bowden, Manfred Eikelmann, Stephen Mossman und Michael Stolz
Mit seiner einflussreichen Monographie Metahistory von 1973 rückte der Historiker Hayden White die Geschichtsschreibung konsequent in den Blick der Erzählforschung.1 Er löste damit in der modernen Geschichtswissenschaft eine mitunter vehement geführte Debatte zu den grundlegenden sprachlichen Strukturen und dem Wahrheitsanspruch erzählender Historiographie aus, die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Bewirkt haben die Überlegungen eine neue Offenheit der Geschichtswissenschaft gegenüber literaturwissenschaftlichen Fragestellungen (linguistic turn), auch wenn etwa in der Erzählforschung seit einigen Jahren eine differenzierende und in den grundsätzlichen Fragen kritische Diskussion der poststrukturalen Prämissen Whites zu verzeichnen ist.2 Dieser Band und die ihm vorausgehende Tagung knüpfen an jene Grundsatzdebatte über das Verhältnis von Geschichte und Literatur an, beziehen sich aber zugleich auf zwei weitere, im Folgenden erläuterte Diskussionsfelder, was es ermöglicht, den Problembezug des Themas sachlich wie methodisch zu konkretisieren.
1. Erzählen mit historischem Wahrheitsanspruch: Für den im Band untersuchten Gegenstand ist der in der germanistischen Mediävistik seit Ende der 1970er Jahre grundlegend erweiterte Literaturbegriff zentral.3 Er hat das Fach von der Beschäftigung mit einem bewährten Literaturkanon zur Erschließung neuer Texttraditionen und Gattungen geführt. Exemplarisch für diese Erweiterung des in der zweiten Auflage des Verfasserlexikons dokumentierten Text- und Wissenshorizontes ist die volkssprachliche Geschichtsschreibung des hohen und späten Mittelalters.4 Denn obwohl das Erzählen von Geschichte lange Zeit ein Randphänomen der Forschung war, liegt inzwischen eine ganze Reihe gründlicher Studien zu den Welt-, Landes-, Städte- sowie Ordens- und Hauschroniken des 12. bis 15. Jahrhunderts vor.5 Für die Erforschung des historischen Erzählens ist dies umso wichtiger, als nun komplementär zur intensiv erforschten volkssprachlichen Heldenepik, die ihrerseits als Vorzeitkunde gilt, eine genuin schriftliterarische Tradition der Geschichtserzählung mit hohem Forschungspotential verfügbar ist. Wie diese beiden Gattungen beispielhaft zeigen, ist historisches Erzählen an dem von Fall zu Fall anders begründeten Anspruch erkennbar, auf eine außertextuelle Wirklichkeit zu referieren, die von Einzelnen, einer Gruppe oder Gemeinschaft als faktuale Vergangenheit betrachtet wird. Auch wenn nicht zu bestreiten ist, dass Texte, die Geschichte erzählen, sprachlich-literarisch gestaltet und durchaus auch ‚Konstrukte‘ sind, ist das für sie wesentliche Kennmerkmal doch der von ihnen erhobene Anspruch, historische Wirklichkeit darzustellen, nicht aber eine fiktionale Welt, für die der Bezug auf eine als ‚wahr‘ angenommene Realität außerhalb des Textes gerade kein notwendiges Kriterium ist.6 Das aber heißt: Obwohl frühe mittelhochdeutsche Texte wie das Annolied und die Kaiserchronik nach ihrem eigenen Anspruch Geschichte darstellen, also res gestae erzählen und sich als historia rerum gestarum verstehen, sind sie zugleich Dichtung, die in ihrer literarischen Form wahrgenommen sein will.7 Auch die mittel- und frühneuhochdeutschen Heldenepen und Chroniken „folgen auf Schritt und Tritt Mustern, wie sie in literarischen Fiktionen ausgebildet wurden“, und „dennoch erheben sie den Anspruch, Aussagen über die Vergangenheit zu machen.“8 Im Sinne dieser gegenüber den Thesen Whites differenzierenden Position geht es im Rahmen des vorliegenden Bandes nicht mehr um die Frage, ob Geschichte ‚konstruiert‘ ist, sondern darum, wie die im historischen Erzählen geschaffenen ‚Konstrukte‘ angelegt und gemacht sind und wie das Erzählen von Vergangenheit narrativ organisiert ist.
Aus textheuristischen Gründen ist das Erzählen von Geschichte mit diesem Verständnis zwar auf das breite Spektrum volkssprachlicher Erzählungen mit historiographischem Anspruch bezogen, doch wird es forschungsstrategisch durch die Bevorzugung solcher Gattungen und Einzeltexte spezifiziert, bei denen zu erwarten ist, dass sie im skizzierten Bezugsrahmen eine neue Perspektivierung erfahren können: großepische Gattungstraditionen wie Antikenroman, Artusroman, Bibelepos, Reim- und Prosachronik, Kleinformen wie Exempla und Apophthegmata, nicht zuletzt zentrale Einzelwerke, in denen – wie im Annolied, in Heinrichs von Veldeke Eneasroman oder Konrads von Würzburg Trojanerkrieg – das Erzählen von Geschichte konstitutive Bedeutung erlangt.
2. Anknüpfungspunkte in der Erzählforschung: Prüft man die aktuelle Forschung zur mittelalterlichen deutschsprachigen Erzählliteratur, so fällt auf, dass narratologische Analysen ganz vorwiegend weltlichen Texten, etwa der mittelhochdeutschen Heldenepik, insbesondere jedoch den höfischen Romanen des 12./13. Jahrhunderts gewidmet sind. Alternativ dazu verfolgt der Band das Ziel, diese Text- und Beobachtungsbasis auszuweiten und speziell Erzählungen mit weltreferentiellem, d.h. historischem Wahrheitsanspruch narratologisch zu untersuchen. Das Thema ist dabei so angelegt, dass Fragen der Fiktionalität und Faktualität nicht weiter berührt sind, da sie noch in jüngster Zeit Gegenstand mehrerer einschlägiger Studien und Sammelbände waren.9 Vielmehr werden Fragestellungen der jüngeren Erzählforschung weiterverfolgt, die über die fiktionale Literatur hinausgehen und verstärkt faktuale ‚Wirklichkeitserzählungen‘ in den Blick nehmen. Zentral sind insbesondere zwei bisher erst für im engeren Sinne literarische Texte erprobte Ansätze. Erstens die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Erzählforschung, die ‚Kulturen‘ als Netze von Narrativen versteht und Erzählmustern grundlegende Bedeutung für die Produktion von Literatur zuschreibt.10 Zweitens die systematische Beschreibung von Erzählstrategien und Erzählverfahren, wie sie namentlich für den höfischen Roman geleistet wurde.11 Unter dieser doppelten Perspektive geht es um eine Weichenstellung, wie sie Stephen Jaeger im Schlussargument seiner Besprechung von Albrecht Koschorkes Monographie Wahrheit und Erfindung vorgeschlagen hat, indem es gilt, „statt auf das Allgemeine [den] Schwerpunkt auf das […] Singuläre bzw. Besondere des Erzählens [zu] legen“.12 Denn während die Diskussion um die Narrativität von Geschichte und die Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Erzählen weit fortgeschritten ist, stellen konkrete und über Einzelanalysen hinausweisende Untersuchungen von Strategien und Verfahren der Narrativierung von Geschichte in volkssprachigen Erzählungen mit historischem Wahrheitsanspruch nach wie vor ein dringendes Forschungsdesiderat dar.
Zurückgegriffen werden kann und soll auf ein methodisches Instrumentarium, das zwar vorwiegend für die Analyse im engeren Sinne literarischer Texte entwickelt wurde, dessen Anwendbarkeit auf Gattungen nicht primär literarischen Erzählens aber noch erst zu diskutieren und dessen Historisierung zu erproben ist. Nimmt man für historisches Erzählen nicht von vornherein einen geringeren Grad narrativer Komplexität an, stellt sich nämlich die Frage nach den Spezifika, die sich aus einer im Wirklichkeitsanspruch gründenden Erzählweise ergeben, grundsätzlich neu. Nachzuspüren ist in diesem Zusammenhang einer Vielzahl von Aspekten: So der Semantisierung und Funktionalisierung literarischer Muster in wechselnden Kontexten, den Möglichkeiten der Besetzung der Erzählstimme und ihrer Darbietung im Verlauf der Narration, den Verfahren der kognitiven Rezeptionslenkung, der Relevanz perspektivischen und perspektivierenden Erzählens, den Gestaltungsprinzipien diegetischer Zeit, den Techniken kollektiver Identitätsbildung, den im Erzählen verhandelten Formen kulturellen Wissens sowie nicht zuletzt der metaisierenden Selbstthematisierung des Erzählens.
Zur Einlösung dieses Forschungsdesiderats will der Band dadurch beitragen, dass er sein Thema zunächst exemplarisch in historischen Fallstudien zur Kaiserchronik und zur Heilsgeschichte angeht und danach systematisch nach den Strategien der Narrativierung von Vergangenheit fragt. Am Anfang steht der Beitrag der Cambridger Mediävisten Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young, die ein mehrjähriges Projekt in britisch-deutscher Zusammenarbeit zur Neuedition der Kaiserchronik durchgeführt haben.13 In ihrem Beitrag bewerten sie die reiche Überlieferung der vor 1150 verfassten Kaiserchronik auf dem aktuellen Stand der Forschung neu und demonstrieren am Beispiel der Tarquinius- und Lucretia-Viten, dass gegenüber dem ‚alten‘ Text (A, um 1150) die zwei späteren Fassungen der Dichtung (B um 1200, C nach 1250) als Neubearbeitungen und literaturgeschichtlich als eigenständige Werke zu gelten haben. Durch die Konzentration auf die im Vergleich der drei Fassungen unterschiedlichen narrativen Techniken, mit denen die ‚Autoren‘ am Text der Kaiserchronik arbeiten, bietet der Beitrag einen überlieferungs- und textgeschichtlichen Einstieg in den ersten Themenblock, der sich der Kaiserchronik als Paradigma widmet.
Die Kaiserchronik ist ein frühes volkssprachliches Beispiel für die Überformung laikalen Geschichtswissens durch Konzepte und Praktiken der lateinisch-gelehrten Historiographie sowie durch biblische Modelle von Weltgeschichte (Weltreichelehre, Typologie). Allerdings sucht die Forschung nach wie vor nach einem einzigen narratologischen und epistemischen Deutungsschlüssel, der es erlaubt, das heterogene Text-, Erzähl- und Wissenskonglomerat der Chronik aufzuschließen.14 Zwei Beiträge setzen bei diesem grundsätzlichen Problem an und entwickeln neue Lösungen: Jan-Dirk Müller (München) geht von Textpassagen aus, die sich – so wie die Darstellung der Welt vor Caesar und die biblische Daniel-Prophezeiung – dem chronologischen und geschichtstheologischen Gesamtkonzept der Kaiserchronik entziehen. Es gelingt ihm, das Zeitkonzept der Episoden herauszuarbeiten und eine ‚ältere‘ Schicht des Erzählens von Geschichte freizulegen, die Ereignisse der Vergangenheit nicht chronologisch und faktenbeschreibend, sondern – anders als gelehrte Geschichtsschreibung – in ihrer Bedeutsamkeit darstellt.15 Unter anderen methodisch-theoretischen Prämissen skizziert Christoph Pretzer (Oxford) alternativ eine Interpretation, wonach das Erzählen in der Kaiserchronik ihren Erfolg nicht aus einem in sich kohärenten Erzählplan, sondern aus einer pluralen Vielfalt der Erzählansätze gewinnt. Deren dominanter Gestaltungsfaktor seien die Einzelepisoden und exemplarische Erzählweisen, obwohl auch gelehrte Verfahren eine Rolle spielen.
Hier schließen drei Analysen an, die sich speziell mit der narrativen Organisation der Kaiserchronik auseinandersetzen. Elke Brüggen (Bonn) analysiert die Ebene der Figurenzeichnung und fragt in nuancierter Analyse, mit welchen Effekten die Gegner des römischen Reichs in der Caesar-, Tarquinius- und Severus-Vita dargestellt werden. Narrativierung von Geschichte, so ihr Ergebnis, arbeitet mit unterschiedlichen Verfahren, zu denen die Dynamisierung des Erzählplots, die Strukturierung der Figurenbeziehungen, doch auch intra- und intertextuelle Verknüpfungen und das Kombinieren von Erzählmustern gehören. Silvia Reuvekamp (Münster) erörtert die Bedeutung topisch-exemplarischer Wirklichkeitskonstruktion in den Figurenhandlungen der Kaiserchronik und in Konrads Trojanerkrieg. In Auseinandersetzung mit jüngeren Forschungsansätzen zeigt sie am Beispiel der Lucretia-Erzählung zunächst die Unterschiede zwischen antiker und christlicher Geschichtskonzeption, um dann differenzierend zu klären, inwiefern sich die Figurengestaltung der Lucretia in der Kaiserchronik und des Jason im Trojanerkrieg zu einer Geschichtsdarstellung noch in den Grenzen einer exemplarischen Sinnbildung bewegt, einer Darstellungsweise, die mit seriellen Wiederholungen arbeitet und die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen des Erzählens selbst lenkt. Bettina Bildhauer (St Andrews) behandelt die metanarrativen Passagen in der Kaiserchronik und rückt insbesondere die textile Netz- und Webmetaphorik in den Blick, wie sie in der viel diskutierten Severus- und Adelger-Episode16 mit der Binnenerzählung vom gegessenen Hirschherzen zu fassen ist. Ihre anregende Interpretation gilt dem in der Tierfabel angelegten poetologischen Modell für die Rezeption der Erzählung und damit das Verstehen von Geschichte.
Nach der Konzentration auf die Kaiserchronik befassen sich zwei Beiträge mit heilsgeschichtlichen Narrativen, indem sie das Erzählen von Geschichte zunächst unter dem Aspekt der Zeitlichkeit betrachten. Christina Lechtermann (Frankfurt am Main) untersucht narrative Inszenierungsformen von Zeit und Ereignis in der Erlösung, einer heilsgeschichtlichen Dichtung aus dem 14. Jahrhundert. Dabei geht es ihr um einen aus einer Bibelstelle in den Psalmen (Ps. 84,11) entwickelten ‚Streit der Töchter Gottes‘ über die (Un-)Erlösbarkeit der Menschheit nach dem Sündenfall, der mit jeweils wechselnden Positionen zwischen der personifizierten Barmherzigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden ausgetragen wird. Der Versöhnungskuss von Gerechtigkeit und Frieden, der den Streit beendet, steht am Anfang der Erzählung. Von dieser besonderen Konturierung her erhellt der Beitrag die narrative Organisation von Vorher-Nachher-Verhältnissen und Wiederholungen, doch auch das Verhältnis von Allegorie, Offenbarung und Verkündigung. Im Rahmen der Begriffstrias ‚imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte‘ untersuchen Mary Boyle (Oxford) und Annette Volfing (Oxford) anachronistische Verfahren der literarischen Vergegenwärtigung von Heilsgeschichte. Das zentrale Ergebnis ihrer Analyse ist, dass so unterschiedliche Textsorten wie mystische Prosa, geistliches Spiel und Bibelepik eigene Strategien verfolgen, um die lineare Struktur geschichtlicher Zeit zugunsten der Präsenz religiöser Erfahrung aufzuheben.
Die anschließenden Beiträge widmen sich dem biographischen und typologischen Erzählen im biblischen und heilsgeschichtlichen Kontext. Rabea Kohnen (Wien) fragt nach den in der Bibel erzählten Lebensgeschichten, für die es bezeichnend sei, dass sie durch ein übergeordnetes Verständnis von Geschichtlichkeit und Heilsgeschichte verbunden sind. Am Beispiel Johannes des Täufers, einer durch ihre Konkurrenz zu Jesus ambivalente Gestalt, analysiert sie so am Beispiel der volkssprachigen Evangelien-Bearbeitungen im Passional und in der Saelden hort die Doppelheit von biographischem und heilsgeschichtlichem Erzählen. Gerade für das Verständnis von Heilsgeschichte erweist sich der Ansatz als lohnend, da sich zeigt, wie komplex biographisches und geschichtlich-theologisches Erzählen zusammenspielen, um religiöses Heil als überzeitliche Wahrheit zu erzählen. Cora Dietl (Gießen) analysiert den Prosatraktat Vom Antichrist des Österreichischen Bibelübersetzers als hybride Kombination verschiedener Schreibmodi und damit als Konstrukt heilsgeschichtlichen Wissens. Wie sich nämlich beispielhaft für mittelalterliches Erzählen von Geschichte zeigt, vertritt der Text mit seinem narrativen und zuweilen pseudo-historiographischen Darstellungsmodus einen gegen gelehrte Methoden gerichteten Laienstandpunkt, der gerade in den Beglaubigungsstrategien hervortritt.
Im Blick auf den Sachverhalt, dass im heilsgeschichtlichen Denken der Christen die von Gott erschaffene Welt einen absoluten Anfang und mit dem Jüngsten Gericht ein vorbestimmtes Ende hat, gehen weiteren Beiträge der Frage nach, welche Narrative und Denkformen sich im Kontext dieses Geschichtsverständnisses, sei es weltlicher, sei es in geistlicher Literatur, aufspüren lassen. Sandra Linden (Tübingen) erkundet die in den Prologen volkssprachlicher Geschichtsdichtung greifbaren Vorstellungen, wie historisches Erzählen gestaltet sein soll. Der Ansatz erweist sich als aufschlussreich, da sowohl große Geschichtswerke wie Jans Enikels Weltchronik und Ottokars Österreichische Reimchronik als auch kleinere Erzählungen wie das Annolied poetologische Erörterungen bieten. Nicht zufällig mündet die Analyse in wichtige Fragen: Operiert historisches Erzählen mit anderen Vermittlungs- und Wissensmodellen als fiktionales Erzählen? Welche Begründungsstrategien beglaubigen dieses Erzählen? Greift es auf eigene Autor-Werk-Konzepte zurück, um sich von fiktionalem Erzählen abzugrenzen? In gewisser Nähe zu diesem Fragenbündel erörtert Mathias Herweg (Karlsruhe) die These, das epische Œuvre Heinrichs von Veldeke erhalte seine Kohärenz nicht durch den neuen Stil des höfischen Erzählens, sondern dadurch, dass Veldeke Geschichte als narratives Projekt volkssprachlicher Literatur etabliert. Für die Begründung dieser höchst produktiven These vergleicht er den hagiographischen Sente Servas und den höfischen Eneasroman und zeichnet auf narratologischer Ebene schlüssig nach, wie beide Erzählungen ihre durch biblische Narrative geprägten Episoden in die Reichs- und Heilsgeschichte einfügen.
Almut Schneider (Göttingen) wirft die Frage auf, in welcher Weise Konrads von Würzburg Trojanerkrieg das Denkmuster der Typologie dem historischen Erzählen als narratives Verfahren unterlegt ist. In einer klug aufgebauten Lektüre, die der Beschreibung des künstlichen Vogelbaums am Hof des Priamos gilt (Trojanerkrieg, v. 17560–17613), kann sie zeigen, wie die Beschreibung antike Deutungsmuster christlich umbesetzt wird. Dabei erweist sich die Typologie als Ordnungsmuster wie Strategie kunstvollen Vergegenwärtigens historischer Ereignisse. Nine Miedema (Saarbrücken) untersucht Verfahren und Strategien der Innenwelt-Darstellung in Rudolfs von Ems Weltchronik und zeigt auf breiter Materialbasis, inwieweit Gedankenreden und Soliloquien nicht nur der Vermittlung faktualen historischen Wissens dienen, sondern eine emotionale Aneignung der erzählten Weltgeschichte ermöglichen. Komplementär bietet Henrike Manuwald (Göttingen) eine subtile Interpretation der geschichtlichen Verortung einer Heiligenvita. Ihr Beispiel ist das Sankt Stephans Leben Hawichs des Kellners, eine Vita, die wegen des spezifischen Umgangs mit der Historizität des Stephanus-Lebens näheres Hinsehen verdient.17 Die Erzählung verarbeitet historische Ereignisse in enger Vernetzung mit der politischen Geschichte, so dass sich der Fokus des Erzählten auf die Einführung einer christlichen Rechtsordnung verschiebt.
Die Narrativierungsstrategien eines in der Forschung bisher kaum wahrgenommenen Werkes aus frühhumanistischen Kreisen, der Excerpta chronicarum des Johannes Platterberger und Dietrich Truchseß, erhellt Linus Ubl (Oxford). Er zeigt, wie der ‚Konstruktcharakter‘ der Geschichte auf mehreren Ebenen konsequent transparent gehalten wird – und schon im Titel des Werkes (Excerpta chronicarum statt etwa Liber chronicon) explizit angelegt ist –, um Geschichte als konstruierte und reflektierte Verknüpfung von Vergangenheitspartikeln zu präsentieren. Auch die Zeitlichkeit wird zum Gegenstand reflexiver Betrachtungen, wenn Unstimmigkeiten zwischen unterschiedlichen Quellentexten beobachtet und erörtert werden. Ein Beispiel von anderem Zuschnitt stellt Henrike Lähnemann (Oxford) in ihrem Beitrag zur 1462 beim Bamberger Drucker Albrecht Pfister gedruckten Kompilation der alttestamentlichen Joseph-, Daniel-, Judith- und Esther-Bücher vor. Da die in Manchester beheimatete John Rylands Library eine der größten Sammlungen von Pfister-Drucken weltweit beherbergt, hat der Beitrag einen willkommenen Bezug zum Tagungsort. Die Überlegungen machen deutlich, wie wichtig es ist, die für Drucke und ihren Wahrheitsanspruch zentrale Bezeichnung der historia auf das implizite Geschichtskonzept zu befragen.
Die erzählerische Formierung der Selbstwahrnehmung und Identität von Gruppen und Gemeinschaften stellen weiterführend gleich mehrere Beiträge zur Diskussion.18 Gerhard Wolf (Bayreuth) fragt nach Formen und Funktionen narrativer Identitätsstiftung in deutschsprachigen Reimchroniken und zieht in einem weiten zeitlichen Panorama dafür das Annolied, die Kaiserchronik sowie Gottfried Hagens Reimchronik der Stadt Köln heran. Wie der Beitrag überzeugend herausarbeitet, entwerfen die Chronisten selten nur ein einziges Identitätsangebot – sie gestalten stattdessen zumeist mehrere verschiedene Formen politischer, sozialer, religiöser oder ästhetischer Selbstwahrnehmung. Ricarda Bauschke (Düsseldorf) behandelt einen wenig bekannten französischen Text, Le voyage de Charlemagne à Jerusalem, der mit der Karlsepik allerdings eine in der deutschen Literatur überlieferte Gattungstradition aufgreift. In einer eng am Text durchgeführten Analyse des Werkes beleuchtet sie präzise die Interferenzen zwischen parodistischem Erzählmodus einerseits und historischem Erzählen andrerseits.
An die Diskussion zum identitätsstiftenden Geschichte-Erzählen knüpft Cordula Kropik (Basel) an, indem sie am Beispiel spätmittelalterlicher Sängererzählungen die Interferenz von Helden- und Dichtersage verfolgt. Dabei begnügt sie sich mit Recht nicht mit dem herkömmlichen Verständnis, wonach die Dichtungen eine anachronistische Tradition der deutschen Literatur ‚erfinden‘. Stattdessen erweist sich die narrativ hergestellte Konstruktion einer kulturellen Identität volkssprachlicher Dichter als eine Form von ‚ästhetischem Gedächtnis‘. Julia Frick (Zürich) konzentriert sich auf ein aspektreiches Fallbeispiel aus dem späten Mittelalter, den Trienter Judenprozess, der als zeitgenössisches Ereignis im 15. Jahrhundert literarisch verarbeitet und im Druck verbreitet wurde. In eingehenden Vergleichen der lateinischen und volkssprachigen Textzeugnisse arbeitet sie die hochgradig parteiliche Narrativierung des Prozesses heraus und weist so die narrativ-diskursiven Muster nach, die den Umgang mit den historischen Fakten prägen.
Grundmuster des historischen Erzählens werden im abschließenden Themenblock aus geschichtswissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Perspektive kritisch hinterfragt. Aus der differenzierten Perspektive des Historikers fragt Len Scales nach Kennzeichen des ‚staufischen Zeitalters‘ und führt – ausgehend von Beobachtungen zur Stuttgarter Ausstellung Die Zeit der Staufer im Jahre 1977 – in souveräner Weise vor, dass mittelalterliche Zeitgenossen eine als ‚staufisch‘ wahrgenommene dynastische, politische, künstlerische oder literarische Tradition nicht kannten. Der Beitrag, der auf einen öffentlichen Abendvortrag im Historischen Lesesaal der John Rylands Library zurückgeht, verdeutlicht überzeugend, unter welchen speziellen Umständen die Vorstellung eines ‚staufischen Zeitalters‘ überhaupt aufgekommen ist.
Abgerundet wird der Band durch zwei Fallstudien zu den römisch-deutschen Herrschern des Spätmittelalters. Anne Simon (London) geht es mit Blick auf die geschichtliche Rolle Karls IV. um die Chronistik und Memorial-Architektur in der Reichsstadt Nürnberg vom späten 14. bis frühen 16. Jahrhundert. In der Stadtchronik Sigmund Meisterlins wie auch der Weltchronik Hartmann Schedels lassen sich exemplarisch an die imperiale Macht angelehnte Strategien reichsstädtischer Selbstlegitimierung – Gründungsnarrative ebenso wie Erzählungen von der Promulgation der Goldenen Bulle (1356) und der Überführung der Reichskleinodien (1424) – beobachten. Eine Entsprechung finden diese Strategien in der baulichen Inszenierung des Schönen Brunnens als Erinnerungsort von Herrschaft und in dem Ritual des Männleinlaufens, das an die Huldigung Karls IV. durch die deutschen Kurfürsten erinnert. Stefan Matter (Fribourg) erläutert anhand eines aus 203 Zeichnungen bestehenden Konvoluts in Washington DC die Entstehungsumstände von Kaiser Maximilians Freydal; bisher als Nachzeichnungen verkannt, erweisen sich die Washingtoner Illustrationen tatsächlich als Vorarbeiten und gewähren einen Einblick in die literarisch-künstlerische Aufarbeitung der Karriere Maximilians als Ritter. Dabei wird der Fokus nicht auf die narrativen Erzählung jener Karriere gerichtet – es fehlen alle Angaben zu den ‚historischen‘ Umständen der Turnierkämpfe –, sondern allein auf die Kleidung des Kaisers und auf den Ausgang der Kämpfe gegen die mit Namen versehenen, jedoch nicht individuell gestalteten Gegner. Die Geschichtskonzeption des Freydal lässt damit historisch verbürgte Vorstellungen der Prachtentfaltung und Majestät Maximilians erkennen.
Den wissenschaftlichen Ertrag des Tagungsbandes resümiert Almut Suerbaum (Oxford) in einem prägnanten Fazit. Die zentralen Ergebnisse der Tagung lassen sich in drei Punkten zusammenfassen. Erstens haben die Beiträge zur Kaiserchronik die Faszination des frühen Hochmittelalters in Erinnerung gerufen, doch zugleich auch die Pole markiert, zwischen denen sich das Erzählen von Geschichte erfassen lässt: Auf der einen Seite ist nicht Chronologie, sondern ‚Bedeutsamkeit‘ die zentrale Kategorie für das volkssprachliche Geschichte-Erzählen; auf der anderen Seite hat sich gezeigt, welche Bedeutung gerade Formen von Serialität und Wiederholung haben. Zweitens hat eine Reihe der Beiträge demonstriert, dass Geschichte an Ordnungsstrategien gebunden ist, die es erlauben, aus der unbegrenzten Fülle des Materials auszuwählen und das Ausgewählte zu ordnen, was immer auch die Reflexion über Zeit und Zeitlichkeit in der Geschichte verlangt. Die Auseinandersetzung mit dem Mittelalter lehrt also, dass unsere heutigen Konzeptionen von Zeit der Historisierung bedürfen. Drittens haben die Beiträge entschieden einem differenzierteren Blick auf den Status der Volkssprache und volkssprachlichen Literatur zugearbeitet. Deutlich wurde, wie man über den oftmals vagen Begriff des Hybriden hinauskommt, indem man das Zusammenspiel unterschiedlicher Erzähltraditionen präzise beobachtet und beschreibt. Volkssprachliches historisches Erzählen versteht sich einerseits als Fortsetzung der gelehrten Tradition, etwa wenn es sich explizit auf lateinische Quellen beruft. Andererseits gibt es nicht wenige Fälle, in den sich Texte als expliziter Neubeginn verstehen, an volkssprachige Traditionen anschließen, ihre Distanz zu anderen Traditionen markieren und sich auf weltliche wie geistliche Gründerfiguren berufen, um die eigene Tradition zu rechtfertigen oder erst selbst zu stiften.
Die Tagung in Manchester hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Darstellung von Geschichte in der deutschen Literatur des Mittelalters auf der Basis von Forschungen zur narrativen Modellierung der als wahr geglaubten vergangenen Welt zu bilanzieren und mit dem Blick auf aktuelle wissenschaftliche Aufgabenfelder neu zu erarbeiten. Diese ambitionierte Zielsetzung können naturgemäß auch die Beiträge des Tagungsbandes nicht in jeder Hinsicht einlösen, doch fördern sie, so ist zu hoffen, das Potential des Themas exemplarisch zutage. Daraus dürfte der Impuls resultieren, künftig verstärkt an narratologische Forschungen anzuschließen, wenn es zu verstehen gilt, wie Geschichte aus dem Erzählen von Vergangenheit hervorgeht.