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2. Exaptation

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Gerade das vorkonstantinische Christentum – und darauf konzentriert sich dieser Beitrag – bietet auf den ersten Blick eine Anmutung von Modernität, da es in einem hohen Maße Individualität freisetzte. Diese Intuition einer Affinität zur Moderne soll im Folgenden auf verschiedenen Feldern geprüft und historisiert werden. Dabei versuche ich zu verdeutlichen, dass mit der Entwicklung des vorkonstantinischen Christentums Semantiken entstanden, die hinsichtlich der westlichen Moderne im Sinne einer systemtheoretisch inspirierten Evolutionstheorie als Exaptationen betrachtet werden können. Das gleiche Phänomen wird in der Systemtheorie üblicherweise als preadaptive advance bezeichnet. Ein preadaptive advance ist nach Rudolf Stichweh eine Entwicklung, die zwar vorläufig in ein Sozialsystem eingepasst ist und deshalb überlebt, [wobei] ihr aber zu einem späteren Zeitpunkt eine soziale Funktion zuwächst, die es noch gar nicht gab, als diese (semantische) Erfindung auftrat.7 Sie sind, wie es Niklas Luhmann (1927–1998) in seiner ironischen Art sagt, Lösungen für Probleme, die noch gar nicht existieren. Erst in einer späteren Phase der Geschichte einer Gesellschaft hätten sie sich voll entwickelt.8 Das berühmteste Beispiel aus der Evolutionsbiologie sind die Federn von Dinosauriern, dann des Archaeopteryx, die für Vögel eine ganz neue Bedeutung erlangten. Als Begriff bevorzuge ich Exaptation, weil dieses Wort weniger leicht teleologisch missverstanden werden kann.

In diesem Sinne dürften, so die These, Exaptationen, die mit frühen Christen verbunden waren und die vor allem textlich weitergegeben wurden, die Entstehung einer westlichen Moderne begünstigt haben. Dies soll aber nicht einfach zu einer fröhlichen Fortschrittsgeschichte geraten, denn den Begriff der »westlichen Moderne« verstehe ich keineswegs normativ, sondern beziehe mich auf die Selbstbeschreibung gegenwärtiger westlicher Gesellschaften, die um Werte der Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde kreisen, die in vielen Verfassungen festgeschrieben sind. Die wichtige Frage danach, unter welchen Umständen das modernitätsaffine Potential antiker Semantiken angeeignet wurde oder eben nicht, kann ich indes nur anreißen. Man müsste dann Begriffe wie »Pfadabhängigkeit« diskutieren, den ich nicht verwende, da er zu einem deterministischen Missverständnis verführen kann.9

Mit diesem Ansatz versuche ich etwas, was sich für einen Historiker meines Schlages, der von einer historistischen Grundeinstellung getragen ist, an der Grenze des Seriösen bewegt, indem ich auf die Wirkungsgeschichte abstelle, und damit das antike Christentum anachronistisch betrachte, da ich zudem zeitlich weit Entferntes vergleiche und die Entwicklungsschritte hintanstelle.10 Die Gefahr einer teleologischen Perspektive ist bei aller Vorsicht groß. Dass ich zudem auf dem knappen Raum nicht ohne Zuspitzungen und Einseitigkeiten auskomme, versteht sich. Es geht hier vornehmlich um einen Diskussionsbeitrag, nicht um eine ausgewogene Gesamtdarstellung.

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