Читать книгу Christentum und Europa - Группа авторов - Страница 35

1.

Оглавление

Eine kurze Vorverständigung, die dem besonderen Debattenstand in der deutschen evangelischen Theologie Rechnung trägt, ist unverzichtbar: Die spätestens seit Ernst Troeltschs berühmter Rede auf dem Stuttgarter Historikertag von 19062 virulenten makrohistorischen Debatten zur Einordnung der Reformation im Verhältnis zu Mittelalter und Neuzeit sind, soweit ich sehe, seit einiger Zeit außerhalb der deutschen evangelischen Theologie ohne nennenswerte Resonanz geblieben. Dies dürfte unterschiedliche Gründe haben: Zum einen hat die seit etwa einem Vierteljahrhundert auch in der deutschen Geschichtswissenschaft fest etablierte Epochenkonzeption der »Frühen Neuzeit« die traditionell aufgeladene, implizit als Diskussion über die Geltung des Protestantismus für die Gegenwart geführte Auseinandersetzung um die periodologische Einordnung der Reformation ideologisch entschärft.3 Zum anderen hat die in Tübinger Tradition vorwiegend mit theologiegeschichtlichen Argumenten bestrittene neuere Debatte um Kontinuitäts- und Umbruchmotive der Reformation rechts-, mentalitäts-, politik- und kommunikationsgeschichtliche Aspekte notorisch ausgespart, sich auf Mystik und sogenannte Frömmigkeitstheologie konzentriert und damit Quellen in den Vordergrund gerückt, an denen Historiker in aller Regel wenig Interesse zeigen.4 Sodann hat die Skepsis gegenüber Epochendiskussionen – soweit ich sehe – weite Kreise der Historikerzunft erfasst. Insofern ist die auf Umbruchmomente im Kontext eines Epochenjahres 1517 fokussierte Diskussion eine »sehr deutsche«5, deren Partikularität sich insbesondere gegenüber der in der angloamerikanischen Forschung üblich gewordenen, inzwischen auch von evangelischen Kirchenhistorikern vertretenen Konzeption einer pluralen Reformation zeigt.6 Die Pluralisierung der Reformationen geht in aller Regel mit ihrer chronologischen Entgrenzung einher; angesichts einer von ca. 1400 bis 1650 reichenden Übergangsepoche aber macht die traditionelle Debatte über die Einordnung der Reformation zwischen Mittelalter und Neuzeit wenig Sinn.

Ein m. E. mit guten historiographischen Gründen vertretbarer singularischer Gebrauch des Begriffs »Reformation«7, der weiterhin in der deutschen Forschung und der öffentlichen Erinnerungskultur dominiert, ist im globalen oder internationalen Horizont heute alles andere als selbstverständlich. Gleichwohl kann man m.E. historisch präzis beschreiben, dass erst infolge von Luthers öffentlichem Kampf gegen den Ablass jene Ereignissequenzen einsetzten, die zu Veränderungen der Kirchenwesen im Alten Reich und in Europa führten, die wir traditionell als »Reformation« zu bezeichnen pflegen. Dies sei zunächst an einigen Beispielen illustriert, die zeigen, dass Luther und die Wittenberger spätestens seit 1518 in einem europäischen Horizont wahrgenommen wurden.8

Im Oktober 1518 erschien bei dem Basler Drucker Johannes Froben eine erste Sammelausgabe Lutherscher Schriften. In einem Brief vom Februar 1519 teilte er dem Wittenberger Augustinereremiten mit, dass dieser Druck bereits vergriffen war; in Hunderten von Exemplaren war er nach Frankreich, Spanien, Italien und England verkauft worden. Im Nachgang der Leipziger Disputation, im Spätsommer 1519, erhielt Luther Post aus Prag; Repräsentanten der böhmischen Hussiten suchten den Schulterschluss mit ihm. Ein Jahr später trat der englische König Heinrich VIII. gegen Luthers radikale Sakramentsschrift De captivitate Babylonica literarisch an und wurde dafür vom Papst mit der Goldenen Tugendrose und dem Ehrentitel eines »Verteidigers des Glaubens« (defensor pacis) geehrt. Im Mai 1521 wurde nahe der Londoner St.-Pauls-Kathedrale ein Tribunal über Luther und seine Anhänger ausgeführt; nach den Lehrverurteilungen durch die Universitäten Köln und Löwen folgte im Frühjahr 1521 die durch die ehrwürdigste Universität des Abendlandes, die Sorbonne in Paris. Im Sommer 1521 reiste der aus Zwickau vertriebene reformatorische Prediger Thomas Müntzer nach Prag, um einen Kontakt mit Repräsentanten der hussitischen Bewegung aufzubauen; bereits ein Jahr zuvor hatte Luthers Wittenberger Kollege Karlstadt ein kurzes reformatorisches Intermezzo in Kopenhagen eingelegt. Die späteren Exponenten reformatorischer Entwicklungen in Frankreich, England und Dänemark, François Lambert aus Avignon, William Tyndal und Heinrich Tausen studierten seit den frühen 1520er Jahren in Wittenberg. Der jüdische Gelehrte Eliezer Ha Levi in Jerusalem sah in einem Brief des Jahres 1525 die endzeitliche Erwartung eines Zerfalls der Christenheit und des Beginns der Erlösung Israels durch Luthers Auftreten bestätigt. Dass reformatorische Ideen durch Texte, Studenten, Kaufleute und Mönche, anknüpfend nicht zuletzt an deutschsprachige Bevölkerungsgruppen in ganz Europa, sehr rasch über das Reich hinaus verbreitet wurden, ist evident.

Die folgenden Überlegungen zur Europäizität der Reformation haben eine doppelte Tendenz: Zum einen soll es darum gehen, inwiefern die Reformation in Europa wurzelte (2), zum anderen darum, inwiefern sie Europa veränderte (3). In dieser Form nehme ich also die Frage nach der makrohistorischen Einordnung der Reformation auf.

Christentum und Europa

Подняться наверх