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Die europäische Resonanz auf Luther und die reformatorische Bewegung hing mit strukturellen Gegebenheiten des lateineuropäischen Geschichtsraumes zusammen.9 Darunter verstehe ich jenen Teil unseres heutigen Kontinents, der von der römischen Tradition bestimmt war, also West-, Nord-, Mittel- und Mittelosteuropa; seine Grenzen bildeten die von der Orthodoxie geprägten Länder und Landschaften – Griechenland, Serbien, Montenegro, Bulgarien, Rumänien, die Ukraine und Russland. Die Reformation war primär ein lateineuropäisches Ereignis; sie betraf die vom lateinischen Christentum geprägten Länder direkt oder indirekt und wirkte sich mittel- oder unmittelbar auch auf die außereuropäischen Gebiete aus, die unter deren Einfluss gerieten. Mit dem 16. Jahrhundert trat das lateinische Christentum in die Phase seiner bis heute anhaltenden globalen Ausbreitung ein.10

Lateineuropa war von einigen prägenden kulturellen und religiösen Elementen bestimmt; dies war etwa der altrömische Grundsatz, dass eine einheitliche, das Gemeinwesen integrierende Religion unverzichtbar sei – die Religion als vinculum societatis, als Band der Gesellschaft; die lateinische Sprache in der gottesdienstlichen Liturgie und in der gelehrten Kommunikation, das kanonische Kirchenrecht, die großen Orden und Verbände des abendländischen Mönchtums, die transnationale, gesamteuropäische Organisationsstrukturen besaßen und – das Papsttum, dessen in Anspruch genommener Jurisdiktionsbereich alle zu Lateineuropa gehörenden Länder bildeten. Auch die seit dem 12. Jahrhundert als Institutionen gelehrter Bildung entstandenen Universitäten und der durch sie geprägte methodische Argumentationsstil, die sogenannte Scholastik und die ihr eigene Rationalität, markierten eine prägende Besonderheit der lateineuropäischen Welt. Bestimmte Praktiken des religiösen Lebens wie die bewaffneten Wallfahrten ins Heilige Land – also die Kreuzzüge –, das Bußsystem, das die Vergebung bestimmter Vergehen mit exakt tarifierten Kompensationsleistungen verband oder die strengen sexualethischen Keuschheitsstandards für Priester aller Weihestufen – also der allgemeine Pflichtzölibat – waren Besonderheiten des lateinischen Christentums. Für den Ablass, die außerordentliche Vergebung zeitlicher Sündenstrafen, die eigentlich im Fegefeuer – dem postmortalen Reinigungsort – abzubüßen waren, galt dies gleichfalls. Durch die Ablässe konnte man einen teilweisen ›Nachlass‹ dieser im Bußsakrament auferlegten Sündenstrafen oder – ein exklusives Recht der Päpste mittels der sogenannten Plenarablässe – ihre vollständige Tilgung erreichen.

Auch in politischer Hinsicht war Lateineuropa durch prägende Gemeinsamkeiten bestimmt. Im 15. Jahrhundert fühlte man sich hier in wachsendem Maße durch das Osmanische Großreich bedroht.11 Im Jahre 1453 war Konstantinopel, das ehrwürdige Zentrum des oströmischen Reiches, den türkischen Anstürmen erlegen. In den kommenden Jahrzehnten rückten türkische Heere immer weiter nach Europa vor; seit 1460 stand die Peleponnes unter osmanischer Verwaltung; 1461 fiel mit Trapezunt am Schwarzen Meer ein letzter christlicher Vorposten in türkische Hände; 1475 nahmen die Osmanen die genuesische Handelsniederlassung auf der Krim in Besitz; 1516/7 schließlich gelang die Eroberung Ägyptens und Syriens; 1521 erfolgte der Vorstoß nach Belgrad; im Herbst 1529 belagerten sie Wien.12 Die türkische Expansion bildete ein wichtiges politisches Hintergrundsmotiv der Reformationsgeschichte. Die gewaltsame Beendigung einer ca. siebenhundertjährigen christlich-muslimischen Kopräsenz in Andalusien durch die Rückeroberung Granadas, die sogenannte Reconquista im Jahre 1492, war eine der ›Antworten‹ des lateinischen Westens auf die Vorstöße der Türken. Denn die Herrscher der Iberischen Halbinsel, die ›Katholischen Könige‹ Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon, erstrebten eine Rechristianisierung. Die Dominanz der Osmanen im Mittelmeerraum behinderte den Orienthandel; wegen entsprechender Abgabenpflichten verteuerte dies die begehrten Waren. Die fieberhafte Suche nach einem Seeweg nach Indien war eine der Folgen des türkischen Imperialismus. Dass Bartolomeo Diaz 1487 erstmals das Kap der Guten Hoffnung, die Südspitze Afrikas, umsegelte, Christoph Kolumbus 1492 Amerika entdeckte und Vasco da Gama 1498 von Lissabon aus definitiv den Seeweg nach Indien fand, waren indirekte Folgen der osmanischen Vormacht im Mittelmeer. Ob die Globalisierung Lateineuropas, die seit dem späten 15. Jahrhundert einsetzte, ohne die Türken eingetreten wäre, ist fraglich. Ohne die Türken hätte es gewiss auch die Reformation nicht gegeben, denn ihretwegen wurde der Ablassbetrieb angekurbelt, ihretwegen expandierte das Druckwesen, ihretwegen entstand eine militärische Bedrohung des habsburgischen Kaisers; die sich der Reformation anschließenden Fürsten nutzten dies, um sich ihre Waffenhilfe für das Reichsoberhaupt gegen religionspolitische Zugeständnisse ›abkaufen‹ zu lassen.13

Hinsichtlich seiner politischen Binnenstruktur war das lateinische Europa um 1500 vielfältig. Im Westen – in Spanien, Portugal, Frankreich, England – hatten sich dynastisch geprägte monarchische Herrschaftsformen herausgebildet, die Merkmale staatlicher Verdichtung aufwiesen: einheitliche Verwaltungs- und Besteuerungssysteme, eine Machtkonzentration in der Hand der Könige, eine herrschaftsstrategische Einbindung des Adels, weitgehende Besetzungsrechte der Krone in Bezug auf höhere kirchliche Ämter und die Ausformung nationaler Kirchentümer und Katholizismen. In Mittel- und Mittelosteuropa – im Heiligen Römischen Deutscher Nation, Polen-Litauen, Böhmen und Ungarn – war die höchste Herrscherwürde, das Königs- bzw. Kaisertum, an Wahlakte gebunden, die bestimmte Adelsgruppen durchführten. In Nordeuropa löste sich die seit dem späten 14. Jahrhundert unter dänischer Führung bestehende Kalmarer Union auf; das seine Unabhängigkeit erstrebende Schweden (mit Finnland) einerseits, Dänemark (mit Norwegen und Island) andererseits entwickelten sich zu erblichen Monarchien. Im Laufe des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts entstand durch die Heiratspolitik der seit 1452 die Kaiser stellenden Dynastie der Habsburger ein Länderkomplex, der neben den österreichischen und südwestdeutschen Erblanden nach und nach auch Burgund und die Niederlande, das spanische Erbe unter Einschluss des außereuropäischen Kolonialbesitzes, Teile Nord- und Süditaliens (Mailand, Neapel, Sizilien), Böhmen und Ungarn umfasste.

Eine kulturelle Besonderheit, die Lateineuropa seit dem 15. Jahrhundert von der ostkirchlichen Orthodoxie einerseits, der islamischen Welt andererseits grundlegend zu unterscheiden begann, war kommunikationstechnologischer Natur: Der Buchdruck mit beweglichen Metalllettern.14 Um 1450 war es dem gelehrten Mainzer Handwerker Johannes Gutenberg gelungen, ein Verfahren der mechanischen Reproduktion von Texten zu entwickeln. Mittels des ebenso genialen wie einfachen Gedankens, Texte in ihre kleinsten Einheiten, die 26 Buchstaben des lateinischen Alphabets, zu zerlegen und durch ein Gußverfahren, dem Kern von Gutenbergs Erfindung, einzelne Typen aus beständigem metallischen Material herzustellen, war es gelungen, Schriftstücke in beliebig großen Mengen zu reproduzieren. Dabei nutzte Gutenberg eine Kombination unterschiedlicher technischer Instrumente und Innovationen. Als Bedruckmaterial kam neben dem teuren Pergament zusehends das günstigere Papier zur Anwendung; seit dem späten 14. Jahrhundert gab es Papiermühlen auch in Deutschland. Von diesen und aus dem Weinbau waren Pressen bekannt; wegen der gleichmäßigen Kraftübertragung waren sie beim Drucken unerlässlich.

Texte, die bisher von professionellen Schreibern in langen Zeiträumen abgeschrieben werden mussten, konnten nun ungleich schneller und kostengünstiger verbreitet werden. Die mittelbaren gesellschaftlichen und kulturellen Folgen des Buchdrucks begannen sich erst allmählich abzuzeichnen; für die Reformation aber waren sie zentral.15 Nach den ersten typographischen Anfängen Gutenbergs hatte sich die neue Technologie rasant verbreitet. Um 1500 existierten in Lateineuropa in ca. 150 Städten etwa 1.000 Druckereien. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits ca. 30.000 unterschiedliche Titel produziert worden; die Gesamtzahl der gedruckten Bücher ging in die Millionen. Für die Bildungseinrichtungen der Zeit, vor allem die Lateinschulen und Universitäten, bedeutete die neue Technologie einen wichtigen Innovationsfaktor; nun konnten die Lernenden bestimmte Lehrbücher erwerben und stetig mit ihnen arbeiten. Auch die Gelehrten erlebten neue und ungeahnte Möglichkeiten, ihre eigenen Ideen und Texte weit über den Wahrnehmungshorizont des Hörsaales und der Handschrift hinaus zu verbreiten und den Austausch innerhalb der europäischen Gelehrtenrepublik zu fördern.

Die seit dem 13. Jahrhundert zunächst in den urbanen Zentren der Apenninhalbinsel entstandene kulturelle Bewegung des Humanismus, die sich derjenigen Künste und Wissenschaften besonders annahm, in denen es um das ›Humanum‹, das Menschsein des Menschen, ging, machte sich die Möglichkeiten der Druckpresse zügig zunutze. Über weite geographische Distanzen, quer durch Europa, ließen sie einander an ihren textlichen Entdeckungen und eigenen literarischen Elaboraten teilhaben. Häufig waren die Humanisten, die über dichte Korrespondentennetzwerke verfügten, früher über neue Entwicklungen auf politischem oder kulturellem Gebiet informiert als ihre Zeitgenossen. Sie waren auch die Ersten, die Informationen über Luther weitergaben und seine Texte nachdruckten.16

Angesichts vielfältiger Ängste und Bedrohungen durch Natur- und Hungerkatastrophen, Pestepidemien oder den türkischen ›Erbfeind‹ aus dem Osten, die eine Hochkonjunktur apokalyptischer Motive auch in der zeitgenössischen Kunst mit sich brachten,17 war die Kirche die weithin unangefochtene Instanz der Heilssicherung und -vergegenwärtigung – überall in Europa. Viele Menschen wandten sich mit ihren Sorgen, Nöten und Bedürfnissen an das Gnadeninstitut; sie bedienten sich der Instrumente und Praktiken, die es anzubieten hatte: der Sakramente und Wallfahrten, der Messstiftungen, die das unblutige Opfer Christi zugunsten bestimmter Stifter wiederholten, der Heiltumsschauen, also besonderer religiöser ›Events‹, bei denen ablassträchtige Reliquien gezeigt wurden, der Bruderschaften – Korporationen aus Geistlichen und Laien, die zugunsten ihrer verstorbenen Mitglieder beteten und das Totengedenken ermöglichten, auch der vielfältigen religiösen Lebensformen im Kloster oder in der Welt. All die genannten Institutionen und Praktiken boomten; niemals zuvor waren so viele Kirchengebäude errichtet worden wie zu Beginn des 16. Jahrhunderts, und zwar im gesamten lateineuropäischen Raum. Dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem individuellen religiösen Engagement – etwa durch die Menge der Gebete, die Höhe der Spenden, die Strapazen einer Wallfahrt etc. –18 und dem Ausmaß der Heilseffekte, eine Korrespondenz von religiöser Leistung und geistlichem Lohn also, bestand, war im Ganzen selbstverständlich und integrierte die lateineuropäische religiöse Mentalität. Dass die Infragestellung dieses Systems religiöser Leistungsfrömmigkeit, wie sie dann Luther und die anderen Reformatoren ausarbeiteten, gleichfalls überall in Lateineuropa nachvollziehbar war, versteht sich von selbst.

In Bezug auf die Entstehung reformatorischer Bewegungen in Lateineuropa lassen sich einige strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Für die Verbreitung reformatorischen Gedankenguts war – von wenigen Ausnahmen abgesehen –19 in der Regel der Buchdruck zentral. In den Niederlanden, Paris oder Dänemark wurden reformatorische Druckschriften rasch nachgedruckt; auch die Übertragung deutscher Texte in andere Volkssprachen ging rasch vonstatten; Antwerpen entwickelte sich rasch zu einem internationalen Druckzentrum, in dem französische, spanische, dänische und englische Reformationsliteratur hergestellt wurde. In zahlreichen europäischen Ländern – den Niederlanden, England, den baltischen und den nordeuropäischen Ländern, in Böhmen, Mähren und Nordfrankreich – gab es durchaus stattliche Ansiedlungen deutschsprachiger Kaufleute und Handwerker; vielfach waren diese ›Auslandsdeutschen‹ auch die Ersten, die reformatorisches Gedankengut und Schrifttum aufnahmen und verbreiteten. Neben den Kaufleuten sind deutsche Studenten – vor allem in Richtung Italien und Frankreich – als mobile Tradenten reformatorischer Überzeugungen zu identifizieren. Die transnationalen Organisationsstrukturen der Kirche und der Orden trugen das Ihre dazu bei, dass die Kunde von dem ketzerischen Bettelmönch aus Wittenberg weit herumkam. Auch Luthers eigener Orden, die Augustinereremiten, war ungemein zügig – und vielfach mit überwältigender Zustimmung – in die Ausbreitungsprozesse der reformatorischen Botschaft involviert. Die überkommenen Strukturen, die Lateineuropa im Mittelalter ausgebildet hatte, bildeten also zentral wichtige Voraussetzungen für die europäische Resonanz der Reformation; insofern wäre die Reformation ohne dieses Europa nicht möglich gewesen.

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