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3.2 Wahrheit und Universalitätsanspruch
ОглавлениеDie exkludierende religiöse Entscheidung der Christen gründete sich auf der Auffassung, man besitze die alleinige Wahrheit, die für sämtliche Menschen heilsnotwendig sei. Wahrheit war keine Sache der Erkenntnis der Elite, sondern allen Menschen zugänglich, so dass es Christen leicht fiel, den Begriff der Philosophie im Sinne eines begründbaren Strebens nach dem guten Leben für sich in Anspruch zu nehmen. Die Exklusivität des Inhalts verband sich mit einem universalen, insofern sozial höchst inklusiven Anspruch: Ob man Grieche war oder Jude, Mann oder Frau, Freier oder Sklave, all das sollte vor Christus keinen Unterschied machen. Jegliche soziale Differenz sollte im religiösen Kontext verschwinden. Die soziale Ordnung war, so gesehen, transzendierbar. Denn die Entscheidung für eine bestimmte religiöse Lehre verlangte man jedem Individuum ab; ein spezielles, seit den Anfängen bezeugtes Ritual, die Taufe, machte diese für die Gemeinde sichtbar.
Wenn hier jedes Individuum unabhängig vom sozialen Status als vor Gott gleich gedacht und insofern im Prinzip aufgewertet wurde, so ist dies erneut eine modernitätsaffine Vorstellung. Daraus resultierte bei frühen Christen nicht die Abkehr von der Sklaverei; die Überlegungen stellten aber Argumente bereit, die späterhin für die Abschaffung der Sklaverei nutzbar gemacht werden konnten. Folgenschwer war ebenso die Haltung von Christen, Wohltätigkeit grundsätzlich nicht allein einer bestimmten Gruppe, etwa den eigenen Bürgern, zukommen zu lassen, sondern den Bedürftigen gleich welcher Herkunft.
Der Wille zur Bekehrung der anderen, der praktische Ausdruck eines universalen Wahrheitsanspruchs, ist unter Christen früh bezeugt; der hochstrittige Schluss des Matthäusevangeliums legt dem auferstandenen Christus den sogenannten Missionsbefehl in den Mund (28,18–20).20 Nun versuchten andere religiöse Gemeinschaften, die nicht Teil der Kulte von Polis und res publica waren, gleichfalls neue Anhänger zu gewinnen. Selbst Juden hatten trotz der ethnizistischen Grundlagen ihrer Religion versucht, sich Proselyten zu öffnen, und mit dem Institut der theosebeis eine Möglichkeit geschaffen, die Nähe zur jüdischen Religion kenntlich zu machen, ohne sich mit ihr vollständig zu identifizieren.
Christen gingen noch weiter, denn sie definierten die Bekehrung als eine zentrale Aufgabe, weil ihr Glaube ja für das Heil aller Menschen notwendig war. Die Bekehrung des Einzelnen hatte Konsequenzen, die sich seiner Kontrolle entzogen, denn sie war mit dem Eingeständnis der Sündhaftigkeit des Menschen verbunden und der Erlösungsbedürftigkeit durch Christus; insofern bedeutete das einen Autonomieverlust. Manche Christen suchten weiterhin einen individuellen Weg, andere hofften auf spezifische Formen der Erkenntnis, etwa innerhalb des gnostischen Spektrums. Doch in den meisten Fällen gelangten die Bekehrten in eine Gemeinschaft, was sich eben in der Taufe ausdrückte, die nach verschiedenen Zeugnissen in ein Herrenmahl überging. Das bedeutete gemeinschaftliche Unterstützung, zugleich die Kontrolle von Verhalten mit der Gefahr eines Ausschlusses. Als ein sehr wirksames Instrument erwies sich hierbei das Bußverfahren mit öffentlichem Sündenbekenntnis, das sich sehr früh entwickelte. Der Einzelne gestand seine Sünden und sah sich den Sanktionen der Gemeinde oder eines Amtsträgers ausgesetzt, damit er auf den Weg der Wahrheit zurückkehren konnte. In immer mehr Gemeinden gelangte das Bußverfahren in den Verantwortungsbereich von Bischöfen, die dadurch erheblich an Autorität gewannen.
Religiöse Freiheit und die Kontrolle des religiösen Lebens sind in der christlichen Tradition demnach miteinander verwoben, nicht einfach im banalen Sinne einer Unterdrückung des anderen, sondern durchaus in fürsorglicher Absicht. Der Schritt zum Zwang im besten Interesse des anderen war dann nicht mehr weit, wie es etwa erkennbar ist in der Entwicklung der Haltung Augustins im Donatismusstreit, bei dem das in berüchtigter Weise wirkungsmächtige Wort des cogite/compelle intrare nach Lk 14,23 fiel.21
Diese Verbindung von Fürsorge und Macht über Einzelne, die sich etwa bei Augustinus zeigt, hat Michel Foucault (1926–1984) mit dem Begriff der Pastoralmacht (pouvoir pastoral) belegt, einer Macht, die sich nicht über ein Territorium erstreckt, sondern über mobile Menschen, denen sie sich wohlwollend zuwendet und die nach der inneren Wahrheit in den Individuen sucht.22 Foucault bezieht sich bei seiner Entwicklung des Begriffs auf die Beichte, die das Individuum dazu bringt, ohne alle Beschönigung seine Sünden zu bekennen. Für ihn wurde dann die Pastoralmacht in ihrer späteren Form ein Charakteristikum vieler moderner Gesellschaften; die Rituale der Kritik und Selbstkritik in kommunistischen Systemen wurden ebenfalls darauf zurückgeführt.23 Die Macht des wissenden Seelsorgers, der das Beste für das Individuum will und es zugleich einschränkt, beruht darauf, dass eine universale Botschaft, eine Wahrheit für alle besteht, die von existenzieller Bedeutung für den Einzelnen ist und die ihm daher nahegebracht werden muss, notfalls, so konnte man weiterdenken, mit Druck.
Der Wahrheitsanspruch der Christen bezog sich nicht nur auf Individuen, die zu gewinnen, sondern auch auf Religionen, die zu bekämpfen waren. Antipaganismus und Antijudaismus ergaben sich aus dem Exklusivitätsanspruch von Christen. Der Antijudaismus entstand in einem langsamen, keineswegs linearen Prozess der Lösung von Christen aus ihren jüdischen Gruppen; Argumente jüdischer Selbstkritik konnten Christen leicht in Argumente gegen Juden insgesamt wenden. Das galt etwa für Kritik an Zuständen im Tempelkult, die laut den Evangelisten der jüdische Rabbi Jesus geäußert hatte.24 Wer vom Antijudaismus spricht, muss über sein Verhältnis zum modernen Antisemitismus nachdenken – doch darüber ist von Kompetenteren schon viel gesagt worden, so dass ich mich zurückhalte.25
Keine offenkundige Gegenwartsbedeutung hat der Antipaganismus, da die Auslöschung der kultischen Traditionen, die Christen als heidnisch definierten, vollständig war; hier ging es nicht um die Beseitigung anstößiger Praktiken aus einem bestimmten Raum, sondern um deren vollständige Eliminierung – eine Denkweise, die dann wieder affin zu den schlimmsten Entwicklungen der Moderne wirkt, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Die Menschen sollten bekehrt und nicht umgebracht werden. Rückgriffe auf nicht-christliche religiöse Konzepte spielten in verschiedenen Phasen der europäischen Geschichte und auf sehr unterschiedlichen Niveaustufen eine Rolle, aber eine Kontinuitätslinie einer heidnischen Praxis bestand nicht.
Ferner sollte man bedenken: Ein Heidentum gab es zunächst nur aus jüdischchristlicher Perspektive. Dahinter verbarg sich eine Vielzahl religiöser Praktiken, teils öffentliche Kulte, teils Mysterienkulte, teils persönliche religiöse Haltungen, teils philosophische Überzeugungen und Weiteres. Manch ein Heide, der die Kulte der res publica in routinierter Gelassenheit pflegte, wird ekstatische Isisanhänger verachtet haben. Unter Christen war übrigens keineswegs klar, wie sie die Grenzen des Heidentums definieren sollten. Opfer für die Götter abzulehnen war Konsens. War es aber schon heidnisch, ins Theater zu gehen, wo eben auch Opfer stattfanden? War es heidnisch, für den Markt Götterbilder zu fertigen? War es heidnisch, Werke der klassischen Kunst zur Verschönerung einer Villa zu nutzen? War es heidnisch, Texte zu lesen, die Mythen tradierten? Hier stößt man auf sehr unterschiedliche Haltungen und intensive Debatten.26 Dass diejenigen, die bereit waren, Texte mit mythologischen Elementen zu akzeptieren, die Oberhand behielten, freut Gebildete bis heute.
Bemerkenswerterweise veranlasste christlicher Antijudaismus und Antipaganismus Juden und Heiden dazu, ihre eigenen religiösen Auffassungen neu zu definieren. Daniel Boyarin hat die einschneidende Wirkung der Auseinandersetzung mit dem Christentum für die Geschichte des Judentums herausgearbeitet.27 Für Heiden wiederum lässt sich zeigen, dass einige, namentlich neuplatonische Philosophen, immer mehr dazu neigten, die verschiedenen von Christen als heidnisch definierten Praktiken als eine Einheit zu sehen, und insofern das Heidentum zunehmend als eine Religion im Sinne des Christentums definierten.28
Antijudaismus und Antipaganismus konnten in Gewalt umschlagen. Viele spätantike Quellen berichten von der Zerstörung von Tempeln und Synagogen, oft in einem preisenden Ton. Aber eben nicht nur; es erhob sich ebenso Kritik an Gewalt. Eine direkte Ableitung von religiöser Gewalt aus dem Monotheismus ist nicht möglich; religiös begründete Gewalt und Gewalt gegen religiöse Institutionen war Heiden keineswegs fremd – man denke nur an die Perserkriege und ihre Folgen.
Aber das Argument, zur Besserung des Einzelnen und der Welt sei Gewalt gestattet, konnte christlich begründet werden und in sehr verschiedenen Kontexten Wirkung entfalten. Die Ambivalenz des Universalismus wird am Christentum deutlich sichtbar und durch seinen Erfolg besonders wirkungsmächtig: Der Universalismus setzt jeden Einzelnen als Träger religiöser Wahrheit frei, setzt ihn aber zugleich unter Druck, sich dieser Wahrheit als würdig zu erweisen. Was für alle gelten soll, dem darf sich niemand entziehen.