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Gewiss ist es ein Akt von Verwegenheit, einige allgemeinere Bemerkungen zur historischen Bedeutung der Reformation im Ganzen zu formulieren. Und doch dürfte das, zumal im Kontext evangelischer Theologie, unverzichtbar sein.36

Die Reformation hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die lateineuropäische Geschichte und deren globale Wirkungen. Mit der Ausbreitung der lateineuropäischen Zivilisation im Zuge der geographischen Entdeckungen, des Welthandels und der kolonialen Expansion kamen die konfessionellen Varianten des lateinischen Christentums auch in Asien, Australien, Afrika und Amerika zur Geltung. Auf den außereuropäischen Aktionsfeldern setzte sich die kontinentaleuropäische Konfessionskonkurrenz in direkter oder indirekter Form fort, konnte aber auch Formen der Interaktion und Kooperation annehmen, die in der »Heimat« undenkbar waren.37 Die globale Ausbreitung der lateineuropäischen Christentumsvarianten ist bis heute ungebrochen, der Protestantismus eine global rasant wachsende Religion.

Alle nicht-katholischen Gestalten des lateinischen Christentums sind in der einen oder anderen Weise Erben der Reformation.38 Die Organisationsformen der nicht-katholischen Christentumsvarianten sind denkbar vielfältig; sie reichen von aktualistisch-geistgetriebenen Vergemeinschaftungen pfingstlerischer oder quäkerischer Provenienz bis hin zu den episkopalistischen, staatskirchlichen oder staatsanalogen kirchlichen Institutionen in Skandinavien, Großbritannien und Deutschland.

Die nicht-katholischen Gestalten des lateinischen Christentums werden üblicherweise unter dem Begriff des »Protestantismus« (protestantisme; protestantismo; protestantism) subsumiert.39 Eine historisch reflektierte Sprachregelung sollte sich bewusst halten, dass die als kirchentrennend empfundenen konfessionellen Differenzen etwa zwischen Lutheranern und Reformierten im 16. und 17. Jahrhundert in der Regel ähnlich schwer wogen wie die gemeinsame Gegnerschaft gegenüber der Papstkirche. Erst seit dem 18. Jahrhundert kam die Tendenz auf, den Protestantismus als einen inneren Zusammenhang zwischen Luthertum und Reformiertentum wahrzunehmen und für grundsätzlich ›moderner‹ zu halten als den Katholizismus.40 Das dieser Perspektive zugrundeliegende Fortschrittsdenken war dem älteren Protestantismus des konfessionellen Zeitalters fremd. Im Zuge des späteren 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts führte es dazu, gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklungen, denen man ›modernisierende‹ Wirkungen zuschrieb – demokratisch-partizipative Entscheidungsprozesse etwa, kapitalistische Wirtschaftsgesinnung, Individualisierung, Emanzipation durch Bildung, Toleranz, Menschenrechte – eine besondere Nähe zum Protestantismus zuzuerkennen und den Katholizismus als notorisch rückständig einzustufen. Eine definitive Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen westlichen Zivilisation dürfte problematisch sein; auch eine kausale Ableitung der modernen westlichen Zivilisation allein aus der Reformation kommt nicht in Betracht. Gleichwohl ist es unabweisbar, dass ein innerer Zusammenhang zwischen der religionsgeschichtlichen Entwicklung Lateineuropas seit dem 16. Jahrhundert und den Einstellungen und Werten der westlichen Moderne besteht.

Die historisch primären gesellschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Folgen der mit der Reformation eingetretenen Pluralisierung des lateinischen Christentums bestanden nicht in der Relativierung, sondern in einer Intensivierung religiöser Bindungen.41 Den konfessionellen Christentümern des Luthertums, des Reformiertentums und des römischen Katholizismus war gemeinsam, dass sie größte Anstrengungen unternahmen, um ihre Glieder religiös zu unterweisen, sie also zu katechisieren, ihnen einen disziplinierten Lebensstil nahezubringen und sie vor den Versuchungen und Herausforderungen der konfessionellen Konkurrenz zu warnen. Die Pluralisierung des lateinischen Christentums infolge der Reformation, aus der alternative Varianten des Christlichen hervorgingen, hat zunächst primär Intoleranz und eine Kultur der rechtlich fixierten oder mentalen Abgrenzung befördert und eine sich religiös legitimierende Gewaltbereitschaft freigesetzt, die in den Religionskriegen des konfessionellen Zeitalters explodierte. Die wachsende Konfliktdynamik infolge der konfessionellen Pluralisierung hat mittelbar allerdings dazu beigetragen, Strategien der Einhegung und der Pazifizierung, der Tolerierung des Unvereinbaren, der Relativierung religiöser Wahrheitsansprüche und des interkonfessionellen Austausches plausibel zu machen und in rechtlichen Formen zu fixieren. Auf dem Boden des lateinischen Christentums gedieh auch die Religionskritik wie nirgends sonst.

Die intensivierte Aneignung der konfessionellen Christentumsvarianten durch Katechismen und Predigten, Erbauungs- und Gebetbücher zeitigte mittelbar fundamentale bildungsgeschichtliche Wirkungen. Diese werden in den protestantischen Territorien und Ländern in ihrer gesellschaftlichen Breite aufs Ganze gesehen früher wirksam als in den katholischen – eine Folge der konsequenten religiösen Aufwertung der Volkssprache und der Eröffnung von Partizipationsmöglichkeiten im Gottesdienst. In einigen Sprachen gehen die ersten erhaltenen oder gedruckten schriftlichen Dokumente unmittelbar auf die Reformation zurück – im Finnischen etwa, im Kroatischen, im Slowenischen, im Prussischen, im Gälischen; zumeist handelte es sich dabei um Katechismen, Übersetzungen des Neuen Testaments oder der ganzen Bibel.

Die sprachkultur- und bildungsgeschichtlichen Folgen der Reformation sind immens. Religiös relevante Texte in der eigenen Muttersprache lesen oder sich aneignen zu können – auch der evangelische Gemeindegesang blieb ein Attraktionsmoment allererster Güte! – implizierte zugleich, verstehend teilzunehmen. Mit der Reformation ging ein Ausbau des Schulwesens und eine verstärkte Bemühung um die Alphabetisierung der Bevölkerung einher.42 Da den Vätern und Müttern in der evangelischen Hausgemeinde eine zentrale religiöse Vermittlungsaufgabe zuerkannt wurde, galt es als wünschenswert, ja notwendig, dass sie lesen und schreiben konnten. Die in der Volkssprache gehaltenen evangelischen Predigten eröffneten andere Möglichkeiten des Dabei- und Involviertseins als die Teilnahme an einer lateinischen Messe. Intensivierte Bemühungen um die volkssprachliche Predigt, die Katechese, die religiöse Literaturproduktion auch im katholischen Bereich dokumentieren, dass die konfessionelle Konkurrenz das ›Geschäft‹ belebte und mittelbar die lateineuropäische Zivilisation im Ganzen veränderte.

Dort, wo der Protestantismus die dominierende Konfession wurde, bildete er eine besondere Nähe zur staatlichen Macht aus. Dies ergab sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit daraus, dass die weltlichen Obrigkeiten als »Notbischöfe« oder »supreme heads« an die Spitzen der Kirchentümer getreten waren. Diese notorische Staatsnähe des Protestantismus hat vielfach dazu geführt, dass sich die Religion gegenüber den Erwartungen, die von Seiten der Politik oder der Gesellschaft an sie gestellt wurden, als besonders ›elastisch‹, ja opportunistisch erwies. Die Bereitschaft, sich im 19. Jahrhundert unterschiedlichen Nationalismen zu akkommodieren, war ein Moment der ›volkstümlichen‹ Inkulturation, die allen konfessionellen Varianten des lateinischen Christentums, besonders aber den protestantischen, eigen war. In Kontexten, in denen sich Protestanten in einer minoritären Situation befanden, konnten sie durchaus Potentiale alternativen Denkens gegenwärtig halten; für die protestantischen Sekten, die nach der noch immer anregenden Idee Troeltschs43 früher und nachdrücklicher als andere die Grundsätze der allgemeinen Religionsfreiheit, der Toleranz und des Gewaltverzichts propagierten, war dies in starkem Maße der Fall.

Der Weg zu einem befriedeten Neben- und einem toleranten Miteinander der Konfessionen war im nachreformatorischen Lateineuropa lang. Er wurde einerseits dadurch geprägt, dass staatliches Recht den Konfessionen Grenzen setzte und Regeln des Miteinanders definierte, andererseits dass die Konfessionen selbst eigene Wahrheitsansprüche zu relativieren und das hohe Gut einer allgemeinen Religionsfreiheit zu affirmieren begannen. Im 17. Jahrhundert fingen einzelne Territorialstaaten in Deutschland an, Migranten fremder Konfessionen aufzunehmen; auch Täufern, die als fleißige Handwerker galten, gewährte man immer häufiger Schutz. Die Erfahrungen zeigten, dass ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Konfessionen, also multikonfessionelle Gesellschaften, im Rahmen klarer rechtlicher Regeln funktionierte. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die bürgerliche Gleichstellung der Juden gesellschaftlich durchgesetzt und rechtlich fixiert. Im Laufe des späten 19. und des 20. Jahrhunderts wurde die durch staatliches Recht verbürgte allgemeine Religionsfreiheit ein Grundelement des freiheitlichen Rechtsstaates und der überstaatlichen Grund- und Menschenrechte.

Toleranz44 als Anerkennung der Existenzberechtigung einer anderen Religion war das Ergebnis eines Lernprozesses; in der lateineuropäischen Christentumsgeschichte war dieser durch die Erfahrungen von mannigfachem Leid und abgründiger Gewalt im Namen der Religion geprägt. Die Reformation hat diese Entwicklungen z. T. freigesetzt und das Ihre dazu beigetragen, dass ein westlicher Zivilisationstypus entstand, der nicht mehr auf der Vorstellung basierte, dass eine Gesellschaft nur auf der Grundlage einer einheitlichen oder dominierenden Religion bestehen könne. Dieses tolerante, multireligiöse Gesellschaftsmodell hat sich bewährt, steht heute aber vor neuen Herausforderungen. Die Geschichte der Reformation ist ein Musterbuch der Spannungen, Widersprüche, Evolutionen, Fort- und auch Rückschritte der lateineuropäischen Zivilisation auf dem Weg zu toleranten, liberalen Gemeinwesen. Um unsere westliche Kultur im Horizont der Globalisierung weiterzuentwickeln, dürfte die Kenntnis ihrer Anfänge hilfreich sein.

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