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4. Antike Christen und ihre Affinität zur Selbstbeschreibung der westlichen Moderne
ОглавлениеMit meinen Überlegungen habe ich versucht, vier heuristisch getrennte Bereiche zu identifizieren, in denen die Affinität früher Christen zu dem, was heute intuitiv mit der westlichen Moderne verbunden wird, besonders sichtbar erscheint: Individualisierung des Glaubens; universaler Wahrheitsanspruch; Zwang zum Reflexivwerden und Prozeduralität. Meine Behauptung ist nicht, diese evolutionären Errungenschaften hätten nur durch das Christentum in die Welt kommen können; oft findet sich Ähnliches schon vorher in nicht-christlichen, gerade philosophischen, namentlich stoischen Kontexten. Ich spreche daher bewusst nicht von spezifisch christlichen Werten. Vielmehr gehe ich davon aus, dass bei bestimmten Konstellationen christliche Überzeugungen, wie sie sich historisch entwickelten, in eine entsprechende Richtung wirkten. Eine der Konstellationen scheint die Moderne Lateineuropas zu sein.
Was waren Gründe für diese Affinität? Zwei Hinweise möchte ich geben, ohne behaupten zu können, eine Antwort gefunden zu haben. Man kann, den Begriff des Erbes aufgreifend, den ich am Anfang mehrfach erwähnt habe, von einer Rezeption ausgehen. Das Bild des Erbes gilt als altbacken, hat aber einen großen Vorteil. Denn es ist unter einem Gesichtspunkt besonders prägnant: Ein Erbe steht nicht einfach für sich; es muss vielmehr angenommen, angeeignet werden und unterliegt damit Veränderungsprozessen. Das Erbe der antiken Christen war in einem gewaltigen Textcorpus gespeichert und in bestimmten Praktiken sedimentiert. Gewiss war diese Auswahl einseitig. Vieles von dem, was für Traditionen der Großkirche und des Mönchtums als gefährlich galt oder auch nur ohne Belang war, ging verloren, doch im Bewahrten begegnet noch eine beachtliche Vielfalt, was die Inhalte angeht und ebenso den Argumentationsstil. Kein Zufall ist es, dass innerkirchliche Reformbewegungen sich immer wieder auf antike, für Christen autoritative Texte beziehen konnten, seien sie in der Bibel überliefert oder außerhalb. Allerdings geht es hierbei um Potentiale, die bestimmten Texten und Praktiken von Christen innewohnen und nicht um das Wesen des Christentums, über das ich als Historiker nichts zu sagen weiß. Bezeichnend lässt sich oft Gegensätzliches mit ›dem‹ Christentum begründen – über viele Jahrhunderte wurde die christliche Religion gerade nicht als eine Frage der individuellen Entscheidung interpretiert; namentlich im Osten, etwa in Armenien oder Georgien, entstanden ferner Interpretationen christlicher Lehren, die ethnizistisch ausgerichtet waren. Wir haben es viel mit Ambivalenzen und Widersprüchen zu tun. Und dennoch: Immer wieder stießen diese Texte Individualisierungsprozesse an. Wünschenswert wäre es, die Entwicklung, Rezeption und Aneignung all dieser Punkte über die Jahrhunderte nachzuzeichnen – das übersteigt aber die Kräfte eines Einzelnen bei Weitem.
Ferner könnten typologische Gemeinsamkeiten zwischen kaiserzeitlicher und moderner Gesellschaft die Aufnahmebereitschaft verstärkt haben, in dem Sinne, dass diese Epochen gewisse strukturelle Analogien aufweisen, die ähnliche Entwicklungen induzierten. Christen gaben sich mit der Ordnung der Gesellschaft nicht zufrieden, sondern transzendierten sie gerade; wie in der Moderne galt die gegebene Gesellschaft nicht als selbstverständlich. Das konnte in Rückzug münden, aber auch in Kritik und erlaubte es dem Einzelnen immer wieder, sich unabhängig von anderen gesellschaftlichen Statuszuschreibungen zu sehen und um seine Anerkennung als religiöse Autorität zu kämpfen. Das impliziert, dass Christen einen religiösen Bereich von einem politischen unterschieden. Im religiösen Bereich galten spezifische Semantiken und Normen, es entstanden spezifische Hierarchien.
Man beobachtet mithin Ansätze zur Ausdifferenzierung eines Religionssystems, die in der Spätantike zwar erheblich reduziert, aber nicht zum Verschwinden gebracht wurden, die jedoch vor allem in verschiedener Weise gespeichert wurden und so im Sinne des Konzepts der Exaptationen zu späteren Zeiten – und durchaus nicht nur in einer Phase der europäischen Geschichte – ihre Wirkung entfalten konnten. Die Affinität zwischen Äußerungen früher Christen und solchen der Moderne lässt sich so möglicherweise durch einen Vergleich der Strukturen bestätigen, wenngleich die Gefahr groß ist, dass man es hier mit falschen Brüdern zu tun bekommt, wie es etwa im Falle der Religionsfreiheit oder der Prozeduralität zu zeigen versucht wurde.
Die Dynamik der westeuropäischen Moderne wäre demnach weniger wahrscheinlich gewesen ohne einige Semantiken, die in frühen christlichen Texten gespeichert waren und die stets schon eine nichtchristliche Vorgeschichte haben. Einige Beispiele, mehr war nicht möglich, seien angeführt: Man konnte unter Christen Neues, anderes erproben, man konnte seiner Herkunft abschwören; Polis und res publica verloren ihre Bedeutung, individuelle Entscheidungen erhielten ein neues Gewicht. Gleichheit und Freiheit, zwei Schlüsselbegriffe der Moderne, lassen sich christlich begründen. Doch das christliche Erbe besaß Gültigkeit nicht für sich allein, sondern bedurfte der Aneignung, die unterschiedlich, die sogleich widerspruchsvoll erfolgen konnte: Es gab Phasen, in denen christliche Organisationen Individualität eher unterdrückten, und solche, in denen Christen für Individualität standen. Von den frühen Christen führte mithin keineswegs ein Königsweg in die europäische Moderne. Sein Modernisierungspotential konnte das Christentum nur unter Voraussetzungen entfalten, die es selbst nicht zu garantieren vermochte.