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4.3 Offenheit für säkulare Einsichten

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Auch der dritte Punkt der reformierten Geisteshaltung, Offenheit für Weisheit und Einsicht ausserhalb der Welt von Glauben und Theologie, war Noordmans nicht fremd. Philosophie und Weltliteratur waren in seiner Bibliothek in reichem Masse vertreten. Seit dem Anfang seiner theologischen Entwicklung schrieb er über Philosophen wie Descartes, Pascal und Heidegger. Sein Gesamtwerk ist voll von Hinweisen auf grosse Literatur. Charaktere aus der Literatur kommen in seinen Werken auf zwanglose und spielerische Art und Weise vor. Sie dienen nicht dazu, der theologischen Arbeit eine kulturelle Farbe zu geben, sondern sollen die Einsicht vertiefen. Besonders Autoren wie Goethe, Cervantes, Dickens und Dostojewski werden angeführt. Ich nenne hier als Beispiel Dosto­jewski, von dessem Literatur sich Noord­mans in seiner Theologie beleh­ren lässt. Ich wähle ihn, da Noordmans bei Dostojewski die beste Illustra­tion für die Theologie von Karl Barth fand. Noordmans schreibt: «Die Charaktere in Dostojewskis Romanen sind, abgesehen von einigen Aus­nahmen, alle doppelt. Sie sind nicht Sünder oder Heilige wie bei Dickens, sondern Sünder und Heilige zugleich.» Dostojewski kennt die dunkelsten Ecken des Lebens, «aber er kennt sie zweimal, und aus dem Finstern ruft er sie auf nach ihrer ewigen Bedeutung» (VW 3, 590). Der folgende Ab­schnitt zeigt Noordmans᾿ Vertrautheit mit den Kerneinsichten aus Dos­tojewskis Romanen und macht anschaulich, wie er in jenem Licht die Theologie von Karl Barth belauscht.

«Er [Dostojewski, A.vdK.] geht ganz tief auf das Seelenleben seiner Per­­sonen ein. Er wirft das Ganze über den Haufen. Und doch zeigt er uns keine stetige Charakterentfaltung. Sie haben nicht einen Kern in ihrem Leben, einen guten oder bösen, der sich entwickelt, so dass ihre Per­sönlichkeit zu etwas Gutem oder Bösem heranwächst und sie Gott oder dem Teufel gleichförmig werden. Sie werden nicht logisch be­handelt. Nicht stetig weitergedacht. Ihr Leben ist nicht stetig.

Aber wenn Dostojewski sie gelockert hat, wie man ein Stück Land mit einem Pflug lockert, wenn man gut gesehen hat, dass es Menschen sind und nicht mehr, wenn er ihr Herz, und ich sollte fast sagen, ihr Fleisch aufgerissen hat, dann lässt er manchmal etwas geschehen, wo­rin wir mit Überraschung entdecken, dass der Mensch einen Schöpfer als Gegenüber hat, dass der Sünder einem heiligen Gott gegenüber steht und der Verlorene einem Erlöser. So beschreibt Dostojewski die |61| Menschen nicht, um sie zu vergöttlichen, sondern um Gottes Offenba­rung an ihrem Leben zu zeigen. Das ist die dialektische Methode. Wir können mit unserem Denken und Entwirren, Analysieren, nur Fragen stellen, die Wahrheit muss aus dem Jenseits kommen. Sie führt nicht vom Menschen zu Gott, sondern sie macht den Menschen erst recht zum Menschen. Sie erklärt all das Göttliche, das er in sich selbst zu ha­ben meint, für falsche Münze, sie macht alle Menschen in jeder Hin­sicht gleich, um den Grund für Gottes Offenbarung zu schaffen, für die Wirkung seines Geistes. Durch dieses Beispiel von Dostojewski ist uns jetzt wohl auch deutlich, dass die Dialektische Theologie, obschon sie selbst lebhaft argumentiert, keine Argumentier-Theologie sein will. Dialektik ist immer mehr als das ordentliche Logische, auf die Wirklich­keit gerichtet. Kierkegaard nannte es ‹existenzielles› Denken. Existenz­denken. Denn die Personen von Dostojewski werden nicht ausgedacht, auch nicht zu Ende gedacht […], sondern das Geheimnis ihrer Existenz wird so tief wie möglich ausgeschöpft. Dort irgendwo auf dem Boden der Wirklichkeit hat man dann eine Chance, etwas von Gottes Offen­barung zu sehen. Ungefähr so will auch Barth theologisieren […].» (VW 3, 620)

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