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3. Kirchen- und konfessionspolitische Argumentationsmus­ter

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Konfessionelle Selbstbestimmung diente bei Niesel vor allem der Frage nach dem, was denn Kirche sei. Dass Niesel später so vehement für die Abendmahlsübereinkünfte von Arnoldshain und Leuenberg und für die EKD als Kirchengemeinschaft – und nicht etwa nur als ein mehr oder minder losen Bund von Landeskirchen – eintrat, findet seinen Grund nicht zuletzt in den im Kirchenkampf erkämpften Positionen. Es ging gerade nicht um konfessionelle Quisquilien, sondern um die Existenz und das Sein der Kirche. Bereits in der ersten gewichtigen Äusserung der Re­formierten im Frühjahr 1933 markieren die Düsseldorfer Thesen mit ei­nem Zitat der Berner Thesen von 1528 die grundsätzliche Bedeutung der Aus­einandersetzungen: «Die heilige christliche Kirche, deren einiges Haupt Christus ist, ist aus dem Wort Gottes geboren, in demselben bleibt sie und hört nicht die Stimme eines Fremden.»39 Die bekenntniskirchli­chen Refor­mierten |82| verweigern sich einem konfessionell-strategischen Denken nach Machtanteilen innerhalb einer organisatorisch neu zu ord­nenden Kirche. Sie wollen nicht Anpassung, sondern Reformation, gehen deshalb auch nicht nur auf die veränderten gesellschaftlich-politischen Verhältnisse ein, sondern greifen in ihren Argumentationen weiter in die Geschichte des Protestantismus zurück.

In einem Vortrag vor der Ersten freien reformierten Bekenntnissynode im Januar 1934 in Barmen40 stellt Niesel fest, dass es einfach mit einem Bekenntnispostulat in der gegenwärtigen Lage nicht getan sei; andere Trennungen hätten sich aufgetan, reformatorisch-bibeltreue Kirche versus Neuprotestantismus oder deutschchristliche Häresie. Deshalb gälte: «Die Na­men lutherisch und reformiert sind heute [1934] zu Vokabeln gewor­den, die nichts sagen, wenn sie nicht erläutert werden.»41 In den Unions­ki­r­chen gab es ja bereits ein Miteinander von lutherisch, reformiert und uniert bekennenden Gemeinden. Und da sich über die Konfessions­grenzen hinweg ein neues, unter Umständen sogar gemeinsames Beken­nen abzuzeichnen begann, ging es um die «Kernfrage»: «Ist unsere Kir­che, der wir angehören, Kirche, oder ist sie es nicht? Dürfen wir in ihr die Kirche Jesu Christi glauben oder nicht?»42

Besonders innerhalb der Bekennenden Kirche wurde um ein ge­mein­­­­sames Bekennen gerungen, war es doch beispielsweise bis dahin noch nicht möglich, wäh­rend der Barmer Bekenntnissynode gemeinsam das Abendmahl zu feiern. Es entstanden etwa die beiden Schriften «Was heisst lutherisch?» von Hermann Sasse (München 1934, 21936) und «Was heisst reformiert?» von Wilhelm Niesel (München 1934), und weiter­­­ge­­­hend hat man sich inner­halb der Bekennenden Kirche auch um eine Klä­­­­rung |83| des Abendmahls­verständnisses bemüht, vor allem durch Helmut Goll­witzers grosse Studie43 und die «Abendmahlssynode» in Halle 1937.44

In seiner Schrift «Was heisst reformiert?» traktiert Niesel dann auch kaum die konfessionelle Frage, sondern klärt zahlreiche grundsätzliche ekklesiologische Fragen und schreibt die oben markierten Positionen «im heutigen Kampfe um die Kirche»45 fort. «Reformiert» im Sinne von «er­­­neu­­ert» bezieht sich stets auf die Kirche, nicht auf eine Konfession. Des­­­­­­­­­­halb fragt Niesel nach der «Regel und Richtschnur für die Erneuerung der Kir­che»: Reformiert bedeute genaugenommen «nach Gottes Wort re­for­miert». Daraus folge die unbedingte Anerkenntnis des Wortes Got­tes, «wie es uns in der Heiligen Schrift gesagt wird»46. Dabei, so Niesel, «wird […] deutlich, dass es sich beim Schriftwort letztlich um Christus han­delt»47. Auch das Alte Testament soll ganz christologisch gelesen wer­den, da es sich in beiden Testamenten um den einen Bundesgott handelt.48 In dieser Schrift wendet sich Niesel deshalb auch nicht gegen andere Kon­fessionen, argumentiert nicht konfessionell-polemisch49, sondern atta­ckiert |84| mit scharfen Worten alle Theologie und Kirchenpolitik, die nicht steil allein bei der Offenbarung ansetzt:

«Wer die Konfession als Gestalt versteht, die […] entstanden ist und sich dann in der Geschichte ausbreitet, der weiss nicht, dass Konfessio immer das Bekenntnis der einen Kirche zu ihrem Herrn ist.»50

Konfessionell bedeutet bei Niesel, jedenfalls dem eigenen Anspruch nach, bekennend zu sein, das heisst den Herrn der Kirche in dieser Welt beken­nend, nicht jedoch ein kirchenpolitisches Agieren für die Stärkung der eigenen Konfession im Sinne von Denomination. Gewiss trifft die Cha­rakterisierung Niesels zu: «Geist und Wirklichkeit des reformierten Be­kenntnisses prägen ihn [sc. Niesel].»51 Aber ein Konfessionalist war Niesel keineswegs: «Obschon Niesel seine reformierte Herkunft nie verleugnet hat, stehen konfessionelle Rechtfertigungen während des Kirchen­kampfes nicht im Vordergrund seines Interesses.»52

In Niesels Vorträgen und Schriften des Kirchenkampfes stösst man – abgesehen von den Zitaten und Anspielungen auf Johannes Calvin, den Heidelberger Katechismus und wenigen «reformierten Vätern» wie etwa Paul Geyser – auf die Entscheidungen der Bekenntnissynoden. Be­sonders rekurriert Niesel aber auf Barths Werk, so etwa – um nur ein Beispiel zu nen­nen – auf die dreifache Gestalt des Wortes Gottes aus Kirchlichen Dog­matik I/1 (§4).53 Und ganz offenkundig schliesst sich Niesel auch bei der Frage der konfessionellen Selbstbestimmung den Überlegungen Barths an, die dieser, der Shootingstar am reformierten The­o­logen­him­mel, be­reits ein Jahrzehnt zuvor geäussert hatte und damit die etablierten Re­for­­mierten einiger­massen brüskiert haben dürfte.

Zum einen ist dies Barths erster grosser Auftritt vor den deutschen Re­formierten während der Hauptversammlung des Reformierten Bundes im September 1923 in Emden. In diesem fulminanten Vortrag erklärt der junge Professor seinen vermutlich erstaunten Zuhörern, dass zeitgenössi­sche |85| Antworten auf die Frage nach «reformierter Lehre» unzureichend oder gar gefährlich seien: Ein schlichter Rückbezug auf die alten Überlie­ferungen sei die Antwort «des religiösen Heimatschützlers, des Freundes reformierter Art». Zu fordern sei aber gerade mit den «Vätern» die kriti­sche Prüfung der Lehre mit Bibel und Geist.54 Auch Niesel kritisierte «ein romantisches Reformiertentum […], das sich in der Kultivierung mancher Formen gefällt»55 und betont: nach Gottes Wort reformiert.56 Barths wählt deshalb auch den Ansatzpunkt seines Frontalangriffs vom «die refor­mierte Lehre zunächst charakterisierenden Punkt» aus, nämlich dem «Schrift­prinzip».57 Dabei pocht Barth allerdings auf ein dynamisches Ver­ständnis der Offenbarung: Gewiss gilt das Wort Alten und Neuen Testa­ments, die ganze Schrift, aber doch «nie ohne das entscheidende Wort des Geistes, aus dem sie selbst stammt».58 Und schon hier, zehn Jahre vor dem Kirchenkampf, zitiert Barth den Beginn der Berner Thesen von 152859, der dann in Texten der Bekennenden Kirche zitiert wird und auf den sich auch Niesel immer wieder bezieht. Barth sieht «[d]ie grosse Misere des modernen Protestan­tismus» dann in allen späteren Epochen der Kirchen­­geschichte bis in die Gegenwart hinein60, so wie auch Niesel das Verdikt über den Neuprotestan­tismus und alle Formen von Liberalismus ausspre­­­chen |86| kann.61 Barth fordert quasi die Wiederentdeckung der Majestät Got­­­­­­­tes und der daraus abzuleitenden Orientierung an dessen Gebot, die ty­­­­­­pisch reformiert «die Wendung von der Anschauung Gottes […] zurück zum Leben, zum Menschen und seiner Lage» mit einschliesst.62

Zum anderen: Durch Vermittlung Adolf Kellers – etwa zwei Dekaden zuvor Barths Vikarsmentor in Genf – erhält Barth den Auftrag vom Re­formierten Weltbund, für den im Sommer 1925 bevorstehenden General Council in Cardiff über «Wünschbarkeit und Möglichkeit eines allgemei­nen reformierten Glaubensbekenntnisses» nachzudenken.63 Zwei Jahre zuvor hatte Barth auf die Möglichkeit eines neuen Bekenntnisses verwie­sen64, um einer nicht an der Bibel kritisch zu messenden Erstarrung der Lehre zu wehren; er nimmt diesen Gedanken auch jetzt nicht zurück65, trägt aber nun ernste Bedenken gegen ein «allgemeines reformiertes Be­kenntnis» vor: Einerseits sei ein – reformiertes – Bekenntnis nicht die De­finition einer konfessionellen Eigenart, sondern Stimme der una sancta ecclesia, andererseits könne es kein allgemeines Bekenntnis geben, da im­mer konkret lokal und aktuell bekannt werden müsse: «Wir, hier, jetzt – bekennen dies!»66 Diese Einsichten führten dann auch zu der von Barth doch wohl positiv verstandenen «bunten unbekümmerten Krähwinkelei |87| der reformierten Konfessionen».67 Als dritten Einwand formuliert Barth die Frage, ob man wirklich um Gottes (!) willen jetzt zu reden habe, nicht jedoch aus kirchenpolitischen oder anderen Gründen.68

Deutlich dürfte durch die Hinweise auf diese beiden Vorträge Barths69 geworden sein, dass bei aller Hinwendung zur reformierten Tradition Niesel doch von Barth übernommen haben dürfte, dass es bei der konfes­sionellen Selbstbestimmung immer um die gesamte Kirche zu tun ist und |88| dass diese Bestimmung und die Erneuerung der Kirche letztlich nicht anders als allein in Gottes Offenbarung, für die der Name Jesus Christus steht, zu begründen ist. Analog zum reformierten Verständnis der Be­stimmung von «Kirche» und «Gemeinde» könnte hier formuliert werden: «Konfession» ist nicht etwa eine Teilmenge von «Kirche», sondern sozu­sa­gen ihre notwendige Form. «Kirche» existiert nicht anders als in Form von «Konfession», und in jeder «Konfession» existiert die ganze «Kirche». Nach Niesel sind «die Reformierten eine Konfession […], die keine Kon­fession sein [will]», wie er wenige Jahre nach dem Kirchenkampf resü­mieren konnte.70

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