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1. Wilhelm Niesel: Repräsentant des deutschen Reformiertentums in globalen Kontexten
ОглавлениеNur wenige Wochen vor seinem Tod im Jahr 1988 erhält Wilhelm Niesel zu seinem 85. Geburtstag einen offiziellen Geburtstagsgruss der deutschen Reformierten durch den damaligen Moderator des Reformierten Bundes, Hans-Joachim Kraus: Niesel «hat uns bewusst gemacht, was ‹reformiert› heisst: Das Wort, das Wort und nichts als das Wort!»2 Dieser Gruss spiegelt möglicherweise mehr das Selbstverständnis des Geehrten wider als die Wertschätzung, die ihm gewiss auch zukam – und natürlich haben sich die Reformierten auch unter Niesels Führung mit zahlreichen anderen Dingen |72| beschäftigt als mit dem «Wort» allein. Auf jeden Fall lässt dieser Geburtstagsgruss ahnen, dass Niesel bereits zu Lebzeiten über Jahrzehnte hin als die Personifizierung des reformierten Protestantismus in Deutschland galt und in der Retrospektive als der einflussreichste Repräsentant dieser Konfession zu identifizieren ist. Durch sein ökumenisches Engagement auf globaler Ebene und seine bald führende Mitarbeit im Reformierten Weltbund (RWB), die von seiner Präsidentenzeit 1964–1970 gekrönt wurde, wurde diese Einschätzung auch weltweit geteilt. Kaum jemand galt in der reformierten Weltfamilie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als so reformiert wie Wilhelm Niesel. Bezeichnenderwiese schrieb etwa nach Niesels Ehrenpromotion 1954 der Dekan der theologischen Fakultät Aberdeen an Niesel, er sei in Schottland willkommen, «weil Sie die reformierten Brüder aus ganz Deutschland würdig repräsentieren».3 Und so wurde aus dem «Eisernen Wilhelm», wie er respektvoll in Deutschland genannt wurde, der «Welt-Wilhelm».4
Niesel ist eine bemerkenswerte Figur innerhalb der neueren reformierten Kirchengeschichte, deren Weg zu kennen für die Beurteilung dieses zur Rede stehenden protestantischen Formats erhellend ist.
Niesel verdiente sich durch seine wissenschaftlichen Arbeiten und die persönliche Nähe zu Karl Barth seine theologischen Sporen kurz vor dem und im «Dritten Reich» und sammelte kirchenpolitische Erfahrungen – freilich bis hin zu lang anhaltenden «Traumatisierungen» – während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Führend tätig und damit auch konfessionspolitisch prägend wurde Niesel trotz seines relativ jungen Alters gleich nach 1945, also in einer «durch einen eisernen |73| Vorhang getrennten Welt»5, die er – gerade wohl auch als geborener Berliner – schmerzhaft wahrnahm. Die totalitären Diktaturen und dann die in Ost und West zerrissene Welt liessen in ihm die Gewissheit wachsen, dass die Menschen zwar «in der noch nicht erlösten Welt» (Barmen V) leben, aber Christen eben in dieser Welt die Befreiung erfahren, indem Jesus Christus Zuspruch und Anspruch auf das ganze Leben ist (Barmen II).