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4.1.2 Kritik und Würdigung
ОглавлениеHatte sich Niesel während des Kirchenkampfes an Barths Überlegungen gehalten, dass es sich bei der Bestimmung der je eigenen confessio um das richtige Bekenntnis der – einen – Kirche handelte und damit um das je aktuelle Bekennen, das sich alleine auf die Schrift zu beziehen habe, so schrieb Niesel diese klare Position auch nach 1945 fort und geriet damit nolens volens selbst in eine gewisse Kirchenkampf-Orthodoxie: Bei späteren Bestimmungen des Reformierten setzte er Barmen als normativ voraus. Die von ihm mit Selbstverständlichkeit genannten «Väter» aus der reformierten Tradition wurden je länger je abständiger. Niesel meinte damit nicht die Pluralität der reformierten Tradition, sondern lediglich diejenigen Väter, die aus seiner Perspektive mit Johannes Calvin zusammen zu denken waren. So las Niesel sowohl den Heidelberger Katechismus als auch Karl Barth fast ganz von Calvin her81 – andere reformierte |91| Stimmen fanden nahezu kein Gehör, höchstens einige Aussenseiter oder solche, die gegen aufgeklärt-liberal-moderne Theologien ins Felde geführt werden konnten, etwa Hermann Friedrich Kohlbrügge oder Paul Geyser. Niesel hatte mit dieser schroffen Theologie gute Erfahrungen im «Dritten Reich» gemacht, schaute zurück auf die «Zeit, die das Führerprinzip proklamierte», «als Christus […] sich an uns lebendig erwies».82 Diese für Niesel geschichtlich verifizierte und erfahrene Offenbarungstheologie hatte sich als Grundlage für einen klaren Widerspruch gegen häretische Theologien bewährt. Dieser Widerspruch konnte, musste allerdings nicht auch automatisch zu einem Widerspruch gegen das NS-Regime führen, wie in der historischen Analyse festgestellt werden muss. Aber es war doch mindestens ein Unbehagen gegen die Grundlagen des totalitären Weltanschauungsstaates zu spüren. So war ihm der «Kirchenkampf» geradezu die idealtypische Situation der treuen Kirche. Mit diesem Bekenntnisgestus gestaltete Niesel auch seine Kirchenpolitik während des «Kalten Krieges», denn «das Zeugnis der Bekennenden Kirche [hat] sich in all den Jahren bis auf den heutigen Tag [sc. Mai 1964] als befreiendes Wort bewährt».83 «Zeugnis» ist eine religiöse Kategorie und spielt im Zusammenhang mit der Bekennenden Kirche sicherlich nicht unabsichtlich auf martyrein an: das mit dem Leben und der Lebenshingabe bezeugte und bewahrheitete Bekennen zu Jesus Christus als dem Herrn.
Nicht, dass Niesel als Erbe der reformierten Tradition und der Bekennenden Kirche nun die «Heiligung» als zentral ansieht oder dass er dies als «Glaubensgehorsam» bestimmt, ist problematisch. Bereits sein Vortrag auf der Freien reformierten Synode in Barmen im Januar 1934 trug diese |92| Konsequenz im Titel: «Der Weg der Kirche im Gehorsam des Glaubens».84 Niesel steht damit theologisch und kirchenpolitisch in gut reformierter Tradition. Auch Niesels theologischer Lehrer Barth hatte «Glaube und Gehorsam» in seinen Vorträgen und den ersten dogmatischen Entwürfen der 1920er Jahre positiv als reformiertes Charakteristikum benannt.85 Ebenso hatte Niesels kirchenpolitischer Ziehvater Hermann A. Hesse gar ganze Jahre unter das Motto «Gehorsam des Glaubens» stellen können.86
Problematisch scheint dagegen, dass erstens der Begriff «Gehorsam» durchaus anachronistisch klingt. Wie soll dieser Begriff mit seinen Konnotationen ein Leitbegriff der theologisch-ethischen Meinungsbildung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder im dritten Jahrtausend sein können? Sachlich problematischer scheint zweitens die missverständliche Deutung, als ob einfach alle zu entscheidenden Fragen des praktischen Lebens aus dem Glauben abzuleiten wären, quasi ohne Bruch, so dass in einem permanenten Prozess des Bekennens sich zwangsläufig die Frage des status confessionis ebenso ständig stellt.87
Konfessionskundlich werden die Reformierten durchaus positiv charakterisiert, was ihre Wahrnehmung des «Wächteramtes» anlangt, allerdings:
«Der Weg von prophetischer Gesellschaftskritik zum konkreten ethischen Argument erweist sich […] als schwierig. Ein kerygmatisches Verständnis des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags und ein dialogorientiertes liegen im Streit miteinander.»88 |93|
Ethisches Urteilen muss unabdingbar die zu beurteilende Situation zunächst wahrnehmen und interpretieren. «Da sich in ethischen Urteilen ein normatives Element mit empirischer Situationseinschätzung verbindet, sind sie nicht […] linear aus theologischen Prämissen zu deduzieren.»89 Damit wird auch hinter Barths Rede von der «schnurgeraden» Herleitung ethisch-politischer Positionen ein Fragezeichen gesetzt, die er in seinen Schriften «Rechtfertigung und Recht» und «Christengemeinde und Bürgergemeinde» und anderenorts dargestellt und ausgeführt hatte.
Bei aller «Orthodoxie» glänzt allerdings bei Niesel auch ein überraschender dynamischer Zug auf, der dann eine der grossen Innovationen der reformierten Theologie und darüber hinaus werden sollte. Der typisch reformierte Zug zu den Taten aus dem Glauben wird nicht etwa nur rechtfertigungstheologisch und daraus abgeleitet über den tertius usus legis erklärt, sondern eschatologisch:
«[U]nser unvollkommener täglicher Dienst [ist] eingeordnet […] in die neue Schöpfung, die der wiederkommende Herr heraufführen wird. Weil das geschehen wird, weil der wiederkommende Christus der gequälten Menschheit die Erlösung bringen wird, können wir heute nicht nur voller Zuversicht zur vergebenden Gnade Gottes unser Tagwerk tun, sondern auch voller Freude auf die Vollendung in Christus.»90
Wer denkt bei einer solchen theologischen Begründungsumkehrung nicht sofort an Jürgen Moltmann? Moltmann und Niesel haben interessante Berührungspunkte gehabt. So erinnert sich Moltmann an die gemeinsam mit Niesel an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal verlebte Zeit, wo er selbst zunächst vor allem theologiegeschichtliche Vorlesungen hielt – entsprechend der Themen seiner akademischen Qualifikationsarbeiten –, um sich nach einigen Jahren auch der aktuellen Debatte zuzuwenden:
«1963/64 trug ich dann meine Theologie der Hoffnung in Wuppertal und zugleich in Bonn vor […] Wilhelm Niesel ermahnte mich, er sei hier |94| [sc. in Wuppertal] der Vertreter für die reformierte Theologie, ich solle mich auf die Theologiegeschichte beschränken.»91
Niesel war möglicherweise auch wegen des universitären Erfolgs des jungen Kollegen etwas verschnupft. Interessanter ist jedoch, dass der alte Haudegen diese theologische Neukonzeption Moltmanns als reformiert identifizieren konnte. Ob Niesel mehr als andere gesehen hat, dass Moltmanns mutiger Entwurf auch auf dem Hintergrund von dessen theologiegeschichtlichen Studien zu sehen ist, in denen er sich nicht zuletzt der reformierten Föderaltheologie gewidmet hatte?92 Auch weiterhin begleitete Wilhelm Niesel den fast eine Generation jüngeren Jürgen Moltmann eher mit Wohlwollen: «Niesel blieb mir gleichwohl wohlgesonnen, auch wenn ich ihm nicht astrein aus reformierten Holz geschnitzt erschien.»93 |95|