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5. Noordmans’ Beitrag zur Theologie des 20. Jahrhunderts: der kritische Schöpfungsbegriff
ОглавлениеJeder von Noordmans verfasste Text ist ein Beispiel von Traditionsbildung im Kontext des 20. Jahrhunderts. Der innovativste Punkt dieser Traditionsbildung ist, wie gesagt, Noordmans᾿ Erneuerung des Schöpfungsbegriffes. In diesem Begriff konzentriert sich seine Aufmerksamkeit auf das |64| Wirken des Geistes als Spiritus Creator. Noordmans führt ein neues theologisches Denken ein, in dem die Schöpfungslehre, die Lehre vom Heil in Christus und die Lehre von der Neuschöpfung im Verständnis des Wirkens des Geistes gründen. In diesem Wirken des Geistes ist das Kritische und Schöpferische des Gotteswortes in der Welt wirksam. Der Schöpfungsbegriff hat Noordmans zufolge seine Herkunft nicht in einer Erfindung (er ist nicht «thetisch»), sondern in einem Urteil (es ist «kritisch»).23 Schöpfen ist, so Noordmans, nicht etwas herstellen, sondern scheiden.
Gott ist kein Töpfer, weil er Gefässe herstellt und modelliert, sondern weil Er scheidet zwischen dem einen und dem anderen Gefäss (Röm 9,21). Schöpfen ist Scheiden, kein Formen. Gott ist Geist, und Er wirkt durch Urteile. (VW 255)24
Der kritische Schöpfungsbegriff besagt, das Gott in dieser Welt das Dämonische und das Humane auseinanderhält (was in menschlicher Ethik immer durcheinandergerät) und auf diese Weise das Menschenleben zu Gottes Zukunft, zu Gottes Reich, führt und darin bewahrt. Neuschöpfung im Geist ist damit keine Restauration (wie im Neocalvinismus), sondern ein neues Werk Gottes im Geist. Die Arbeit des Geistes ist göttlicher Unterricht, um Menschen zu lehren, was Schöpfung ist. Dieser Unterricht fängt Noordmans zufolge in der Nähe des Kreuzes Jesu Christi an.
In «Neuschöpfung» sieht man, wie Noordmans die Schöpfung als einen Lichtpunkt rund um das Kreuz beschreibt und damit ein urchristliches Motiv aufnimmt, das den Akzent der Reformation auf der theologia crucis verstärkt. Gleichzeitig vermeidet er damit, dass diese – wie in der erfahrungsorientierten Theologie des 19. Jahrhunderts – auf ein Wort reduziert wird, das nur das Innere des Menschen berührt. «Christus anhaften», die grundlegende Geisteshaltung, die Gerrish bei Calvin verdeutlichte, bekommt hier ihre tiefe Bedeutung.
«Die Schöpfung, die die Wissenschaft behandelt, ist nicht die eigentliche Schöpfung. Sie ist eine Abstraktion. In der wahren Schöpfung begegnen wir der Sünde und dem Leiden und dem Tod, die zum Jesus |65| des Apostolischen Glaubensbekenntnisses passen […] Wenn wir die Schöpfung nicht als ein abgeschlossenes Ganzes nehmen, sondern sie eng mit Christus verbinden, so wie wir das Evangelium mit dem Heiligen Geist in Verbindung bringen, dann wird sie kein düsteres Chaos oder ein selbstherrlicher griechischer Kosmos, sondern ein Lichtfleck rund um das Kreuz. Und in diesem Fleck wird dann die Sünde offenbar […]. Dass Schöpfung ein kritischer Begriff ist, lehrt uns die Bibel selbst. Sie beginnt damit, aber ohne uns weiter etwas davon zu erzählen. Sie sagt nur, dass alles gut war. Damit haben wir dann einen Massstab in Händen, um zu erkennen, dass alles gefallen ist […].» (VW 2, 245f.)
Im Reden über Neuschöpfung wird unterstrichen, dass erst in der Nähe des Gekreuzigten offenbar wird, was Schöpfung ist. Noordmans nennt die Worte Jesu am Kreuz «Schöpfungsworte». Sie reden von einer Welt, die ex nihilo geschaffen wird. Ein Mörder wird eingeladen ins Paradies. Theologisch ist hier gesagt, dass der erste Satz des Glaubensbekenntnisses, nämlich: «Ich glaube an Gott dem Schöpfer», vom zweiten her ausgelegt werden muss. Mit dieser Umstellung stellt sich Noordmans gegen ein unfruchtbares Ursprungsdenken und gegen eine ungebrochene Schöpfungstheologie, wie er sie im Neocalvinismus von Abraham Kuyper antraf. Diese Umstellung ist laut Noordmans aufgenommen in einer trinitarischen Bewegung: «Die Evangelien verkündigen uns ein neues trinitarisches Werk, und von Golgotha her sehen wir die Schöpfung besser als vom Paradies her.» (VW 2, 412)
Wenn man sehen will, was geschieht, wenn ein Theologe mit einem Schöpfungsbegriff arbeitet, der seine Bedeutung vom Kreuz her bekommt, dann muss man Noordmans᾿ Meditationen lesen (VW 8). Dort sieht man den Begriff «wirken». Sein Schöpfungsbegriff (lies: seine Neuinterpretation des altkirchlichen Dogmas) ermöglicht Noordmans eine neue Perspektive auf den Text der Bibel. Noordmans liest diese Texte auf die Zukunft hin. Er zeigt das Schöpferische im Text. Als Beispiel sei hier hingewiesen auf eine Meditation zu Gen 12,1 mit dem Titel «Der fahrende Ritter». Der fahrende Ritter ist Abraham, dessen Profil hier gezeichnet wird im Vergleich mit Don Quichotte aus Cervantes’ Roman (vgl. meine Bemerkungen oben in 4.3). Noordmans unterstreicht Abrahams Umherstreifen und seine Grosszügigkeit gegenüber seinem Neffen Lot. Wir hören: |66|
«Abrahams Leben richtet sich vollständig auf das andere Land, das Gott ihm zeigen wird. Eigentlich lesen wir von ihm keine Lebensgeschichte. Es ist vielmehr eine Geschichte seines Glaubens. Als Lebensgeschichte kannst du mit einer Kugel hindurchschiessen. Ganz anders als bei seinem Enkel Jakob. Wir kennen Abrahams Leben nur als ein Skelett. Er tut nichts anderes, als sich zu trennen. Sich trennen von seinem Vater, von seinem Neffen Lot (Gen 13,9), von Hagar (Gen 21). Was sind das für leere Räume, die dazwischen entstehen? Wie soll man sie nennen? […] Abraham hatte seinen Frieden damit. Er war sich der Dynamik dieser leeren Räume in seinem Leben bewusst. Er wusste, dass Gott leere Räume braucht, um schaffen zu können, und dass es sich mit dem Glauben genauso verhält. Darin fand er den Mut, sich immer wieder zu trennen. Abraham wird der Vater der Gläubigen genannt. ‹Der Glaube aber ist die Grundlegung dessen, was man erhofft, der Beweis für Dinge, die man nicht sieht› (Hebr 11,1). […] Abraham blieb in der Leere, d. h. im Glauben […].» (VW 8, 183f.)25
Die erzählte Geschichte weist uns nicht zurück in eine Urzeit, sondern nach vorn zum Leser in der eigenen Zeit. Die Geschichte erzählt von einer Möglichkeit des Menschseins, einem Menschsein, das durch Treue bestimmt ist. So setzt die Geschichte den Leser auf die Spur dessen, was gut ist und Zukunft hat.
Auch diese Meditation ist Traditionsbildung. Man spürt hier Noordmans᾿ Liebe zur Romantik. Diese äussert sich in der Aufmerksamkeit für die Partikularität. Man findet das vor allem in Noordmans᾿ Hinweisen auf konkrete Ereignisse in der erwähnten Genesisgeschichte: den (nicht angenommenen) Schuhriemen (Gen 14,23); das Nichtgebundensein eines Menschen an Zeit und Raum. Aber Noordmans bleibt nicht im Romantischen stecken. Inmitten dieser Konkretheit steht die Entdeckung, was Glauben ist: Leben in der Leere, offen für die Stimme, die spricht. Diese Leere ist von Gott. Und damit steht sie der nihilistischen und existentialistischen Leere entgegen, in der der Leser sich befindet. Es ist eine Erzählung |67| darüber, wie das neue Menschsein zustande kommt, und damit sagt sie noch einmal etwas Wichtiges zum Thema reformierte Identität.
Fazit: Mit seinem pneumatologischen Ansatz hat Noordmans einen wichtigen Beitrag zum Durchdenken des Themas «Reformierte Identität» geliefert. Wie erwähnt ist in seinem theologischen Denken die Anthropologie in der Pneumatologie aufgenommen. Reformierte Identität heisst: dynamische, geistgewirkte Identität. Sie entsteht in der Glaubensentscheidung, mitten im Leben – die aktive Seite. Sie zeigt die schöpferische Wirkung des Gotteswortes im Leben des Menschen und der Welt – die passive Seite. Der pneumatologische Ansatz besagt, dass der Mensch viel mehr ist als eine (aristotelisch/cartesianisch verstandene) Selbstreferentialität, weil er im Kraftfeld des Geistes existiert, Christus anhaftend: königlich, prophetisch, priesterlich. Reformierte Identität heisst beteiligt sein an der Neuschöpfung, der Umsetzung aller Dinge – der Geburt von Gottes Welt.
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