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2.1 Ansichten über verfälschte Realitäten
ОглавлениеDie deutschen »Werkstätten für behinderte Menschen« sind wie Schimären1. Hinter dieser seltsamen Beschreibung versteckt sich ein ebenso seltsamer Typ von Produktionsstätten.
Die Schimäre »Werkstatt« besteht aus mehreren ungleichen Bestandteilen. Ihren Kopf hat sie in der Regel von einem nicht staatlichen Verband des Sozialsektors. Ihre Strukturen formen sich aus Fabrikteilen unterschiedlicher Wirtschaftsepochen. Immer wieder imitiert sie Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation. Die in ihr Arbeitenden trennt sie in Mitarbeiter_innen und Beschäftigte. Die einen haben volle Arbeitnehmerrechte und erhalten in der Regel Tariflohn. Die anderen aber, die große Mehrheit in den »Werkstätten«, sehen den Arbeitnehmern nur ähnlich. Ihnen zahlt die Werkstatt ein Taschengeld von bundesweit durchschnittlich nicht einmal 200 Euro. Die einen wählen ihre Interessenvertretung nach dem weitreichenden Arbeitsrecht: Betriebsräte, Personalräte oder die kirchlichen Mitarbeitervertretungen. Den anderen dagegen wird ein separater »Werkstatt«-Rat zugestanden. Der berät nicht etwa die »Werkstatt«. Seine Tätigkeit hat keine gestaltenden Auswirkungen auf die grundlegenden »Werkstatt«-Strukturen. Ein »Werkstatt«-Rat hat weniger Rechte als die Arbeitnehmervertretungen; nur gerade so viele, wie politisch opportun erscheint.
Ihr Aussehen wandeln die »Werkstätten« je nachdem, was sie selbst und andere zu sehen wünschen. Mal erscheinen sie als »moderner, konkurrenzfähiger Industriebetrieb« (BT-Drs. 13/2440, 1995, 26), mal im Gegensatz dazu als Rehabilitationseinrichtung. Mal beklagen die arbeitsbegleiteten Dienste in den Werkstätten die unzureichende oder gar fehlende erwachsenenpädagogische Kompetenz in ihren Einrichtungen (Weber 2002, 62/63).2 Mal kritisieren Werkstattleitungen ein Zuviel an Pädagogik. Mal treten »Werkstätten« als leistungsstarke Marktteilnehmerinnen auf, mal als schutzbedürftige, im wirtschaftlichen Wettbewerb benachteiligte Sondereinrichtungen. Mal erkennt ein Politiker in ihnen die schlimme Ausbeuterin ihrer Beschäftigten,3 und mal sieht eine Politikerin sie als heimattreue, erfolgreiche Wirtschaftsakteurin.4
Trotz ihrer widersprüchlichen Gestalt bezweifelt kaum jemand in der Politik die Existenzberechtigung solcher »Werkstätten« (kurz: WfbM). Selbst zaghafte Kritik wird oft mit dem entschuldigenden Bekenntnis relativiert: »Natürlich bin ich nicht generell gegen Werkstätten.« In einem scheinen sich die offenen und die verschämten Befürworter der »Werkstätten« einig: Die dort Tätigen will die Erwerbswirtschaft nicht haben. So wird die Sonderwelt der »Werkstätten« der scheinbar einzig richtige Ort für immer mehr behinderte Menschen. »Lieber glücklich in einer WfbM arbeiten als unglücklich arbeitslos«, werben »Werkstatt«-Eigentümer für ihre Enklaven.5 Die Wochenzeitschrift »DER SPIEGEL« dagegen titelte: »Wie ein Mensch zweiter Klasse.«6
Dennoch bestätigt die Bundesregierung immer wieder: Diese Sonderwelt wird »auch zukünftig nicht grundsätzlich in Frage gestellt. […] Die Regierung plant deshalb nicht, Ausstiegsstrategien zu entwickeln« (s. BT-Drs. 18/7467, 2016, 5 und 19/4157, 2018, 24). Entsprechend wird dieses ungeheuerliche, ständig wachsende Mischwesen gefüttert: mit Geldern von der Bundesagentur für Arbeit, mit Milliardenzuschüssen aus dem Bundeshaushalt für die Rentenbeiträge, aus Mitteln der Ausgleichsabgabe und überwiegend mit fast 20 Millionen Euro an jedem einzelnen der 250 Arbeitstage aus dem Sozialhilfeetat.7
Gegenüber sozialen Abschiebeeinrichtungen kritisch eingestellte Experten sind sich in einer Bewertung einig: »Werkstätten« sind Orte der Absonderung. Der heutige Leiter des Fachbereichs Eingliederungshilfe II beim Landschaftsverband Rheinland, Dieter Schartmann, wies schon 1999 darauf hin: »Eine Werkstatt […] ist als ein weiterer Baustein in einer Systematik der gesellschaftlich betriebenen […] Ausgrenzung behinderter Menschen erkannt worden.« Schartmann urteilte vor mehr zwanzig Jahren: »Die Arbeit in einer Werkstatt als berufliche und soziale Integration zu bezeichnen, […] ist somit ein gedankliches Paradoxon und ein Euphemismus, mit dessen Hilfe die Realität verfälscht wird.«8