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2.5 Inklusion braucht couragiertes Handeln und neue Wege
ОглавлениеEine grundlegend inklusionsverpflichtete Weiterentwicklung unseres sozialen Rechtsstaates verlangt energische, verantwortungsvolle und zukunftsorientierte politische Maßnahmen. Diese müssen das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes ebenso ernst nehmen wie die entsprechenden Bestimmungen im Gesetz zum UNO-Übereinkommen und in den übrigen Antidiskriminierungsnormen. Politische Absichtserklärungen gibt es zurzeit zur Genüge; ebenso Rechtsnormen, deren Wirkungslosigkeit, gewollt oder ungewollt, schon vorprogrammiert ist – in der Regel aufgrund der Einflussnahme durch die Einrichtungsträger und ihre Interessenverbände. Behindert wird eine solche überfällige Entwicklung vor allem durch die fehlende politische Handlungsbereitschaft. Dabei wäre es schon ein kleiner Schritt in Richtung eines inklusionsorientierten Arbeitsmarktes, hätte z. B. das seit 2013 SPD-geführte Bundesarbeitsministerium den Antrag seiner Bundestagsfraktion von 2012 verwirklicht. Sie wollte u. a. die Ausgleichsabgabe auf bis zu 750 Euro erhöhen »und Menschen mit Behinderung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen« (BT-Drs. 17/9931, 12.06.2012, S. 1, 4). Doch stattdessen wurde die ausschließende Sonderwelt der »Werkstätten« auf Drängen der Arbeits- und Sozialministerkonferenz noch um ein »Werkstatt«-light-Modell erweitert. Sie nannte es »andere Leistungserbringer« (ASMK 2009, 8).27 Für diesen neuen Typus von Sondereinrichtungen wurde im SGB IX kein zutreffender Eigenname gefunden. Hier heißen sie »andere Leistungsanbieter« (§ 60 SGB IX).
Neben der berechtigten Kritik an den »Werkstätten« und ihrer fortwährenden Expansion ist auch die Einstellungspraxis der Erwerbswirtschaft zu kritisieren. Um deren gesetzliche Einstellungspflichten durchzusetzen, sind couragierte politische Maßnahmen notwendig, darunter u. a.
• die Beschäftigungspflicht für alle Arbeitgeber ab zehn Arbeitsplätzen;
• die Wiederherstellung der Beschäftigungspflichtquote von sechs Prozent der Arbeitsplätze;
• das regionale Zuteilungsrecht der Arbeitsverwaltung und Integrationsämter zur Verwirklichung der Beschäftigungspflicht;
• die verstärkte Wirksamkeit der gesetzlichen Ausgleichsabgabe durch einen wesentlich höheren Betrag für jeden nicht besetzten Pflichtarbeitsplatz;
• alle Betriebe, die ihre Beschäftigungspflicht erfüllen, müssen staatlicherseits unterstützt, finanziell und steuerlich entlastet werden, gerade die, die mehr als die pflichtgemäßen Arbeitsplätze mit behinderten Menschen besetzen.
Die Ausgleichsabgabe hat eine doppelte Funktion. Sie will dazu motivieren, behinderten Arbeitnehmer_inne_n Arbeitsplätzen bereitzustellen. Dafür bietet sie finanzielle Hilfe an. Arbeitgeber, die ihre Einstellungspflichten nicht erfüllen, müssen einen finanziellen Ausgleich leisten, ohne dass sie sich von ihrer Beschäftigungspflicht freikaufen können. Doch die Wirksamkeit dieses ausgleichenden Instruments muss weiter verbessert werden. Die finanziellen Mittel der Ausgleichsabgabe sollten zukünftig nur zur Beschäftigung behinderter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingesetzt werden. Aufträge an Werkstätten dürfen nicht weiter dazu genutzt werden können, um sich der Pflicht zur Zahlung der Ausgleichsabgabe zu entziehen.
Immer wieder hört und liest man über neue Wege, die die Politik zu bauen und zu gehen gedenkt, um Menschen mit Beeinträchtigungen eine »nachhaltige gesellschaftliche Inklusion« zu ermöglichen.28 Doch keiner dieser offiziellen Wege führt die »Werkstatt«-Beschäftigten hinaus auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Deshalb ist es an der Zeit, neue Instrumente zu entwickeln, zu erproben und rechtlich festzuschreiben. Einige davon sind bereits durch das Gesetz zum UNO-Übereinkommen, das Bundesteilhabegesetz und in den verschiedenen Rechtsnormen gegen Benachteiligung erkennbar. Doch es gehört die politische Entschlossenheit dazu, die weitere, auf Ausdehnung angelegte institutionelle Förderung der »Werkstätten« zu beenden. An Aussagen, Willenserklärungen und streitbaren Auseinandersetzungen im Bundestag mangelt es nicht.29
Mit der Sozialhilferechtsreform von 1996 wird seit sieben Legislaturperioden darüber debattiert, ob und wie das überhandnehmende Wachstum der »Werkstätten« beendet werden kann. Den stärksten Druck auf die Bundespolitik übten seit 2007 die Konferenzen der Arbeits- und Sozialminister aus. Jahrelang forderte die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK),
• den Automatismus beim Wechsel aus der Förderschule in die »Werkstätten« zu beenden;
• die Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern und
• die Teilhabe behinderter Menschen am regulären Arbeits- und Erwerbsleben weiterzuentwickeln.30
Die ASMK wiederholte immer wieder und immer nachdrücklicher ihre Forderung, das sog. Eingliederungssystem grundlegend zu reformieren: »Die Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben müssen flexibilisiert und personenzentriert ausgestaltet und stärker auf eine Vermittlung in Betriebe des ersten Arbeitsmarktes ausgerichtet werden.«31
Bis heute wird im Bundestag eine zutiefst widersprüchliche Diskussion geführt. Darin ringen sich die Bundesregierung und die Abgeordneten der jeweiligen Regierungsparteien stets die Erklärung ab, am bundesweiten »Werkstätten«-Netz nicht sparen zu wollen. Die Forderungen der Länder-Arbeitsminister sind dagegen bis heute nicht erfüllt: Es »sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen nachzubessern. Für den Leistungsträger sind sowohl Anreiz- als auch Sanktionsmöglichkeiten vorzusehen.«32 Die Bundespolitik dreht sich im Kreis. Das wundert letztlich nicht, stehen ihr doch bei einer konsequent inklusionsgerichteten Politik zahlreiche und machtvolle Gegner gegenüber: die Wirtschaft und die Eigentümer der rd. 3.000 »Werkstätten« mit ihren Verbänden. Längst sind die deutschen Trägerorganisationen der »Werkstätten« europaweit zu den größten Konzerninhabern im Dienstleistungssektor für behinderte Menschen geworden. Sie dominieren den Markt für Sondereinrichtungen vom Kindesalter an bis zu den Senioreneinrichtungen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der »Werkstätten« hat ihren Mitgliederkreis inzwischen erweitert. Nach ihrer Satzung von 2017 organisiert sie auch Förderstätten und alle Sondereinrichtungen wie die sog. Inklusionsbetriebe und die »anderen Leistungsanbieter« (§ 2).33 So gestalten und prägen die »Werkstatt«-Träger eine bundesweit ausgedehnte Sonderwelt. Die kann wegen ihrer inzwischen kolossalen Ausmaße kaum noch mit den vorhandenen politischen Mitteln inklusiv umgestaltet werden.