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»Sozusagen aus dem Hinterhalt.« Heinrich Greving, Bernhard Sackarendt, Ulrich Scheibner

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Dieses Buch steht auf dem imaginären Index der unstatthaften Bücher. Es konnte allerdings von keiner Zensur verboten werden. Denn in den üblichen Vorverfahren erging es unserem Buch wie dem weltberühmten Werk des »Freien Herrn Knigge« von 1788 »Über den Umgang mit Menschen«: Ideologische und politische Gründe für ein Verbot gab es damals genug. Immerhin wandte sich Adolph (von) Knigge (1752–1796) entschieden gegen das herrschende Welt- und Menschenbild im Feudalismus, gegen die haltlose Vormacht des Adels, gegen Ungerechtigkeit und Unterwürfigkeit. An Vorwürfen gegen den Autor mangelte es nicht: Die Darstellungen wären einseitig, unausgewogen und leisteten der Insubordination Vorschub. Doch triftige Sachgründe für ein Verbot konnte die Zensur letztlich nicht finden. Das geschah 1820, zweihundert Jahre vor unserem Buch.

Bei unserem »Werkstätten«-Buch war es eher eine Art von Selbstzensur, die die Arbeit erschwerte: Zunächst stellte ein Autor aus dem Führungskreis der »Werkstatt«-Träger nach siebenjähriger Zusammenarbeit seine Mitarbeit am Buch ein. Eine so kritische Auseinandersetzung mit dem »Werkstätten«-System war seine Sache nicht. Dann zog sich ein früherer Ministerialangestellter ohne nähere inhaltliche Begründung zurück. Zwei ehemalige Lehrkräfte befürchteten Nachteile für ihre behinderten Angehörigen, falls sie als Fachleute in diesem Buch mit ihren Namen genannt würden. Darauf baten uns Vertreter der staatlichen Kostenträger und die meisten »Werkstatt«-Leitungen, die uns beraten hatten, auch nicht namentlich erwähnt zu werden. So bekam unser Vorhaben etwas Untergründiges und unser Dank für die hilfreiche Mitarbeit der Ausgeschiedenen den Charakter eines Nachrufes.

Die uns vorgetragenen Besorgnisse werfen ein Licht auf eine undemokratische Streitkultur im »Werkstätten«-System. Betriebsräte und »Werkstatt«-Räte bestätigen uns, dass »Werkstatt«-Leitungen enormen Druck durch ihre Verweigerungshaltung aufbauen können. Das haben wir selbst u. a. durch die Ablehnungen von Abdruckgenehmigungen thematisch zutreffender »Werkstatt«-Fotos erfahren müssen. Und das, obwohl alle bei den »Werkstatt«-Leitungen nachgefragten Fotos im Internet zu finden sind. Gern hätten wir z. B. das Foto aus der »Lebenshilfe-Werkstatt« Hamm wiedergegeben. Es zeigt das rückwärtige Bild von »Werkstatt«-Beschäftigten, die am Lebenshilfe-Fließband ihre stereotype und ermüdende Arbeit verrichten. Die vorgeschobene, schlecht konstruierte Absage des Geschäftsführers passt dazu: »Wir lehnen dies aber ab, da auf dem Foto einige Mitarbeitende eindeutig zu erkennen sind.« Von Millionen, die das Internet nutzen.


Abb. 1: Adolph Freiherr von Knigge, deutscher Schriftsteller und Aufklärer. Auf das »von« hat er seit 1789 verzichtet.

Wir empfehlen solchen – hoffentlich nicht repräsentativen – »Werkstatt«-Vertretern den kurzen Artikel von Dieter Rucht: »Demokratische Öffentlichkeit als kritische Öffentlichkeit «.1 Eine seiner Kernaussagen lautet:

»Neben allen ihren sonstigen Funktionen muss kritische Öffentlichkeit also Umstrittenes kritisch prüfen, d. h. Behauptungen über Sachverhalte nachgehen, Positionen und Vorschläge im Lichte von Argumenten und Gegenargumenten abwägen, Geltungsansprüche nach dem Maßstab ihrer Schutzwürdigkeit und Verallgemeinerbarkeit bestätigen oder aber zurückweisen« (Rucht 2011, 98).

Um dieses Buch einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen, wollten wir den Ladenpreis erschwinglich halten. Dafür hatten wir schon frühzeitig potentielle Spender und Sponsoren angesprochen. Die ersten 10.000 Euro sagte uns 2011 eine Landesarbeitsgemeinschaft der »Werkstätten« (LAG WfbM) zu. Allerdings nur gegen Gewinnbeteiligung. Doch kurz nach dem Vertragsabschluss mit dem Verlag nahm der LAG WfbM-Vorstand sein Zahlungsversprechen


Abb. 2: Unbekannter Künstler 1819/1820. Text auf der Schrifttafel in der Mitte: »Wichtige Frage welche in heutiger Sitzung bedacht wird: Wie lange möchte uns das Denken wohl noch erlaubt bleiben?« © Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst, Hannover.

wieder zurück. Unser Buchprojekt schien womöglich kein günstiger Werbeartikel zu sein. Schließlich brachte unsere Spendenkampagne doch einen Erfolg: Die Volkswagen AG stellte uns 5.000 Euro zur Verfügung, die der Geschäftsführer einer großen Trägerorganisation für uns einige Jahre bis zur Manuskripterarbeitung aufbewahrt hatte. Später übergab er unsere Buchspende an jene LAG WfbM. Wir hatten dann noch ein halbes Jahr darum ringen müssen, damit das Geld zu guter Letzt auch tatsächlich dem Verlag zur Verfügung gestellt wird. »Honi soit qui mal y pense« lässt sich so ins Deutsche übersetzen: »Ein Schuft, der Böses dabei denkt.«

Diese Hürden liegen inzwischen hinter uns. In der Courage, sie zu überwinden, ließen wir uns durch die Worte eines früheren Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft der »Werkstätten« (BAG WfbM) bestärken: Günter Mosen (Jg. 1951) hatte einem aus dem BAG WfbM-Vorstand ausscheidenden Kollegen und dem damaligen Bundesgeschäftsführer mit auf den Weg gegeben, ihre kritische Haltung auch zukünftig öffentlich kundzutun:

»Dabei meine ich, Menschen am Ende oder nach dem aktiven Berufs- oder Verbandsleben sind in besonderer Weise ›theoriefähig‹. Theorie meint dabei: Sehen und sagen, wie es ist. Theoriefähigkeit ist dementsprechend die Fähigkeit, unbeeindruckt von irgendwelchen Illusionen zu sehen und zu sagen: So ist es« (Mosen 2007).

Sehen und sagen wie es ist. Das beherzigen wir mit unserem Blick auf die »Werkstätten«-Szene und beschreiben die Tatsachen in diesem Buch. In den Dankesworten des damaligen BAG WfbM-Vorsitzenden an die vor ihrer Pensionierung stehenden Leitungskräfte forderte Günter Mosen zu kritischen Aussagen auf:

»In dieser Lebensperiode des ›Zukunftsschwunds‹ gibt es keine Kompromisse, keinen Konformismus. Bis dahin erlaubt sich mancher ja nur das anzumerken und zu sagen, was die eigenen Vollendungen und das eigene Werk nicht gefährdet und die Handlungsfähigkeit nicht beeinträchtigt: was einem die Zukunft nicht allzu unangenehm macht, z .B. womit man nicht zu vielen Leuten (einschließlich unserer selbst) auf die Füße tritt. Der Blick auf die Wirklichkeit ist bis dahin darum leicht anfällig für Illusionen, denn er ist durch die Zukunft bestechlich. Diese Bestechlichkeit nimmt ab, wenn das Ende der Dienst- oder Amtszeit naht, weil immer weniger Zukunft bleibt. Darum kann man immer ungehemmter sagen, was ist: vor allem auch das, was einem nicht in den Kram passt« (ebd.).

Wir hätten uns sehr gewünscht, wenn sich die verzagten Fachleute, die uns in den vergangenen Jahren unterstützt haben, diese ermutigenden Worte des BAG WfbM-Vorsitzenden zu eigen gemacht hätten:

»Man braucht in dieser Periode nicht mehr den Wagemut der Jugend, um auch Unangenehmes zu sagen, weil nicht mehr genügend Zukunft bleibt, um wieder getreten werden zu können. Das kann man ausnutzen: Man kann ungehemmt schreiben und reden und dadurch zuweilen schamlos offen sein. Das radikalisiert den weisen Eméritus. Das ist quasi eine Traumsituation. […] Nutzen Sie die wunderbare Chance, sozusagen aus dem Hinterhalt der sogenannten passiven Phase und des Überlebens, sich zur Zukunft der Arbeit von Werkstätten und Verbänden im Spiel der Politik mit der Unbestechlichkeit Ihres Wortes zu äußern« (ebd.).

Diese Chance haben wir mit unserem Buch genutzt: Unbestechlich zu sagen, was ist und wie es werden muss. Zwei frühere Spitzenpolitiker wollten daher lieber nicht in einem Vorwort zum heutigen »Werkstätten«-System Stellung nehmen. Niemand setzt sich freiwillig ins Wespennest. Darum enthält dieses Buch keine relativierende Einleitung von Prominenten aus dem Politikbetrieb. Stattdessen hat uns der ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe (Jg. 1956), seine Erfahrungen und seine persönliche Bewertungen aufgeschrieben. Vor seinem Beitrag steht indes das Wort eines »Werkstatt«-Beschäftigten, der seit Jahren um das Selbstverständliche kämpft und dafür auch die Gerichte angerufen hatte: André Thiel (Jg. 1981) rang um sein Recht, als Arbeitnehmer anerkannt zu werden und den gesetzlichen Mindestlohn zu erhalten. Er steht an erster Stelle der Autoren. Man merkt seiner Darstellung über die Wirklichkeit in seiner Sonderwelt an, wie seine Hoffnung auf grundlegende Veränderungen der inklusionswidrigen Realität schwindet. Dennoch ist er zum Widerstand gegen die alltäglichen Behinderungen bereit. Seine Reformvorschläge sind ganz besonders an die Abgeordneten seiner Partei im Deutschen Bundestag gerichtet. Seine Unermüdlichkeit ist vorbildlich, seine zunehmende Radikalisierung nachvollziehbar.

Auf andere Weise ein Vorbild war und ist uns der erste gewählte Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der »Werkstätten«, Wilfried Windmöller (Jg. 1938). Seine kritische, geschichtsbewusste Reflexion und seine Überlegungen zur Zukunft der »Werkstätten« haben wir als eine Art Schlussstein ans Ende unseres Buches gestellt. Seine Biografie, seine Leistungen und seine Erkenntnisse über Fehler im Ringen um die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen sind ein eigenes Buch wert. Die Worte eines seiner Nachfolger im Ehrenamt des BAG WfbM-Vorsitzenden scheinen wie auf ihn gemünzt:

»Die Unbekümmertheit, die Freiheit von Zwängen und Rücksichten, befördert noch einmal ein kreatives Interesse an Veränderungen – ganz anders als es uns das Bild eines unbeweglichen, nur auf den engen Umkreis des eigenen Erlebens konzentrierten Alters vermittelt. Die Lebensfreude jener Menschen, die ihre Lebensplanung noch einmal ganz neu in die Hand nehmen, vermag dies ebenso zu illustrieren wie das Alterswerk mancher Künstler, das einen radikalen Neuanfang in ihrer Biographie setzt« (Mosen ebd.).

Für unser Buch haben wir viel von früheren Beauftragten der Landesregierungen für die Belange behinderter Menschen gelernt, vornehmlich von Karl Finke (Jg. 1947), Niedersachsen, und Ottmar Miles-Paul (Jg. 1964), Rheinland-Pfalz: Aufrichtigkeit, Beharrlichkeit, Entschlossenheit und Geradlinigkeit. Ihnen muss der frühere Beauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, geradezu aus dem Herzen sprechen, wenn er die »Werkstätten« als Schimären charakterisiert ( Kap. 2). Wie alle Autoren dieses Buches tritt auch er im Alltag vorbehaltlos für die Inklusion behinderter Menschen ein. Jede Benachteiligung einer einzelnen Person, bei der er um Rat und Hilfe gebeten wird, fordert ihn heraus. Den Begriff »Einzelfallhilfe« hält er schon deshalb für falsch, weil es keine Einzelfälle sind, die an ihn herangetragen werden: »Die Missachtung elementarer Menschenrechte ist im ›Werkstätten‹-Bereich systembedingt.«

Zu den führenden »Werkstatt«-Experten in unserem Autorenkreis gehören Rainer Knapp (Jg. 1944), Herrenberg, ehem. Sindelfingen, und Franz Wolfmayr (Jg. 1953), Gleisdorf (Oststeiermark/Österreich). Der Baden-Württemberger Fachmann hat sein Menschenbild stets offen dargelegt und im Berufsleben konsequent vorgelebt. An seiner Kritik gegenüber Instanzen, die Menschen mit Beeinträchtigungen bevormunden, hat er nie Zweifel aufkommen lassen. Sein Standpunkt:

»Die Begleitung und Förderung behinderter Menschen ist ausschließlich darauf auszurichten, Fähigkeiten und Kompetenzen so zu unterstützen, dass eine selbständige Gestaltung der Lebensführung ermöglicht wird. Dies schließt Fremdbestimmung aus wirtschaftlichen oder Organisationsgründen ebenso aus wie unterschiedliche Wertvorstellungen, Anforderungen oder Erwartungen Dritter. In der Umsetzung bedeutet dies, dass eine stringente Ausrichtung an den Erwartungen und Bedürfnissen der behinderten Menschen Vorrang haben muss vor den Interessen und Organisationsbedürfnissen jeglicher Institution.«

Sein österreichischer Kollege Franz Wolfmayr kritisiert die scheinbar machtvollkommene und überhebliche Haltung deutscher Träger von Wohn- und »Werkstätten«.

»Da hieß es oft: Wir sind stark genug, wir brauchen keine Vergleiche mit anderen, wir sind hier diejenigen, die den Ton angeben. […] Die Organisationen vergleichen sich nicht mit dem internationalen Standard, und die politischen Systeme fangen damit langsam erst an, etwa mit Studienreisen« (Wolfmayr 2017).

Er gehört zu den wenigen Experten, die von sich sagen können, dass sie die verschiedenen Teilhabesysteme für behinderte Menschen mit besonderen Erschwernissen in ganz Europa kennen.

In den Medien Österreichs wird Franz Wolfmayr ebenso hohe Anerkennung gezollt wie bei den europäischen Leistungsanbietern für behinderte Menschen.

»Eine Vielzahl an Berufen seien Kennzeichen für das Wirken von Wolfmayr: Für einen Beruf, den Sonderschullehrer, hat er den offiziellen Abschluss. Für die anderen Berufe machte er die Meisterprüfung im praktischen Leben – als Professor, Politiker, Gärtner und Gartenarchitekt, Pfarrer und Hirte war er Steiermark weit, österreichweit und auf europäischer Ebene tätig« (Kuckenberger 2015).

Als langjähriger Präsident des Europäischen Dachverbandes der Dienstleistungsanbieter für Menschen mit Beeinträchtigungen (EASPD) hat Franz Wolfmayr erfolgreich Alternativen zu den traditionellen »Werkstätten«-Systemen mitentwickelt.

Alle Autoren unseres Buches sind sich einig: Die Werkstätten für behinderte Menschen, wie sie seit 2001 im deutschen Recht genannt werden, sind eine großartige Erfolgsgeschichte – zu ihrer Zeit gewesen. Denn sie haben in den 1980er und 1990er Jahren dazu beigetragen, einen bis dahin weitgehend »unsichtbaren« Bevölkerungsteil sichtbar zu machen. Sie haben nicht zuletzt durch die rechtlich verankerten »Werkstatt«-Räte mitgeholfen, dass sich gerade bei Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit und Selbständigkeit entwickeln konnten. Doch »Werkstätten« dieser Art hat der Gesetzgeber als Absonderungseinrichtungen konzipiert. Daran und an der mangelnden Reformbereitschaft hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert. »Werkstätten« waren und sind fester Bestandteil eines komplexen gesellschaftlichen Systems, das als Sonderwelt existiert und dem Theresia Degener (Jg. 1961) vier wesentliche bundesdeutsche Entwicklungsetappen zuordnet (dies. 2015, 55 ff.):

• 1945–1970: behinderte Menschen sind der »unsichtbare« Teil der Bevölkerung;

• 1970–1980: behinderte sind erst Objekte, dann Subjekte des Rehabilitationssystems;

• 1980–2000: behinderte Menschen werden zu Menschenrechtsobjekten;

• seit 2001: behinderte Menschen werden zu Menschenrechtssubjekten.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) hält das »Werkstätten«-System für menschenrechtlich bedenklich. Es ist nach wie vor patriarchalisch strukturiert, von der »Obrigkeit« finanziert und inklusionspolitisch disqualifiziert. Die in ihm Beschäftigten sind im »Werkstatt«-Leben immer noch Objekte der sog. Leistungserbringer, eine Art Geldboten und weiterhin keine Menschenrechtssubjekte. Das hauptsächlich macht die »Werkstätten«-Szene anachronistisch. Ihr heutiger »Werkstätten«-Typus ist historisch überholt.

Winsen a. d. Aller/Münster/Spelle, den 16. April 2021

Heinrich Greving

Bernhard Sackarendt

Ulrich Scheibner


Abb. 3: Anachronismus: »Es ziemt dem Untertanen nicht, die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen.« Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688).

1 siehe Dieter Rucht, promovierter Honorarprofessor für Soziologie, Freie Universität Berlin, Kurz-URL (22.01.20): https://t1p.de/9e57

Werkstätten für behinderte Menschen

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