Читать книгу Werkstätten für behinderte Menschen - Группа авторов - Страница 7
1 Freiheit, die ich meine … André Thiel
ОглавлениеJa, ich weiß: Der Text meiner Überschrift ist nicht von mir. Er stammt aus dem politischen Gedicht von Max von Schenkendorf (1783–1817). Das und mehr darüber findet man bei Wikipedia. Ab und zu wird das Freiheitslied noch heute gesungen. Beide sagen mir etwas, das Gedicht und der Dichter. Damals ging es um die Befreiung von der Fremdherrschaft. Schenkendorf war ein sehr politischer Mensch und hat sich für seine Ideen starkgemacht. Das haben wir gemeinsam. Das macht ihn mir sympathisch. Er hatte sich in einer Freimaurerloge organisiert. Ich war Mitglied einer Partei, die sich Inklusionspartei nennt.
Schenkendorf konnte nach einem Duell seine rechte Hand nicht mehr bewegen. Dadurch war er ziemlich beeinträchtigt. Auch das bringt ihn mir nahe. Ihm hätte man nach heutigen Maßstäben vielleicht einen Grad der Behinderung von 50 zuerteilt. In meinem Ausweis steht ein Grad von 70. Mir fehlt keine Hand. Dafür habe ich mit beiden Händen so meine Schwierigkeiten. Wenn ich ihre Bewegungen koordinieren will und muss, ist das sehr anstrengend. Der Grund ist meine Beeinträchtigung. Sie heißt Athetose und fordert mich täglich zum Duell zwischen meinem Willen und meinen Bewegungen.
Der »Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen« schreibt über die Athetose: »Medizinischer Fachbegriff für eine Bewegungsstörung mit unwillkürlich ausfahrenden Bewegungen. Die Bewegungsausführung erscheint nicht fließend, sondern überschießend.« Die meisten Menschen mit Athetose haben noch weitere Auffälligkeiten und Beschwerden, z. B. spastische Lähmungen, epileptische Anfälle, Seh-, Hör- und Sprechstörungen. Vieles davon beeinträchtigt mich auch. Das macht mein gesamtes Leben beschwerlich. Außerdem weiß ich, dass die Athetose zu einer Rückentwicklung meiner körperlichen Kräfte führen kann. Auch meine mentale und psychische Kondition kann betroffen werden. Vor dieser Entwicklung fürchte ich mich. Und vor Depressionen.
Doch im Vergleich mit Schenkendorf gibt es noch einen ganz großen Unterschied zwischen ihm und mir: Obwohl er beeinträchtigt war, wurde er nicht behindert. Für seine soziale Karriere brauchte er keine Barrieren zu überwinden. Sein beruflicher Werdegang war kein Hürdenlauf. Dennoch war sein Freiheitsdrang nicht erfolgreich. Die deutsche Geschichte verlief anders. Auch mein Freiheitsdrang ist noch nicht erfolgreich. Denn trotz meiner schulischen Entwicklung und zahlreicher Fort- und Weiterbildungszertifikate wurde ich an eine Werkstatt für behinderte Menschen gebunden. Wie die Geschichte für mich weitergeht, kann ich nicht wissen. Mit Galgenhumor sage ich mir: Schenkendorf ist nur 34 Jahre alt geworden. Ich aber gehe stramm auf die Vierzig zu.
Abb. 4: Maximilian von Schenkendorf, Stahlstich ca. 1818
Diesen Text habe ich selbst erarbeitet und formuliert. Dabei habe ich mich von Vorbildern anregen lassen. Bei den Gesetzen wurde ich von Fachleuten beraten. Und die Quellen wurden mir herausgesucht und zusammengestellt. Selbst schreiben konnte ich vom Manuskript allerdings nur die Gliederung, die Stichworte dazu und meine Kommentare zu den Entwürfen. Denn ein Manuskript hat sehr viel Text. So viel kann ich auf der PC-Tastatur nicht selber tippen. Da spielen meine Hände und deren Abstimmung nicht mit. Doch den Umgang mit einer Tastatur habe ich gelernt und beherrsche ihn auch. Denn nach dem Abschluss meiner Mittleren Reife habe ich die Berufsschule mit dem Notendurchschnitt 2,7 abgeschlossen. Die IHK-Prüfung im Ausbildungsberuf »Bürokraft« habe ich dann mit 2,8 bestanden. Danach begann meine lange Odyssee: die Suche nach einer richtigen Arbeitsstelle. Wie bei den Irrfahrten des Odysseus war das ein jahrelanger Umweg. Er führte durch ein Berufsbildungswerk, ein Berufsförderungswerk, ein Praktikum bei einem Kurierdienst und ein Praktikum zur »betriebsnahen Qualifizierung für Behinderte«. Das war bei einem Verein mit dem hoffnungsvollen Namen »Lebenstraum«. Mein Lebenstraum war allerdings ein
Abb. 5: Körperliche Beeinträchtigung durch Athetose
ganz anderer. Denn danach folgte noch ein sogenanntes betriebsnahes Training. Diese vielen Etappen waren für mich und für den Staat nicht umsonst. Ich habe eine Menge gelernt. Der Staat hat eine Menge Geld für mich ausgegeben. Doch anders als Odysseus habe ich meinen Heimatstrand noch immer nicht gefunden. Die vorläufig letzte Insel, auf der ich am 1. Juni 2011 gestrandet war, heißt »Werkstatt für behinderte Menschen«. Hier hoffte ich auf wirksame Hilfe zur Weiterreise in die Erwerbswirtschaft. Bisher war meine Hoffnung vergebens.
Ich gehöre nicht in eine »Werkstatt«. Und doch bin ich ein typischer »Werkstatt«-Beschäftigter. Denn zwei Merkmale sind auffallend für unsere »Werkstätten«: die große Vielfalt unter ihren Beschäftigten und eine beträchtliche Anzahl, die eigentlich auf den Arbeitsmarkt wechseln könnte. »Werkstatt«-Beschäftigte haben ganz unterschiedliche Beeinträchtigungen mit ganz verschiedenen Auswirkungen. Die Unterschiede sind gut zu erkennen, selbst für Besuchsgruppen: Die einen klotzen bei der Arbeit richtig rein. Im Metallbereich und der Palettenproduktion geht es um Leistung. Andere sitzen versunken an ihren Arbeitstischen. Dazwischen gibt es alle nur denkbaren Formen der Mitarbeit. Bei wirklich echter personenbezogener Förderung könnten viele von uns ins richtige Arbeitsleben wechseln. Aber meine Erfahrung ist: Im Erwerbsleben sind wir nicht gewollt. Dort haben wir und unsere »Werkstätten« noch keinen so guten Ruf. Die Wirtschaftsunternehmen trauen uns einfach zu wenig zu. Sie kaufen sich beim Staat lieber mit einer preiswerten Ausgleichsabgabe von der Pflicht frei, auch uns eine Chance im Erwerbsleben zu geben. Wo also gehören wir eigentlich hin?
Es scheint widersprüchlich, wenn ich sage: Ich war nicht ungern in dieser »Werkstatt« in Halle an der Saale. Hier fühlte ich mich sicher und nicht überfordert. Aber am richtigen Platz fühlte ich mich nicht. Durch die ehemalige Mitarbeit in »meiner Inklusionspartei« weiß ich, dass ich solche Bedingungen auch in einem Wirtschaftsbetrieb finden könnte. Denn die sind eigentlich verpflichtet, uns einzustellen (§ 155 SGB IX) und ihre »Arbeitnehmer zu schützen und zu fördern« (§ 75 Abs. 2 BetrVG). Sie haben ausdrücklich unsere Eingliederung und
Abb. 6: André Thiel, Halle a. d. Saale
die »besonders schutzbedürftiger Personen zu fördern« (§§ 80 Abs. 1, 88, 92 BetrVG). In einem Artikel der Wochenzeitschrift DIE ZEIT las ich etwas Richtiges und Herausforderndes über Inklusion. Das hatte ein Theologe geschrieben. Es ist jetzt Teil meiner Weltanschauung geworden:
»Echte Chancengleichheit, und zwar auch für nicht behinderte Verlierer im Bildungssystem und im Arbeitsmarkt, erfordere […] eine Überwindung von Konkurrenz und Leistungsdenken – und damit womöglich des Kapitalismus. Denn Konkurrenz laufe nun einmal auf Ausgrenzung und nicht auf Solidarität hinaus. […] Statt Benachteiligte wie Behinderte oder auch Bildungsverlierer erfolglos in die dominierende gesellschaftliche Funktionslogik hineinzuzwängen, sollte man besser diese Logik aufgeben. Das schließe auch die Wachstumsgesellschaft und die allgegenwärtige Fixierung auf den Faktor Erwerbsarbeit ein« (Ekardt 2015).
Ich mochte nicht daran denken, bis zu meiner Altersrente noch mehr als ein Vierteljahrhundert in einer »Werkstatt« zu arbeiten. Mir war klar, dass ich bald den Absprung finden musste. Sonst habe ich gar keine Chancen mehr auf dem Arbeitsmarkt. Man sagt mir, das sei Träumerei. Darum habe ich viele Fragen an die Abgeordneten in den Parlamenten und an die Regierungen:
• Warum wollen uns die Arbeitgeber nicht, obwohl ihnen der Staat das Geld für angepasste Arbeitsplätze, für Nachteils- und Minderleistungsausgleich gibt?
• Warum wollen uns die Betriebsräte und Schwerbehindertenvertretungen nicht, obwohl wir nach besten Kräften arbeiten?
• Warum verpflichtet der Staat die Unternehmen nicht, die bestehenden Gesetze einzuhalten und uns zu sich ins Erwerbsleben aufzunehmen?
• Warum machen sich die Gewerkschaften nicht für uns stark?
• Und ganz ehrlich: Was ist das für eine »Inklusionspartei«, die unsere Teilhabe am üblichen Erwerbsleben nicht auf ihrer Tagesordnung hat?
• Wäre denn die »Werkstatt« für meine weitere berufliche Entwicklung zuständig, und könnte sie das leisten? Anders gefragt: Was muss anders werden in unserer Gesellschaft und bei unseren »Werkstätten«?
Ich habe viele Fragen an die politisch Verantwortlichen. Aber das sind meine zwei wichtigsten:
• Wo gehören wir Menschen mit Beeinträchtigungen hin?
• Was muss anders werden bei unseren »Werkstätten«?
Eine der schönsten Antworten auf meine Frage, wohin wir behinderte Menschen gehören, hatte die Bundesregierung gegeben. Sie beschrieb 2018, wie sie das Gesetz zum UNO-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verwirklichen will. In ihrem »Zwischenbericht zum Nationalen Aktionsplan« heißt es: »Das Ziel […] ist die Inklusion und Teilhabe der Menschen mit Behinderungen. Danach sollen sie ein selbstbestimmtes Leben in der Mitte einer inklusiven Gesellschaft leben können ohne jedwede Diskriminierung« (BT-Drs. 19/5260, 2018, 3). Bei so schönen Worten werde ich sehr sensibel. Denn das Schlimme daran ist, dass sie so betörend klingen wie die berüchtigten Sirenengesänge in der Odyssee: »selbstbestimmtes Leben«, »in der Mitte einer inklusiven Gesellschaft«, »ohne jedwede Diskriminierung«. Mich hatten solche Gesänge in eine Hallenser »Werkstatt« gelenkt.
Ich bin ein politisch aktiver und organisierter Mensch. Darum hatte ich mich an die Bundestagsabgeordnete Angelika Glöckner gewandt. Immerhin ist sie in meiner früheren Partei die »Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung«. In meinem Brief vom 11.10.2019 an diese Abgeordnete schreibe ich u. a.: »Gleichwertige Lebensbedingungen für uns Menschen mit Beeinträchtigungen sind noch in weiter Ferne. Über Chancengleichheit, Dazugehörigkeit, Einbeziehung und Teilhabe wird viel geredet. Jetzt müssen weitere Taten folgen.« Am 14.11.2019 antwortete die Beauftragte per E-Mail. Sie beschrieb, was die Partei schon alles für uns getan hätte. Und dann schrieb sie: »Lassen Sie mich abschließend sagen, dass es für mich und für meine Partei, die SPD, sehr wichtig ist, dass jeder Mensch mit Behinderung Teilhabe erfahren kann.« Offen gesagt, wäre eine solche Teilhabe-Erfahrung für mich noch wichtiger als für diese Partei. Angelika Glöckner schrieb noch: »Dafür haben wir bereits viel getan und werden auch in Zukunft diesen Weg fortsetzen.«
Mit dieser Antwort vertröstet sie mich auf die Zukunft. Doch meine Zukunft liegt inzwischen hinter mir. Schon die Hälfte meines Berufslebens wurde mir durch immer neue Absperrungen, Barrieren und Umleitungen verbaut. Nach meiner Berufsausbildung im Jahr 2004 wurde mir jegliche tatsächliche berufliche Inklusion versperrt. Mein Leben ist nun mal begrenzt. Darum ist es für mich so wichtig, dass heute, dass jetzt etwas getan wird – für mich und für all die anderen mit Beeinträchtigungen, die nicht länger nur von Inklusion hören wollen. Parteipolitische Werbesprüche helfen nicht, unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft inklusiv zu gestalten. Ständig auf später vertröstet zu werden, ist kein Trost. Wann also und wohin kann ich meinen Weg fortsetzen? Das Beste wird sein, ich verlasse die »Werkstatt«, sobald ich in wenigen Monaten Anspruch auf Erwerbsminderungsrente habe. Und genau das habe ich inzwischen entschieden.
Eigentlich hatte ich mir von der SPD-Beauftragten Angelika Glöckner erhofft, sie würde mir ein Stück von meinem Lebenstraum erfüllen. Dafür hätten schon einige Sätze mit guten politischen Ideen genügt. Ich hatte von ihr politische Zusagen für Maßnahmen erwartet, die uns bei der Inklusion weiter voranbringen. Eigentlich hätte mir die SPD-Parlamentarierin die folgenden fünf Antworten schreiben müssen:
1. Ja, wir politisch Verantwortlichen sind auch der Meinung, dass schon eine kleine Umstellung im Grundgesetz manches verbessern würde. Darum greifen wir die guten Vorschläge zum Artikel 3 GG auf und ändern ihn so:
(1) Alle Menschen sind gleichberechtigt und vor dem Gesetz gleich.
(2) Der Staat fördert die Durchsetzung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern und trifft Maßnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen und Behinderungen.
(3) Die Bestimmungen nach Absatz 2 gelten für alle Menschen, die wegen ihrer Abstammung, ihrer religiösen oder politischen Anschauungen, ihrer Beeinträchtigungen, ihres Glaubens, ihres Geschlechtes, ihrer Heimat und Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer Sprache benachteiligt oder behindert werden.
2. Ja, wir politisch Verantwortlichen sind auch der Meinung, dass wir noch viel tun müssen, um die Gleichberechtigung durchsetzen. Dafür werden wir z. B. das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbessern:
– Wir werden die »Werkstätten«, ihre Beschäftigten und die »Werkstatt«-Träger ausdrücklich in diesem Gesetz nennen. Und zwar besonders im § 6 AGG (Persönlicher Anwendungsbereich).
– Wir werden auch § 8 AGG verbessern. Darin steht etwas über »zulässige unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen«. Dieser Paragraf braucht einen neuen Absatz 3, und zwar so: »Eine Benachteiligung von Personen mit Beeinträchtigungen ist nicht zulässig. Das Benachteiligungsverbot gilt besonders für die Beschäftigung besonderer Gruppen beeinträchtigter Menschen nach § 155 SGB IX.«
– Und auch § 12 AGG (Maßnahmen und Pflichten des Arbeitgebers) muss verbessert werden. Dafür muss Absatz 1 um einen dritten Satz ergänzt werden: »Zum Schutz vor Benachteiligungen haben Werkstätten nach § 219 SGB IX die Beschäftigten nach § 220 SGB IX für den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu qualifizieren und den Wechsel sicherzustellen.«
3. Ja, wir politisch Verantwortlichen sind auch der Meinung, dass wir für die Durchsetzung und Ausführung der Gesetze verantwortlich sind. Das gilt besonders dringend für die Gesetze, die die Inklusion voranbringen. Dazu gehören vor allem
– eine verantwortungsvollere Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber (§§ 154 ff. SGB IX), dabei müssen die Betriebe der öffentlichen Hand und die Behörden mit gutem Beispiel vorangehen;
– eine verbindliche Pflicht zur Beschäftigung besonders beeinträchtigter Personen (§ 155 SGB IX): Die Arbeitsagentur und die Integrationsämter müssen das Recht bekommen, arbeitssuchende Personen mit Beeinträchtigungen den privaten und öffentlichen Arbeitgebern zuzuweisen;
– die Zahlung einer angemessen hohen Ausgleichsabgabe für jeden nicht besetzten Pflichtplatz (§ 160 SGB IX). Die muss in ihrer Höhe der gesellschaftlichen Verantwortung der Erwerbswirtschaft entsprechen.
4. Die Beschäftigungspflicht muss in Zukunft für alle Arbeitgeber gelten, die über mindestens zehn Arbeitsplätze verfügen. Und sie müssen mindestens zehn Prozent davon für beeinträchtigte Menschen bereitstellen. Arbeitgeber dürfen die Bewerbung von beeinträchtigten, ausreichend qualifizierten Arbeitnehmer_innen nicht ablehnen. Sie sollen freie Arbeitsplätze bevorzugt mit beeinträchtigten Personen besetzen müssen. Sonst sollen sie eine Ausgleichsabgabe bezahlen. Die muss sich an der Höhe des gesetzlichen Mindestlohnes orientieren. Und wie bisher müssen sie ein Bußgeld bezahlen (Ordnungswidrigkeit nach § 238 SGB IX). Das Bußgeld soll künftig mindestens 5.000 Euro betragen. Es sollte bis auf 25.000 Euro erhöht werden können. Die Bundesagentur für Arbeit, die Integrationsämter und die Integrationsdienste müssen verpflichtet werden, solche Ordnungswidrigkeiten anzuzeigen und zu veröffentlichen.
5. Ja, wir politisch Verantwortlichen sind auch der Meinung, dass angepasste, beeinträchtigungsgerechte Arbeitsplätze zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes gehören. Das muss verpflichtend werden.
– Darum muss § 164 SGB IX über die Pflichten der Arbeitgeber und die Rechte beeinträchtigter Menschen verbindlicher formuliert werden. Dafür muss z. B. Absatz 3 um einen neuen Satz 2 ergänzt werden: »Bei der Gestaltung der Arbeitsplätze und der Arbeitsabläufe sind die Bedürfnisse der Personen mit Beeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei gelten die Grundsätze der menschengerechten Gestaltung der Arbeit nach dem Arbeitsschutzgesetz.«
– Die Arbeit, die Arbeitsabläufe und die Arbeitszeiten sind menschengerecht zu gestalten. Als Vorlage für eine gesetzliche Regelung kann § 12 der Verordnung in der Binnenschifffahrt dienen. Dort gibt es beispielhafte Bestimmungen über den Arbeitsrhythmus, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz. Als Muster können aber auch so ähnliche Paragrafen wie die
– im Betriebsverfassungsgesetz (§§ 90, 91 BetrVG) und
– im Jugendarbeitsschutzgesetz (§ 28 JArbSchG) helfen.
Jetzt kann ich auf meine wichtigste Frage antworten, die für mein Leben so bestimmend ist: Wo gehören wir Menschen mit Beeinträchtigungen hin? Wenn wir einen Arbeitsplatz in der Erwerbswirtschaft wünschen, gehören wir genau dort hin: in einen üblichen Betrieb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Dafür gibt es schon seit langem eine gesetzliche Grundlage: den wichtigen § 155 SGB IX. Allerdings brauchen wir dann einen menschengerechten Arbeitsplatz. In einem Dokument des Bundestages betont die SPD: Der Arbeitgeber habe die Pflicht, seine Arbeitnehmer zu schützen und ihnen einen menschengerechten Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen (BT-Drs.18/12990, 2017, 4). Das Thema ist überhaupt nicht neu. Damit hatte sich der Bundestag sogar schon lange vor meiner Geburt befasst, besonders intensiv 1980: Humanisierung des Arbeitslebens, menschengerechte Gestaltung der Arbeitsbedingungen (PlPrt. 08/217, 1980, 17426 ff.). Und warum ist das für uns, für mich noch immer nicht geschehen?
Wir Menschen mit Beeinträchtigungen suchen nach solchen Arbeitsplätzen wie nach der berühmten Nadel im Heuhaufen! Für die »Werkstatt«-Beschäftigten gibt es sie nicht. Denn sie müssten unsere unterschiedliche Leistungsfähigkeit berücksichtigen. Sie müssten uns Möglichkeiten zur Weiterentwicklung geben. Sie müssten unsere Begabungen und Fähigkeiten berücksichtigen. Und es müssten Arbeitsplätze mitten im üblichen Arbeitsleben sein. Es ist ein Armutszeugnis für unsere Politik und Wirtschaft, dass wir wie Bettler vor den Toren des Arbeitsmarktes stehen. Auch dazu fällt mir der heimgekehrte Odysseus ein … Und: Für angepasste Arbeitsgestaltung gibt es doch finanzielle Zuschüsse (siehe z. B. §§ 50, 185 Abs. 3 SGB IX). Also los!
Unter einer inklusiven Arbeitswelt stelle ich mir einen offenen Zugang ins Erwerbsleben vor. Auch für mich! Und für alle »Werkstatt«-Beschäftigten, die das wollen. Das steht übrigens schon im Artikel 27 des Gesetzes zum UNO-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Danach haben wir »das gleiche Recht […] auf Arbeit; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und […] zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird.« Und weiter: Bundestag und Bundesregierung »sichern und fördern die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit, einschließlich für Menschen, die während der Beschäftigung eine Behinderung erwerben, durch geeignete Schritte, einschließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften«.
Man muss diesen Artikel nur genau und vollständig lesen – und dann verwirklichen.
Bundestag und Bundesregierung haben ein großes Versäumnis zu verantworten: Sie hatten bei der Ausarbeitung des Bundesteilhabegesetzes 2016 niemandem die ausdrücklichen Verpflichtungen auferlegt, uns den Übergang ins Erwerbsleben zu ermöglichen. Die Wirtschaft wurde zu nichts verpflichtet, die Kostenträger wurden zu nichts verpflichtet und die »Werkstatt«-Träger auch nicht. Alles blieb in dieser Sache beim Alten. Niemandem wurde die Pflicht auferlegt, uns »Werkstatt«-Beschäftigten einen Platz im üblichen Arbeitsleben zu garantieren. Dabei wollten doch alle, dass sich die Belegschaftszahlen in den »Werkstätten« verringern. Mit der Bundesregierung stöhnten besonders die zuständigen Arbeitsminister_innen in den Ländern über zu hohe »Werkstatt«-Kosten.
Abb. 7: Johann H. W. Tischbein (1751-1829), Odysseus als Bettler (1818/19). © Hamburger Kunsthalle / bpk
Das kann man seit 2007 in den Protokollen der Arbeits- und Sozialministerkonferenzen nachlesen. Dabei ist die Sache doch so einfach: Die Gesetze, die die »Werkstätten« betreffen, müssen an das Gesetz zum UNO-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (G-UNÜRMB) angepasst werden. Ganz besonders die Artikel 5, 12, 19, 24, 26 und 27 müssen das »Werkstätten«-Recht im SGB IX verbessern. Das gilt auch für die Werkstättenverordnung (WVO). Solche Reformen sind längst überfällig. Dabei müssen zwei Gedanken im Mittelpunkt stehen:
• Die »Werkstätten« müssen uns Beschäftigte die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, die wir heutzutage brauchen, um in Erwerbsbetrieben nicht nur Handlanger oder Hilfsarbeiter zu werden. Das hat keine Zukunft. Sonst können wir schnell von Robotern ersetzt werden, bevor wir noch richtig angefangen haben zu arbeiten.
• Die »Werkstätten« müssen bei uns auch die Bereitschaft wecken, dass wir Beschäftigte gern auf einen geeigneten Arbeitsplatz der Erwerbswirtschaft wechseln wollen.
Unsere »Werkstätten« müssen also zu tatsächlichen Rehabilitationseinrichtungen werden. Das heißt:
• Die Zeit für unsere Bildung und Ausbildung muss mindestens auf die übliche Ausbildungszeit festgelegt werden: drei Jahre und nicht wie bisher nur auf zwei Jahre.
• Es muss bei Bedarf eine Verlängerung der Ausbildungszeit möglich sein.
• Bildung, berufliche Bildung, Fort- und Weiterbildung müssen auch im Arbeitsbereich stattfinden.
• Dauerarbeitsplätze für die allermeisten Beschäftigten darf es nicht mehr geben. Sie müssen zur Ausnahme werden.
• Und wir dürfen nicht länger Arbeitnehmer_innen zweiter Klasse sein! Alle im Arbeitsbereich der »Werkstätten« müssen den vollen Arbeitnehmer-Status haben.
• Die Anforderungen an die »Werkstatt« dürfen nicht geringer sein als an die Rehabilitationseinrichtungen. Der für sie zuständige § 51 SGB IX ist wirklich gut!
• Schließlich müssen die »Werkstätten« unsere Lust und Freude am Wechsel ins Erwerbsleben nach Kräften fördern und für den Vermittlungserfolg die Arbeitsagentur, das Integrationsamt und die Integrationsdienste konsequent einspannen.
In meinem Wunschtraum sind die »Werkstätten« echte Übergangseinrichtungen. Dafür sind die Bedingungen noch nicht gut genug. Ich nenne zwei besondere Hindernisse, die mir und vielen »Werkstatt«-Beschäftigten den Wechsel ins übliche Erwerbsleben verderben: