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2.3 Die politische Weichenstellung in Richtung »Sonderarbeitswelt«

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Bis in die 1990er Jahre wurde die Ausgrenzung und Isolation jener Menschen kaum thematisiert, die wegen ihrer Beeinträchtigung keinen Zugang zur Erwerbswirtschaft hatten. Wesentliche Verbesserungen waren in der Regel finanzieller Art und auf das Engagement der Sozialverbände zurückzuführen. In denen waren aber überwiegend Kriegsopfer organisiert. Weder die gesellschaftlich einflussreichen kirchlichen Verbände noch die politischen Parteien hatten sich als »Anwälte der Behinderten« in Bezug auf mehr gesellschaftliche Teilhabe besonders ausgezeichnet.18 Mit dieser Kritik musste 1999 auch die SPD als Regierungspartei unter Bundeskanzler Gerhard Schröder zurechtkommen. Dieser senkte sogar den Druck auf die Arbeitgeber, behinderte Menschen einzustellen: Die sog. »Pflichtquote«,die gesetzlich vorschreibt, einen bestimmten Prozentsatz der Arbeitsplätze mit »schwerbehinderten Menschen« zu besetzen, wurde von 6 auf 5 % reduziert.

Die politischen Entscheidungen waren aber im Grunde bereits Anfang der 1960er Jahre gefallen – eindeutig zugunsten eines Sondersystems »Werkstätten für Behinderte«. Zunächst wurden diese »Werkstätten« – wie zuvor schon das unauffällige System der »Blindenwerkstätten« – von der Umsatzsteuer befreit (BT-Drs. 04/1590, 1963, 45). Dann erhielt die damalige Bundesanstalt für Arbeit durch das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 den gesetzlichen Auftrag, »den Aufbau, die Erweiterung und Ausstattung von Werkstätten« mitzufinanzieren (§ 61 Abs. 1 AFG). Zu einer umfassenden Sonderwelt entwickelte sich dieses »Werkstätten«-System schließlich aufgrund des Aktionsprogramms der Bundesregierung von 1970: »Anzustreben ist ein möglichst geschlossenes System von Einrichtungen, das alle Teilbereiche der Rehabilitation einbezieht: […] Werkstätten für Behinderte, wo diejenigen arbeiten können, für die der freie Arbeitsmarkt nicht oder noch nicht zugänglich ist« (BT-Drs. 06/643, 22).

Die Abschiebung beeinträchtigter Menschen in Sondereinrichtungen war seit den 1960er Jahren das für fortschrittlich gehaltene gesellschaftspolitische Konzept. Es gipfelte 1970 im Aktionsprogramm der Bundesregierung, in dem ein gigantisches Sondersystem vorgestellt wurde: »über die Spezialeinrichtungen für bestimmte Behinderungsarten und die Ausbildungs- und Umschulungsstätten bis hin zu den Sonderkindergärten und Sonderschulen und den Werkstätten für Behinderte« (BT-Drs. 06/896, 1970, 16). Die Sonderarbeitswelt der Werkstätten war eine praktikable und politisch konfliktfreie Lösung, wenn auch eine sehr teure. Sie entsprach dem damals weit verbreiteten Zeitgeist und dem Menschenbild. Organisationen, die für sich in Anspruch nahmen, die Interessen behinderter Menschen zu vertreten, ernteten Lob im Bundestag für ihre aktive Mitarbeit an dieser abgeschlossenen Sonderwelt, voran die Bundesvereinigung Lebenshilfe. Sie war damals und ist bis heute die größte Trägerin der meisten Werkstätten. Der inzwischen beklagte Automatismus, mit dem behinderte Schulabgänger_innen in die »Werkstätten« verwiesen werden, galt dem Bundestag damals als anerkennenswert: »Die intensive Arbeit der Lebenshilfe und die Entwicklung der Sonderschulen haben eine große Zahl geistig behinderter Kinder vorbereitet, so dass sie nunmehr in […] Beschützenden Werkstätten aufgenommen werden können« (PlPrt. 06/64, 1970, 3524D).

Dieses Konzept ließ sich politisch gut und erfolgreich öffentlich präsentieren: Die politisch Verantwortlichen redeten nicht nur, sondern handelten; sogar die Opposition beteiligte sich. Jede neue Regierung setzte diese Politik der Absonderung fort. Mit großem Engagement unterstützten die Nicht-Regierungsorganisationen den separierenden Sonderweg, wurden dabei Großeigentümer eines gewaltigen Immobilienvermögens und Großunternehmer mit zehntausenden von Angestellten. Die Arbeitswelt jedoch, in die die behinderten Menschen geschickt wurden, war nicht die übliche Erwerbswelt. Es war die abgeschiedene, benachteiligende Sonderwelt der »Werkstätten« nach dem gesellschaftlichen Vorbild der großen Anstalten des 19. Jahrhunderts. Gerade Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen blieben außerhalb des Blickfeldes der Bevölkerung. Übergänge aus den »Werkstätten« ins Erwerbsleben waren nicht vorgesehen. Die wurden erst 1996 zur Pflichtaufgabe der »Werkstatt«-Träger,19 nach dem sich die Arbeits- und Sozialministerkonferenz jahrelang gegen die wachsenden Kosten des »Werkstätten«-Sektors gewehrt hatten. Statt der grundsätzlichen Öffnung des »Werkstätten«-Systems in die Gesellschaft und den allgemeinen Arbeitsmarkt gab und gibt es für die Öffentlichkeit immer wieder mal »Tage der offenen Tür« – als kurzweiliger »Event« zum Staunen. Und vorzugsweise zur Bestätigung, dass diese behinderten Menschen doch in die »Werkstätten« gehören.

Die deutsche Geschichte der Aussonderung wurde um ein neues, bundesdeutsches Kapitel erweitert. Die unserem demokratischen und sozialen Rechtsstaat angemessene Alternative wäre gerade zu Beginn der 1970er Jahre eine ganz andere gewesen. Immerhin gilt jenes Jahrzehnt bis heute als Zeit des Aufbruchs – und der Ernüchterung.20 Die Absicht der Bundesregierung, »in zunehmendem Maße den Behinderten eine Teilnahme am Erwerbsleben (zu) ermöglichen« (BT-Drs. 06/2155, 1971, 210), schloss die behinderten Menschen in den Werkstätten nicht ein. Das wiederholte Regierungsziel, sich »auch den Personengruppen zuzuwenden, die sich aus unterschiedlichen Gründen Beschäftigungsschwierigkeiten gegenübersehen« (BT-Drs. 06/3432, 1972, 21), galt ebenfalls nicht für die in den »Werkstätten«. Dabei hatten schon in den 1970er Jahren Bundestagsabgeordnete darauf hingewiesen, dass nach »früherem Recht die Beschäftigungspflicht bereits bei Betrieben mit sieben Arbeitsplätzen eingesetzt« und die Pflichtquote 8 % betragen hatte (BT-Drs. 07/1515, 1974, 5). Dem Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes hätte es schon damals entsprochen, die Beschäftigungspflicht zu erweitern und konsequent durchzusetzen, statt sie einzuschränken.21

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