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2.10 »Es muss anders werden, wenn es besser werden soll.«
ОглавлениеNiemand weiß im Voraus, was die eigenen Taten alles bewirken können. Das meinte Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) mit seinem weithin bekannten Ausspruch: »Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.«46 Er wollte allen Mut machen, die das missfällige Vorgefundene nicht einfach hinnehmen, sondern es durch Widerspruch und Handeln zum Besseren wenden wollen. Das trifft auch auf die Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen zu, zumindest auf die, die das Amt zwischen 2005 bis 2018 innehatten, also auch auf Karin Evers-Meyer (Jg. 1949, Amtsinhaberin 2005–2009) und Verena Bentele (Jg. 1982, Amtsinhaberin 2014–2018). Wir haben die Erfahrung gemacht, dass unsere Inklusionsbemühungen als Angriffe auf bestehende Pfründe verstanden und befehdet wurden, nicht zuletzt von Dachorganisationen der »Werkstätten«. Deren typische Gegenpositionen wiederholen sich fortwährend:
• Die Inklusionsvertreter wären Rechthaber. Sie würden den Begriff »Inklusion« ideologisch besetzen und inhaltlich einseitig füllen.
• Die Inklusionsverfechter wären doppelmoralisch. Als politische Personen würden sie sich bei »Werkstatt«-Besuchen gern medienwirksam ablichten lassen. Gleichzeitig diffamierten sie »Werkstätten« als Sondereinrichtungen.
• Der von Inklusionsbefürwortern verwendete Inklusionsbegriff wäre zu eng gefasst. Denn »Werkstätten« wären als Sozialunternehmen »keine Sackgasse mit Sondereinrichtungen«, sondern »eine zukunftsweisende Brücke«.47
• Das Gesetz zum UNO-Übereinkommen wäre mit dem Inklusionsbegriff nicht ausreichend beschrieben. Es wäre keine »Inklusionskonvention«, ihr Ziel wäre »niemals nur Inklusion«.
• Die pauschale Ablehnung »von hochspezialisierten ›Sondereinrichtungen‹« würde die Situation der behinderten Menschen nicht verbessern.
• Die Sondereinrichtungen müssten ihre Haltung, Handlungen, Strukturen und Angebote nur immer wieder anpassen: »Der Streit über Inklusion kann uns dann egal sein.«48
Es ist an Dreistigkeit nicht mehr zu überbieten, wenn das Führungspersonal der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten (BAG WfbM) die heutigen Einrichtungen als »Wegbereiter der Inklusion« etikettiert.49 Dagegen scheint das Versprechen der Caritas-»Werkstätten« im Bistum Osnabrück geradezu bahnbrechend: »Jeder Beschäftigte der Caritas-Werkstätten, der Interesse an einer Inklusion auf den ersten Arbeitsmarkt hat, wird von uns […] auf einen Einsatz auf einem Außenarbeitsplatz […] vorbereitet.«50 Mit »Außenarbeitsplatz« sind aber gar keine regulären Erwerbsarbeitsplätze gemeint. Es sind von der Erwerbswirtschaft den »Werkstätten« bereitgestellte Arbeitsplätze mit besonderen Bedingungen: Auf ihnen setzt sich die rechtliche, finanzielle und soziale Diskriminierung der Beschäftigten fort: kein Arbeitsvertrag, kein Arbeitnehmerstatus, kein regulärer Lohn, keine arbeitsrechtliche Gleichstellung.
Ein völlig ausgehöhlter und inflationär verwendeter Inklusionsbegriff ist typisch für die »Werkstätten«-Szene. Sie widerspricht damit allerdings ihren Spitzenverbänden. Der Caritasverband auf Bundesebene (DCV) z. B. erklärt Inklusion als »ein selbstverständliches Zusammenleben unterschiedlicher Menschen, ohne dass dabei Einzelne ausgegrenzt werden. Alle Menschen haben ein Recht, sich frei zu entfalten und die Welt mit zu gestalten. Dabei spielt es keine Rolle, woher jemand kommt oder mit welchen körperlichen, intellektuellen oder geistigen Einschränkungen er lebt. Die Inklusion fordert, dass sein Umfeld so gestaltet werden muss, dass er oder sie sich entsprechend der eigenen Möglichkeiten einbringen kann. […] Beschäftigungsangebote für Menschen mit Behinderung sind so zu gestalten, dass diese nicht in ›Sondereinrichtungen‹ leben und arbeiten müssen.« Caritas Deutschland lässt keinen Zweifel daran, »dass das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen gilt, unabhängig von Art und Grad ihrer Behinderung.«51
Das Diakonische Werk teilt die Ansicht des DCV und kritisierte 2015: »Auch heute noch werden Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in erster Linie über ihre Hilfsbedürftigkeit wahrgenommen. Ihnen wird das Recht zur beruflichen Bildung und Teilhabe am Arbeitsleben abgesprochen.«52 Zu einer kritischen und selbstkritischen Position gegenüber Sondereinrichtungen wie der DCV ringt sich die Diakonie aber nur gegenüber Förderstätten und Fördergruppen in Wohnheimen durch. Ihre Diakonie-Position von 2009 scheint angesichts des verbreiteten inklusionswidrigen Opportunismus vergessen. Seinerzeit kritisierte der evangelische Dachverband, dass Menschen mit Beeinträchtigungen »eine ›Werkstattbedürftigkeit‹ zugeschrieben wurde«, die aber durchaus »mit entsprechender personzentrierter Unterstützung und Begleitung sehr wohl außerhalb von WfbM tätig sein können. Eine künstliche Grenzziehung zwischen ›werkstattbedürftigen‹ und ›arbeitsmarktfähigen‹ Personen erscheint vor diesem Hintergrund nicht gerechtfertigt.«53
In seinen Grundsatzdokumenten vertritt der Paritätische Gesamtverband, der Spitzenverband mit der wohl größten »Werkstatt«-Mitgliedschaft, eine Inklusionskonzeption, die dem Gesetz zum UNO-Übereinkommen sehr nahe kommt. Darin ruft der Paritätische Gesamtverband auf: »Inklusion verlangt eine neue Haltung […]!«54 Doch diese neue Haltung gegenüber den »Werkstätten« – etwa i. S. der Stellungnahme des UNO-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen von 2015 – lässt noch auf sich warten.
Die Liste der Inklusionsbefürwortenden, die eine Abschaffung oder zumindest grundlegende Reform des deutschen »Werkstätten«-Systems fordern, ist lang und nicht auf nationale Persönlichkeiten und Institutionen beschränkt. Aber die Liste derjenigen, die »Werkstätten« befürworten, ist sehr viel länger. Das wundert angesichts der über 300.000 Beschäftigten und mehr als 30.000 »Werkstatt«-Angestellten nicht. Ein so gewaltiges bundesweites System inklusionsverpflichtet umzugestalten, erfordert ein entsprechendes Menschenbild. Es verlangt energische politische Bereitschaft, enormes Durchstehvermögen, Verbündete im Wirtschafts- und Sozialsektor. Ganz besonders notwendig ist die Reformbereitschaft bei den Angehörigen der »Werkstatt«-Beschäftigten und erst recht bei den Beschäftigten selbst und ihren »Werkstatt«-Räten.
Dass diese Veränderungsbereitschaft i. S. des Gesetzes zum UNO-Übereinkommen herangereift ist, dafür gibt es z. Z. keine handfesten Belege. Umso erstaunlicher sind Einzelinitiativen wie z. B. die Petition 83020 an den Bundestag von 2018, in der die Abschaffung der »Werkstätten« gefordert wird. Auch die »Initiative Inklusion« zweier Fachleute aus dem Sozialbereich konstatiert, »dass Werkstätten per se nicht inklusiv sind«, und teilt »die Einschätzung der internationalen Expertenkommission, dass Werkstätten […] eine Sonderwelt darstellen, für die […] Maßnahmen zum ›Einstieg in den Ausstieg‹ einzuleiten sind«.55 Die »Werkstatt«-Träger kommen an dieser immer breiter werdenden Diskussion nicht vorbei, die die derzeitige »Werkstätten«-Szene infrage stellt. Schon vor Jahren bekam sie die Bestätigung dafür von einem der juristischen Experten, dem ehemaligen Bundesgeschäftsführer der Lebenshilfe und jetzigen Präsidenten von Inclusion International: Klaus Lachwitz stellte klar, dass in den UNO-Dokumenten von schrittweiser Abschaffung der Werkstätten die Rede ist und dafür eine längerfristige Strategie entwickelt werden muss.56 Diese Zeit ist reif.