Читать книгу Werkstätten für behinderte Menschen - Группа авторов - Страница 9
2. Unser, mein Monatseinkommen würde sich in der Erwerbswirtschaft nicht wirklich verbessern.
ОглавлениеIch bekam nicht einmal 175 Euro »Werkstatt«-Lohn. Da ich ohne Assistenz in einer eigenen Wohnung lebe, bekomme ich die gesetzlich vorgeschriebene »Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung«. Das waren 2020 knapp 860 Euro/Monat. Mein kleiner »Werkstatt«-Lohn blieb mir erhalten. So hatte ich rd. 1.020 Euro Monatseinkommen. Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei einer 35-Stundenwoche mit rd. 1.420 Euro/Monat deutlich höher. Aber es ist ein Bruttolohn. Davon gehen die Lohnsteuer und meine Beiträge zur Sozialversicherung ab. Unter dem Strich hätte ich rd. 1.080 Euro/Monat netto. Als »Werkstatt«-Beschäftigter mit der gesetzlichen Grundsicherung bekam ich also 60 Euro weniger im Monat. Das ist schmerzlich. Denn ein solches Monatseinkommen reicht nicht einmal für ein bisschen Kultur. Doch wenn die »Werkstatt« gut ist, hat man ein Arbeitsleben, das besser an die persönlichen Bedürfnisse angepasst ist. Und man hat eine deutlich höhere Altersrente. Dafür nahm ich lange das geringere Einkommen in Kauf, wenn auch nicht widerstandslos.
Mit dem ärmlichen Leben als »Werkstatt«-Beschäftigter wollte ich mich nicht abfinden. Darum hatte ich den »Werkstatt«-Träger auf Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns verklagt. Doch keine Gerichtsinstanz hatte mir zu meinem Recht verholfen. Das nahm mir den Mut für weitere Gerichtsinstanzen. Wenn die Politik also Inklusion wirklich will, muss sie gerade hier dringend nachbessern.
Jetzt kann ich meine zweite zentrale Frage beantworten: Was muss anders werden bei unseren »Werkstätten«?
Ein paar Gedanken dazu schreibe ich im Telegramm-Stil auf:
1. Die »Werkstätten« müssen zu tatsächlichen Übergangseinrichtungen werden (s. o.).
2. Die »Werkstätten« müssen offenlegen, was sie für den Wechsel ihrer Beschäftigten in den allgemeinen Arbeitsmarkt tun. Und sie müssen jedes Jahr die Vermittlungszahlen auf reguläre Arbeitsplätze bekannt machen.
3. Die Vielfalt unter den »Werkstatt«-Beschäftigten muss viel besser berücksichtigt werden. Ihre besonderen persönlichen Bedürfnisse müssen ganz oben stehen. Die individuelle Förderung muss die gesetzliche und die tatsächliche Pflicht der »Werkstätten« sein.
4. Auch Beschäftigte, die man »schwerst-mehrfach beeinträchtigt« nennt, müssen das Recht haben, sich weiterzuentwickeln. Man darf sie nicht von vornherein und dauerhaft als ewig erwerbsunfähig abstempeln. Es kommt immer darauf an, was die »Werkstatt« mit ihren Fachkräften tut, damit sich die Beschäftigten weiterentwickeln können. Die Verantwortung der »Werkstätten« dafür ist sehr groß. Darum müssen ihre Leistungen besser werden. Ohne gute berufliche Bildung, ohne Kenntnisse im Umgang mit moderner Technik haben wir keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Als Handlanger und Hilfskräfte haben wir keine Zukunft.
5. In der »Werkstatt« müssen sich wirklich sinnvolle Arbeit und echte, personbezogene Bildung (Erwachsenenbildung!) miteinander verbinden. Es ist einfach falsch, Menschen für dumm zu erklären, weil sie tagelang, wochenlang und monatelang dumme und verdummende Arbeit machen müssen.
6. Alle Fachkräfte, die mit uns und für uns Dienstleistungen erbringen, müssen besser qualifiziert werden. Sie alle müssen die Prüfung zur staatlich anerkannten Fachkraft zur Arbeits- und Berufsförderung ablegen. Dazu gibt es von der Bundesregierung eine Verordnung. Die muss endlich für alle verbindlich werden.
7. Schutz, Assistenz, Bildung, Förderung und Unterweisung dürfen nicht länger gegen den Arbeitnehmer-Status ausgespielt werden. Im Arbeitsbereich der »Werkstätten« muss der Arbeitnehmer-Status für alle gelten. Dafür müssen die Schutz-Rechte angepasst und verbessert werden.
8. Die Forderungen nach einem gerechteren Lohn für »Werkstatt«-Beschäftigte sind immer noch nicht erfüllt. Die Arbeitsgemeinschaft »Selbst:Aktiv« der Menschen mit Beeinträchtigungen in der SPD hat dazu 2019 gute Vorschläge gemacht. Darin heißt es u. a.: »Der gesetzliche Mindestlohn schützt vor Verarmung und schafft mehr Gerechtigkeit. Er muss als Mindesteinkommen auch für die Werkstattbeschäftigten gelten, solange es noch keine tariflichen Lösungen gibt.«1
Bei diesem Thema bin ich in guter Gesellschaft, wenn ich fordere, dass die deutschen Unternehmen eine Mitverantwortung übernehmen müssen. Im Jahr 2019 haben der DGB, die IG-Metall, der VdK, der Beauftragte der Bundesregierung für die behinderten Menschen, die Bundestagsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke eine deutliche Erhöhung der Ausgleichsabgabe gefordert.2 Immer wieder taucht dabei die Zahl 750 Euro im Monat auf. Damit wäre ein großer Teil des Mindestlohnes für uns »Werkstatt«-Beschäftigte zu finanzieren.
Abb. 8: Martin von Tours (316-397). Was mir auffällt: Wir waren immer schon die kleinen Leute. © ML Preiss, Deutsche Stiftung Denkmalschutz
Der Bundestag und die Bundesregierung haben ein Forschungsprojekt beschlossen. Daraus sollen Vorschläge für einen besseren »Werkstatt«-Lohn entstehen. Aber das ist ein zu kleiner Schritt. Und der dauert auch zu lange: Für vier Jahre ist das Forschungsprojekt vorgesehen. Dann gehe ich schon auf die Fünfzig zu. Damit mein Lebenstraum noch wahr wird, müssen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung jetzt die wichtigen Reformen einleiten.
Zum Schluss komme ich auf mein Bild vom Bettler zurück. Ja, ich fühle mich wie ein Bettler. Die »Werkstatt«-Träger und die politisch Zuständigen kommen sich womöglich wie St. Martin vor. Vielleicht erwarten sie, dass wir dankbar sind und sie verehren wie man St. Martin verehrt. Doch was hatte Martin dem Notleidenden schon Großartiges gegeben? Bloß die Hälfte von einem Kleidungsstück, das für ihn sowieso nur als schmückender Überwurf diente. Meine Empörung, mein Gefühl von Machtlosigkeit und die offensichtliche Ungerechtigkeit drückt ein Gedicht von Ilse Aichinger sehr treffend aus. Es ist wunderschön, radikal, klipp und klar formuliert:
Ilse Aichinger (1921–2016)
NACHRUF
Gib mir den Mantel, Martin,
aber geh erst vom Sattel
und lass dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.
1 siehe Arbeitsgemeinschaft Selbst:Aktiv, Hannoversche Erklärung vom 07.09.2019
2 Internetquellen (21.01.20): DGB, Kurz-URL https://t1p.de/es6a; IGM, Kurz-URL https://t1p.de/nt9o; VdK, Kurz-URL https://t1p.de/6vzw; Bündnis 90/Die Grünen, Kurz-URL https://t1p.de/7tat; Die Linke, Kurz-URL https://t1p.de/791d;