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2.4 Machtlose Gesetze: Absichtserklärungen statt Gestaltungskraft

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Zu den noch immer ungelösten politischen Aufgaben gehören die Gestaltung eines aufnahmebereiten Arbeitsmarktes und die Öffnung der Erwerbswirtschaft ebenso für die Bevölkerungsteile mit besonderen Erschwernissen. Dabei besteht seit 1953 für die Erwerbswirtschaft die gesetzliche Pflicht, auch die »besonderen Gruppen Schwerbeschädigter« (§ 4 SchwBG, 1953) zu beschäftigen. Das sind Menschen mit einem größeren Assistenzbedarf. Diese gesetzliche Pflicht besteht nach wie vor. Sie ist im Zuge der Novellierungen des Schwerbehindertengesetzes von 1974 immer wieder zeitgemäß weiterentwickelt und konkretisiert worden. Heute wird diese Beschäftigungspflicht im § 155 SGB IX beschrieben. Danach haben die beschäftigungspflichtigen Unternehmen (§ 154 SGB IX) ganz ausdrücklich auch solche »schwerbehinderten Menschen« zu beschäftigten, »die nach Art oder Schwere ihrer Behinderung im Arbeitsleben besonders betroffen sind«. Das Gesetz nennt beispielhaft sechs bei ihrer Arbeitssuche sehr benachteiligte Personengruppen (§ 155 Abs. 1 SGB IX): behinderte Menschen, die

• im Arbeitsalltag nicht nur vorübergehend einer besonderen Hilfskraft bedürfen;

• vom Arbeitgeber nicht nur vorübergehend außergewöhnliche Aufwendungen erwarten können;

• nicht nur vorübergehend eine wesentlich verminderte Arbeitsleistung erbringen werden;

• eine mentale oder psychische Beeinträchtigung mit einem Grad von mindestens 50 haben;

• über keine abgeschlossene reguläre Berufsausbildung verfügen.

Ausdrücklich verlangt das Gesetz, aus diesen Gruppen auch jene einzustellen, die fünfzig Jahre und älter sind.

Ein großer Teil der leistungsberechtigten Menschen im sog. Arbeitsbereich der »Werkstätten« gehört zu diesen Gruppen. Fachleute sprechen von dreißig Prozent, andere sogar von fünfzig Prozent der Beschäftigten. Ihre Einstellung in reguläre Wirtschaftsunternehmen würde den Arbeitgebern u. a. damit honoriert, dass sie auf zwei und mehr Pflichtplätze angerechnet werden können. Dennoch gibt die Bundesagentur für Arbeit an, dass 2017 nur 71 der über eine Million Pflichtplätze in der Erwerbswirtschaft mit ehemaligen Beschäftigten aus »Werkstätten« besetzt waren.22 Bei 289.842 Personen in den »Werkstätten« des gleichen Jahres entspricht das einer Vermittlungsquote von 0,245 Promille.

Eine politische Weichenstellung, die auf gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben ausgerichtet ist, würde ein so dichtes und überfülltes Netz von »Werkstätten« überflüssig machen. Deren rasante Zuwachsraten waren schon 1994 erkennbar, als die öffentliche und parlamentarische Diskussion über ein Benachteiligungsverbot ihren ersten Höhepunkt erreichte. Da hatten die »Werkstätten« gerade den neuen Rekord von 150.000 besetzten Arbeitsplätzen gebrochen.23 Den nächsten Rekord verzeichneten sie nur sechs Jahre später mit bereits über 200.000 Beschäftigten. Auch deshalb wurde noch im gleichen Jahr aus der bisherigen verordnungsrechtlichen Pflicht eine gesetzliche: »den Übergang geeigneter Bewerber auf den allgemeinen Arbeitsmarkt […] zu fördern« (§ 54 Abs. 1 Nr. 2 SchwbG 2000).

Doch der Misserfolg war und ist arbeitsmarktpolitisch vorprogrammiert. Es fehlt an wirksamen, den Arbeitsmarkt inklusiv gestaltenden Instrumenten. Außerdem gibt es nur wenige und recht schwache Initiativen der »Werkstätten«, ihre befähigten Beschäftigten ins Erwerbsleben wechseln zulassen. Denn am Verlust gerade der produktivsten Beschäftigten haben die »Werkstatt«-Träger kein Interesse. Auch die sog. ausgelagerten Arbeitsplätze in den Erwerbsbetrieben haben keine höheren Übergangsquoten bewirkt. Im Gegenteil: Die vom Gesetzgeber 2008 geschaffene Möglichkeit, solche Arbeitsplätze nicht nur als Übergangsmöglichkeit ins Erwerbsleben einzurichten, sondern als dauerhafte Arbeitsplätze, hat sich als kontraproduktiv erwiesen. Seitdem wird diese Form der billigen Leiharbeit stärker als bisher genutzt. Statt dass sie als Sprungbrett in den allgemeinen Arbeitsmarkt dienen, sind es preisgünstige Leiharbeitsplätze – für »Werkstätten« wie für Arbeitgeber gleichermaßen attraktiv. Für die »Werkstätten« ist der Dienstleistungsaufwand für Beschäftigte auf ausgelagerten Arbeitsplätzen in der Regel sehr gering. Sie erhalten keinen regulären Lohn, sondern sind an das Niedrigstlohnsystem der »Werkstatt« gebunden. Diese besondere Art der Leiharbeit verhindert, dass die »Werkstatt«-Träger leistungsstarke Beschäftigte verlieren. Würden sie nach einer bestimmten Frist in ein reguläres Arbeitsverhältnis übernommen, wäre das für die »Werkstätten« auch ein finanzieller Verlust: Ihnen zahlt der Entleiher einen Preis für die ausgeliehenen »Werkstatt«-Angehörigen.

Auch für die Arbeitgeber ist dieses Sondermodell der Leiharbeit ein günstiges Geschäft. Sie sparen die Lohn- und Lohnnebenkosten und können über diese Arbeitskräfte frei disponieren. Solche Beschäftigte können ohne große Probleme jederzeit ausgetauscht und durch andere Werkstattbeschäftigte ersetzt werden. Um wie viele solcher preiswerten Leiharbeitsplätze es sich inzwischen handelt, kann die Bundesregierung nicht beantworten (BT-Drs. 18/12680, 2017, 8). Da bleibt die Politik auf Angaben aus »Werkstatt«-Kreisen angewiesen. Deren Fortbildungsanbieter schätzt ihre Zahl auf rd. 25.000.24 Inklusionsverpflichteten Fachleuten ist offensichtlich, dass solche Leiharbeitsplätze keine Lösung i. S. des Gesetzes zum UNO-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (G-UNÜRMB) sind: Es fehlt jeglicher Anreiz zur Übernahme der Beschäftigten in ein reguläres Arbeitsverhältnis.

Die Zahl der Arbeitsplätze in den »Werkstätten« steigt weiter. Nach Angaben ihrer Bundesarbeitsgemeinschaft ist inzwischen die 300.000er Schwelle überschritten, und diese Entwicklung hält an. Zur grundlegenden Veränderung bedarf es einer konsequenten und nachdrücklichen Politik der Arbeitsmarktöffnung. Falsche Anreize müssen beendet werden, die das Sondersystem stabilisieren. Gegen starken öffentlichen Widerstand hatte die Bundesregierung im Jahr 2000 ein Maßnahmepaket erlassen, das das Gegenteil von gleichberechtigter Teilhabe der »Werkstatt«-Beschäftigten bewirkte. Als fatal kritisierten die Verbände im Sozialwesen, dass die Beschäftigungspflichtquote von sechs auf fünf Prozent abgesenkt wurde. Besonders enttäuscht waren die Organisationen, dass gerade der Sozialdemokrat und Gewerkschafter Walter Riester (Jg. 1943, Bundesminister 1998–2202) als zuständiger Bundesarbeitsminister erklärte: »Durch die Senkung der Pflichtquote von 6 v. H. auf 5 v. H. werden alle Arbeitgeber mit 20 und mehr Arbeitsplätzen, die ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllen, entlastet.«25 Doch schon bald beklagte selbst die IG-Metall die Nachteile dieser wenig teilhabeorientierten, wirtschaftsverpflichteten Politik ihres früheren Zweiten Vorsitzenden.26

Werkstätten für behinderte Menschen

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