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Der kindliche Notfall: Wenn der i. v.-Zugang nicht gelingt

An einem Sonntagabend trifft der NAW mit dem Einsatzstichwort „akute Atemnot“ in der Wohnung einer jungen Mutter ein. Diese berichtet, ihr 10 Monate alter Junge (~ 8 kg) sei seit dem Freitagabend nicht gesund und bekomme schlecht Luft. Da der Säugling erst vor 4 Wochen ähnliche Symptome gehabt habe, welche sich schnell wieder gelegt hätten, habe die Mutter zunächst am Wochenende keinen Arzt aufsuchen wollen. Jetzt sei die Situation jedoch deutlich schlechter geworden: Die Mutter habe heute mehrfach versucht, den Jungen zum Stillen anzulegen, dieser wollte aber nicht trinken.

Der Notarzt findet einen unruhigen Säugling mit Tachydyspnoe und Zyanose vor. Die Atemmechanik ist pathologisch: Es zeigen sich juguläre und subkostale Einziehungen bei der Inspiration sowie eine erschwerte Exspiration. Der Notarzt auskultiert spastische Atemgeräusche über dem gesamten Thorax. Die Pulsoxymetrie ergibt eine SpO2 (Raumluft) von 87 % und eine Herzfrequenz von 175/min. Die Körpertemperatur beträgt 39,6°C. Der Versuch einer oszillometrischen Blutdruckmessung mit der auf diesem NAW zur Verfügung stehenden Ausrüstung misslingt. Die Fontanellen sind eingesunken.

Unter der Verdachtsdiagnose einer „akuten obstruktiven Bronchitis“ wird mit der Gabe von Sauerstoff (4 l/min) und Inhalation von vernebeltem Salbutamol begonnen. Die Pulsoxymetersättigung steigt auf 89 %. Auf Grund des gleichzeitig bestehenden Flüssigkeitsmangels schätzt der Notarzt die Situation als instabil ein und möchte alsbald das nächstgelegene Krankenhaus mit pädiatrischer Fachabteilung erreichen. Zuvor soll jedoch ein intravenöser Zugang zur Flüssigkeitssubstitution gelegt werden.

Der Notarzt unternimmt mehrfach venöse Punktionsversuche. Unter heftigen Abwehrbewegungen des Säuglings werden beide Hand- und Fußrücken, sodann auch eine Skalpvene erfolglos punktiert. Die Punktionsversuche nehmen mehr als fünf Minuten in Anspruch. Der Säugling ist zunehmend gestresst, die Atemmechanik verschlechtert sich weiter. Die Pulsoxymetersättigung sinkt kontinuierlich auf ca. 60 %, es entwickelt sich eine Bradykardie von 55/min, und die Abwehrbewegungen lassen nach. Schließlich ist der Säugling reglos und zyanotisch.

Nach korrekter Intubation, Beatmung mit 100 % Sauerstoff und adäquater Herzdruckmassage bessert sich die Situation innerhalb einer Minute: Die SpO2 beträgt jetzt 96 %, die Herzfrequenz 155/min. Einer der Rettungsassistenten schlägt einen intraossären Zugang vor. Nach korrekter Platzierung werden dem Säugling zügig 40 ml NaCl 0,9 % appliziert. Schließlich erfolgt der Transport ins Krankenhaus.

Hintergrund

Glücklicherweise sind lebensbedrohliche kindliche Notfälle oder gar kardiopulmonale Reanimationen bei Säuglingen im Rettungsdienst sehr selten. Diese Notfälle können für ein Rettungsteam mit mangelnder Erfahrung zu dauerhaften negativen Emotionen und teilweise irrationalen Ängsten im Umgang mit Kindern führen. Unkoordinierte oder sogar falsche Maßnahmen können in der Akutsituation fatale Auswirkungen haben. Daher sollten sich alle Personen im Rettungsdienst regelmäßig mit den theoretischen Grundlagen und der praktischen Durchführung von Maßnahmen sowie der Handhabung spezieller Materialien bei Kindern auseinandersetzen.

Falls ein intravenöser Zugang in dem hier vorliegenden Fall überhaupt notwendig gewesen wäre, so sollte dieser immer von der Person mit der größten Erfahrung hinsichtlich der Venenpunktion bei Kindern − in der Regel vom verantwortlichen Notarzt − gelegt werden.

Ist die Venenpunktion erschwert (z. B. teigige Haut, Ödeme, Zentralisation bei Volumenmangel etc.), so sollten frühzeitig alternative Zugangswege in Erwägung gezogen werden. Hierzu zählen der intraossäre Zugang sowie die nasale oder endobronchiale Applikation von Medikamenten.

In dem vorliegenden Fall hätte man mit einer gelungenen Venenpunktion durch einen geübten Arzt bzw. mit einer frühzeitigen intraossären Kanülierung bei schwierigen Venenverhältnissen den Stress für den Säugling minimieren, die Transportfähigkeit früher herstellen und die Reanimationssituation möglicherweise vermeiden können.

❱❱❱

In der Notfallsituation – insbesondere bei der Reanimation – sollte spätestens nach 3 erfolglosen periphervenösen Punktionsversuchen bzw. nach 60–90 Sekunden ein intraossärer Zugang gelegt werden.

Fehler und Gefahren

 Unzureichende Erfahrung in der Venenpunktion bei Kindern.

 Delegation der Venenpunktion an Unerfahrene.

 Unkenntnis oder Ignorieren der Möglichkeit eines alternativen Zugangs.

 Somit verzögerte Etablierung eines Zugangsweges für Medikamente.

 Vermeidbare Stresssituation für das Kind.

Fehlervermeidung

 Die Venenpunktion bei Kindern erfolgt durch den Retter im Team, der in der Punktion die meiste Erfahrung hat.

 In Abhängigkeit vom Alter des Kindes und der praktischen Erfahrung können prinzipiell alle venösen Gefäße punktiert werden: Handrücken, Fußrücken, Skalpvenen, V. cubitalis, V. saphena magna, V. jugularis externa.

 Nach 3 erfolglosen periphervenösen Punktionsversuchen sollte ein intraossärer Zugang gelegt werden.

 Grundsätzlich frühzeitig an alternative Zugänge denken!

 Kritische Indikationsstellung für einen Gefäßzugang.

 Raschen Transport in Kinderklinik ohne Gefäßzugang in Abhängigkeit von Patientenzustand und Distanz erwägen.

❱❱❱

Der intraossäre Zugang gilt als intravaskulärer Zugang. Im Notfall kann er auch durch Ungeübte einfach und schnell platziert werden. Alle gängigen Notfallmedikamente und Infusionslösungen können appliziert werden, der Wirkeintritt ist schnell. Es können hierüber auch Blutentnahmen erfolgen.

77 Fehler und Irrtümer in der Notfallmedizin

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