Читать книгу 77 Fehler und Irrtümer in der Notfallmedizin - Группа авторов - Страница 20
ОглавлениеFolgenschweres Versäumnis
Der Rettungshubschrauber wird gegen Mittag zu einer Patientin mit Polytrauma alarmiert. Auf einem Kinderspielplatz in ländlicher Umgebung trifft das Hubschrauberteam auf das bodengebundene Rettungsteam.
Bei der Übergabe ist folgende Anamnese zu erheben: Ein 16-jähriges Mädchen sei rückwärts von einer Schaukel auf den harten Untergrund gefallen und dabei mit dem Kopf zuerst aufgekommen. Als das Notarzteinsatzfahrzeug eintraf, sei die Patientin nicht ansprechbar und tief zyanotisch gewesen. Die Patientin habe keine Spontanatmung gehabt. Der Notarzt habe die Patientin sofort ohne Medikamente intubiert und seitdem beatmet.
Auch jetzt zeigt die Patientin kein rosiges Hautkolorit. Die Pupillen sind weit und lichtstarr, der Puls ist bradykard. Bei der körperlichen Untersuchung fällt ein prall gespanntes Abdomen auf. Der Notarzt des Hubschraubers lässt sich ein Laryngoskop geben und überprüft die Tubuslage. Bei problemloser Laryngoskopie imponiert eine ösophageale Fehllage des Beatmungstubus. Die Umintubation mit einem neuen Tubus gelingt auf Anhieb. Die Patientin ist nun auskultatorisch seitengleich beatmet. Aus dem Hubschrauber wird ein Kapnometer geholt, mit dem sich endexspiratorisch CO2 nachweisen lässt. Nach Anlage einer dicklumigen Magensonde entweichen massive Luftmengen aus dem Magen.
Nach 3–5 Minuten unter Beatmung mit reinem Sauerstoff wird das Mädchen rosig, ist kreislaufstabil und hat mittelweite, auf Licht träge reagierende Pupillen. Vor der Lagerung wird die HWS bei dringendem Verdacht auf ein SHT bzw. spinales Trauma mit hohem Querschnitt mit einem Stifneck® immobilisiert. Die Patientin wird achsengerecht auf einer Vakuummatratze gelagert und in ein Klinikum mit neurochirurgischer Abteilung transportiert.
Hier zeigt sich im CT ein isoliertes HWS-Trauma mit Einengung des Spinalkanals in Höhe von C2. Im weiteren Verlauf bildet sich der hohe Querschnitt nicht zurück. Zudem entwickelt die Patientin ein massives Hirnödem in Folge der Hypoxie.
Hintergrund
Im Rahmen eines spinalen Traumas mit Einengung des Spinalkanals kann es, manchmal in Kombination mit einem Schädel-Hirn-Trauma, zur Kompression des Rückenmarks kommen. Bei einem hohen Querschnitt (oberhalb C4) führt die Schädigung zu einem Ausfall der Atmung. In diesem Fall war die Patientin vermutlich unmittelbar nach dem Unfall noch bei Bewusstsein, jedoch aufgrund der spinalen Schädigung nicht mehr in der Lage zu atmen. Als Folge der Sauerstoffunterversorgung traten nach wenigen Minuten eine Hypoxie und Bewusstseinsverlust ein. Durch die Fehlintubation konnte der Sauerstoffmangel natürlich nicht behoben werden.
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Nach jeder Intubation und nach jeder Lageänderung des intubierten Patienten müssen die Lunge beidseits und der Magen (unter Beatmung) auskultiert werden, um eine mögliche Fehllage des Tubus bzw. eine einseitige Beatmung unmittelbar diagnostizieren und behandeln zu können.
Im vorliegenden Fall wurde vom ersten Notarzt weder auskultiert noch die Thoraxbewegungen beurteilt. Beide Kriterien sind allerdings – wie auch das Beschlagen der Tubusinnenwand – nicht beweisend für eine erfolgreiche Intubation. Die einzig sicheren Indikatoren einer erfolgreichen Intubation sind die „Intubation unter Sicht“ (sichere Passage des Endotrachealtubus durch die Stimmbänder) und der exspiratorische CO2-Nachweis mittels Kapnometrie.
Selbst mit wenig klinischer Erfahrung und mit geringem klinischen Untersuchungsaufwand hätte in diesem Fall die Fehlintubation sofort identifiziert werden können. Spätestens das pralle Abdomen und die weiterhin bestehende Zyanose hätten das Rettungsteam vor Ort dazu veranlassen müssen, kritisch die Beatmung zu prüfen, auch wenn die Möglichkeit der Kapnometrie nicht gegeben war.
In aktuellen Untersuchungen wird von bis zu knapp 7 % ösophagealen Tubusfehllagen nach präklinischen Intubationen berichtet.
Fehler und Gefahren
Eine Fehlintubation ist keine Schande, allerdings sind die fehlende Kontrolle der Tubuslage und das Übersehen der Fehllage des Tubus eine Katastrophe für den Patienten!
Bei der Fixierung des Tubus, Lagerung des Patienten, Extension oder seitlichen Bewegung des Halses kann es unbemerkt zu einem unabsichtlichen Zurückziehen des Tubus bzw. zur Extubation kommen.
Beim Patienten mit V. a. ein Wirbelsäulen-Trauma können Intubation und Manipulation am Patienten ohne Schutz und Stabilisierung der HWS zur weiteren Schädigung der HWS bzw. des Rückenmarks führen!
Fehlervermeidung
Nach jeder Intubation und nach jeder Lageänderung des Patienten: Auskultation der Lunge beidseits und ggf. des Epigastriums sowie Beurteilung der Thoraxbewegungen.
Auf Zeichen der Fehlintubation und Hypoxie achten (fehlendes endtidales CO2, Sättigungsabfall, fehlende Thoraxbewegungen, Bradykardie, pralles Abdomen, weiterhin bestehende Zyanose).
Exspiratorischer CO2-Nachweis mittels Kapnometrie: Eine Kapnometrie gehört als zuverlässige apparative Untersuchungsmethode zur Beurteilung der korrekten trachealen Tubuslage auf jedes (notarztbesetzte) Rettungsmittel.
Notärzte, die aufgrund ihrer Fachrichtung über keine große Erfahrung im Airwaymanagement verfügen, müssen dieses Grundwerkzeug der präklinischen Notfallmedizin regelmäßig im OP bzw. am Phantom üben. Zwingend gehört die Kenntnis über Alternativen im Atemwegsmanagement mit zu den Basiskenntnissen eines Notarztes.
Auch der Rettungsassistent hat die korrekte Lage des Tubus nach Intubation sowie nach Lagerungsmanöver im Auge zu behalten. Hierfür muss auch ein Rettungsassistent regelmäßig im OP oder am Phantom seine Intubationskenntnisse wiederholen und vertiefen.
Bei Patienten mit V. a. Schädel-Hirn-Trauma oder Halswirbelsäulen-Trauma ist vor Manipulationen bzw. Lagerung eine Cervicalstütze (z. B. Stifneck®) anzulegen oder das achsengerechte Halten des Kopfes durch einen Helfer sicherzustellen.
Falls sich eine erforderliche Intubation durch eine angelegte Cervicalstütze schwierig gestaltet, kann die Stütze unter der Voraussetzung gelöst werden, dass von einer Hilfskraft ständig ein achsengerechter Zug auf Kopf und Halswirbelsäule zur Vorbeugung einer Rückenmarkskompression ausgeübt wird. Nach der Intubation (und Sicherstellung der regelrechten Tubuslage): sofortige Wiederherstellung der HWS-Immobilisation.