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Weichenstellungen für die Neuausrichtung Oberhausens als Stadt des Handels und der Dienstleistungen

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Am Ende dieses Jahrzehnts bewegten vor allem zwei Themen die Menschen in Oberhausen. Einerseits war dies der geplante aber letztlich nicht realisierte Bau einer Sondermüllverbrennungsanlage und andererseits die Planungen der kanadischen Brüder Ghermezian für die Ansiedlung des „World Tourist Center“ auf der zwischen Essener Straße und Rhein-Herne-Kanal gelegenen ehemaligen Thyssen-Fläche. Der Streit über beide Projekte wurde in der Bürgerschaft, der Politik und in den Medien mit großer Heftigkeit geführt.

Die erstmals im Sommer 1988 bekannt gewordenen Planungen der kanadischen „Triple Five Corporation Ltd.“ zum Bau einer „Euro-Mall“ in Oberhausen waren gigantisch: Hier sollte das größte Einkaufs- und Vergnügungszentrum der Welt mit mindestens 15.000 Arbeitsplätzen, 800 Läden, vielen weiteren Attraktionen und einem Investitionsvolumen von 2,5 Milliarden Mark entstehen (NRZ, 16. November 1988).

In den Monaten nach dem Bekanntwerden des Projektes wurde in Oberhausen ebenso wie im Düsseldorfer Landtag und in den Nachbarstädten je nach Interessenlage um Zustimmung oder Ablehnung gerungen. Teilweise mit großer Heftigkeit wie z. B. vom damaligen Duisburger Oberbürgermeister Josef Krings, der in einer Rundfunkdiskussion die Planungen mit den Worten „100 Hektar Unkultur sind eine Horrorvision“ entschieden ablehnte (WAZ, 28. März 1989).

Der Traum vom „neunten Weltwunder“ in Oberhausen fand dann am 14. Juni 1989 im Düsseldorfer Landtag ein jähes, aber zu diesem Zeitpunkt wohl nicht mehr unerwartetes Ende. Zu groß war die Ablehnung in den Nachbarstädten und bei vielen Parlamentariern in Düsseldorf geworden. Die überregionale Aufmerksamkeit, die das Projekt in „Superhausen“ erzeugt hatte, sollte sich schon in wenigen Jahren mit der Neuen Mitte und dem CentrO für die Stadt auszahlen, denn, wie Irmhild Piam am 21.Juni 1989 in der WAZ schrieb: „Aus dem Aschenputtel war plötzlich eine umworbene Diva geworden“.

Ein wichtiger Baustein für den Strukturwandel in Oberhausen war die Beteiligung an der Internationalen Bauausstellung Emscher Park, die als Zukunftsprogramm des Landes Nordrhein Westfalen von 1986 bis 1996 realisiert wurde. Von zentraler Bedeutung für die wirtschaftliche Weiterentwicklung der Stadt waren und sind die IBA-Projekte: Umbau des ehemaligen Werksgasthauses auf dem Thyssen-Gelände zum heutigen Technologiezentrum Umweltschutz TZU, die Umgestaltung des Hauptbahnhofs, der Erhalt des Gasometers am Rhein-Herne-Kanal sowie der Garten Osterfeld auf dem Gelände der ehemaligen Kokerei, 1999 Schauplatz der Landesgartenschau (OLGA).

Weniger erfolgreich verliefen dagegen die Bemühungen, Oberhausen als die auch im Ausland bekannte Stadt der „Westdeutschen Kurzfilmtage“ zu einem Medienstandort auszubauen. Nach der erfolgreichen Ansiedlung von „Radio NRW“ im Gebäude der ehemaligen Hauptverwaltung des GHH-Aktienvereins an der Essener Straße weckten die Pläne für ein Medienzentrum in Osterfeld große Hoffnungen. Das von dem Filmregisseur Michael Pfleghar entwickelte Konzept sah auf dem Gelände der stillgelegten Kokerei Osterfeld eine Einrichtung vor, „in der die Möglichkeiten der Computer-Animation, der Laser- und Tricktechniken erschlossen, das hochauflösende Fernsehen (HDTV) in der Praxis erprobt und ferngesteuerte Kameras und Licht-Einheiten eingesetzt werden könnten“ (NRZ, 4. Februar 1989).

Eine wichtige Funktion in den Planungen von Pfleghar nahm ein eindrucksvolles Bauwerk der Zeche Osterfeld ein: „Die ehemalige Kokskohlen-Vergleichmäßigungsanlage als größte freitragende Halle Europas soll zur Produktionshalle (DOM) mit der stationären HDTV-Technik umgebaut werden“29. Das Medienzentrum wurde zwar gebaut, aber der wirtschaftliche Erfolg sollte sich nicht wie erhofft einstellen.

In den späten 1980er Jahren beherrschten zwiespältige Gefühle die Menschen in Oberhausen. Man hatte Abschied nehmen müssen von Kohle und Stahl und blickte nun in eine wirtschaftlich ungewisse Zukunft. Die „großen“ Themen standen im Mittelpunkt des Interesses: Der Streit um die Sondermüllverbrennungsanlage, das Projekt des World Tourist Centers (WTC) oder das Medienzentrum Osterfeld. Das WTC war für die einen die große Hoffnung für andere der Alptraum einer neuen amerikanisierten Stadtentwicklung.

Erst aus heutiger Sicht wird deutlich, welche Bedeutung Maßnahmen in dieser Zeit für den späteren Strukturwandel der Stadt hatten. Um nur einige zu nennen: Sanierung der ehemaligen Zinkfabrik Altenberg zum Zentrum Altenberg mit den Rheinischen Industriemuseum, Umgestaltung des Ebertbades, Neugestaltung der Sterkrader Innenstadt, die Planungen für das heutige „Hirsch-Zentrum“ in Sterkrade oder auch die Disco-Zelte am Stadion Niederrhein bzw. am Werksgasthaus, die Oberhausen weit über die Stadtgrenzen hinaus den Ruf einer „Disco-Metropole“ einbrachten.

Eine statistisch exakte Darstellung der Beschäftigtenentwicklung bis zum Ende der 1980er Jahre ist leider nicht möglich, da die letzte umfassende Zählung aller Arbeitsstätten und der in ihnen tätigen Personen im Jahr 1987 erfolgte. Der beginnende Wandel in der Struktur der Oberhausener Wirtschaft kann aber durch den Zeitraum bis 1987 gut belegt werden. Von 1979 bis 1987 erlebte die Stadt erneut einen massiven Arbeitsplatzabbau, sowohl in der Produktion (minus 10.750) als auch erstmals im Bereich der Dienstleistungen, bei denen 3.900 Stellen abgebaut wurden. Die Organisationen ohne Erwerbscharakter, Gebietskörperschaften und die Sozialversicherungen steigerten dagegen ihre Beschäftigtenzahl von gut 5.600 (1979) auf über 14.400 (1987) und damit um 8.800 Mitarbeiter. Insgesamt wurden im Zeitraum vom Juni 1979 bis zum Mai 1987 rund 14.650 Arbeitsplätze abgebaut, denen 9.600 neue Stellen gegenüber standen. Die Gesamtbeschäftigtenzahl ging von 85.200 (1979) auf 80.130 (1987) zurück.

1987 arbeiteten erstmals mehr Menschen in den Arbeitsstätten des tertiären Sektors, also im Handel, in Dienstleistungsbetrieben oder in den Organisationen, als in den Betrieben des primären und sekundären Sektors, zu denen insbesondere der Bergbau, das Verarbeitende Gewerbe und das Baugewerbe zählen. 1979 waren noch 47 Prozent aller Beschäftigten im tertiären Sektor tätig, 1987 waren es mit 57 Prozent bereits mehr als die Hälfte aller in Oberhausen tätigen Personen.30 Der lange Weg zur Stadt des Handels und der Dienstleistungen, der sich in den folgenden Jahrzehnten fortsetzte, hatte unumkehrbar begonnen. Noch ahnten wohl nur wenige, welchen Stellenwert ein bis dahin weitgehend unbedeutender Wirtschaftszweig, der Tourismus, noch erlangen sollte. Den Bericht über eine Studie für den Fremdenverkehrsmarkt Nordrhein-Westfalen überschrieb die NRZ am 20. September 1989 mit der Schlagzeile „Wo Attraktionen sind, strömen auch Touristen!“ Ein Jahrzehnt später galt dieser Satz auch für Oberhausen.

„Strukturbruch in Oberhausen – das war vor allem die Stahlkrise!“

Interview mit Friedhelm van den Mond (Teil 3)

Im Februar 1987 unmittelbar nach der Bundestagswahl kündigte die Thyssen-Stahl AG die Stilllegung nahezu aller Betriebsteile an der Essener Straße und damit den Abbau von 3.000 Arbeitsplätzen alleine in Oberhausen an. Wie solidarisch waren damals Bevölkerung, Gewerkschaften und auch andere gesellschaftliche Gruppen sowie die Nachbarstädte und die Landespolitik?

Ich will bis zu diesem Sprung 1987 noch einmal ein wenig zurückgehen. Nachdem Luise Albertz tot war, hatte die SPD-Fraktion mich zu ihrem Nachfolger bestimmt. Ich nahm also die Funktion wahr, war aber noch nicht offiziell gewählt. Die Wahl war nämlich erst im März und ihr Todestag war am 1. Februar 1979. Bevor ich gewählt wurde, war schon der Vorstand von Thyssen-Niederrhein bei mir und erklärte, dass wieder mal rund 2.000 Arbeitsplätze wegfallen. Ich hab mich da allen Ernstes gefragt: Friedhelm, worauf lässt du dich hier eigentlich ein? Wohin soll das Ganze führen? Aber es ging ja dann kontinuierlich weiter. Und damit sind wir dann bei 1987. Der Abbau dieser 3.000 Arbeitsplätze war ein Schock. Wir haben zwar mit einem weiteren Rückgang gerechnet, aber nicht mit einem so brutalen auf einmal. Und die Solidarität in der Stadt war unglaublich. Es gab große Protestaktionen, an denen sich alle beteiligten: Das Handwerk, die Kirchen, die städtischen Mitarbeiter, die Gewerkschaften natürlich auch, aber nicht nur die IG-Bergbau, sondern alle Gewerkschaften, alle Bevölkerungsgruppen. Ich erinnere mich gut an diese großen Protestdemonstrationen auf dem Bahnhofsvorplatz. Und ich glaube es war in diesem Jahr, in dem wir ja auch, der Kollege Günther Wöllner aus Hattingen und ich, die Bürgermeister und Oberbürgermeister der Stahlstädte im Ruhrgebiet zu einer Konferenz der Oberbürgermeister eingeladen haben, bei der wir noch einmal auf die Probleme der Stahlstädte hinwiesen. Denn es traf uns ja immer abwechselnd. Mal Bochum ein bisschen, mal Dortmund ein bisschen, mal Hattingen. Wir wussten, man kann gemeinsam nur appellieren an die Hilfe von Land und Bund. Und sowohl Land als auch Bund waren da solidarisch, das Land in noch stärkerem Maße. Der Grundstücksankauf und die Baureifmachung von Grundstücken wurden seitdem enorm gefördert.

Im Juni 1990 wurde in Oberhausen das Fraunhofer Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik gegründet, mit „ideeller Unterstützung“, so das Institut, der Stadt Oberhausen. Wie kam es zu dieser für die weitere Entwicklung des Strukturwandels in unserer Stadt wichtigen Ansiedlung?

Inzwischen hatte auch bei den politisch Verantwortlichen, insbesondere in der SPD, ein Umdenken stattgefunden. Man hatte erkannt, dass wir diesen Prozess des Strukturwandels, aber Strukturwandel ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck, das war eher ein „Strukturbruch“, dass wir den nicht aufhalten konnten. Es gab also am Ende dieses schweren Prozesses die Erkenntnis: Wir müssen weg von der Klagemauer. Wir wollten nach neuen Wegen suchen und die SPD-Fraktion hat damals ein Programm beschlossen. Wir wussten, in Oberhausen sind insbesondere mit Babcock und GHH Betriebe, die im Umweltschutz mehr leisten können. Wenn die etwas bringen sollen auf dem Gebiet Umweltschutz, dann muss dazu irgendeine Einrichtung kommen, die anwendungsbezogen forscht. Wir wussten, eine Uni kriegen wir nicht. Fachhochschulen waren damals auch nicht hoch im Kurs. Zumindest nicht im Ruhrgebiet. Und wir haben uns dann mit der Industrie zusammengesetzt. Der Oberbürgermeister, der Fraktionsvorsitzende und der Bundestagsabgeordnete der SPD mit den Vorständen der Oberhausener Großbetriebe. Treffpunkt war in aller Regel das Hotel Ruhrland. Und da wurde gemeinsam überlegt, was kann man denn nun machen. Und da ist die Idee dieses Instituts geboren worden. Ich kann heute sagen, ohne die Unterstützung von Dr. Wiehn bei Babcock, von Meissner bei MAN GHH und auch ohne Dr. Deuster von der EVO hätten wir Umsicht nie gekriegt. Die haben ihre Verbindungen spielen lassen, Heinz Schleußer hat seine Verbindungen zum Land spielen lassen. Wir waren uns also relativ schnell darüber einig, dass Umsicht gegründet werden sollte, mit Professor Weinspach aus Dortmund als erstem Leiter von Umsicht. Die ideelle Unterstützung, na ja, materiell konnten wir ohnehin nichts bieten, aber ich sag mal, wir haben uns gekümmert. Ich erinnere mich noch gut, dass kurz nachdem das Institut seine Arbeit aufgenommen hatte, mich Professor Weinspach anrief und sagte: „Mein Gott, haben Sie keine Verbindung zum Amtsgericht?“ Ich sag: „Was wollen Sie denn da?“ „Ich bin noch nicht im Handelsregister eingetragen, das liegt da schon seit einigen Wochen, und wenn ich nicht im Handelsregister eingetragen bin, krieg ich die Zuschüsse vom Land nicht und ich muss in drei Tagen Gehalt zahlen.“ Ich kannte also jemanden gut beim Amtsgericht, habe den angerufen und gesagt: „Hör mal, kannst Du Dich mal darum kümmern?“ Und das tat er dann auch.

1990 wurde das Institut Umsicht gegründet. Wie lang war denn eigentlich der Zeitraum von der Idee bis zur Institutsgründung?

Maximal ein Jahr. Ich meine, das wäre unmittelbar nach dem Thyssen-Schock gewesen. Da haben wir gesagt: Stahl geht nicht mehr, da müssen wir etwas anderes machen: Umwelt. Bei der GHH war ja damals gerade ein Großteil der Kernenergieaktivitäten weg. Und Babcock war im Bereich Umweltschutz beim Kraftwerksbau immer schon führend. Die haben ja damals an der druckerhöhten Wirbelschichtfeuerung geforscht. Der Kontakt zur Industrie war auch viel enger. Man traf sich ja auch nicht nur beim Stadtempfang, sondern bei allen möglichen Gelegenheiten. Die Pflege persönlicher Kontakte durch die Politik, die gar nicht öffentlich sichtbar werden, die halte ich für unglaublich wichtig.

Wo sind aus Ihrer Sicht die Auswirkungen des Strukturwandels, den Sie ja selber als „Strukturbruch“ bezeichnet haben, für die Menschen besonders deutlich geworden?

Die Veränderungen im Strukturwandel, die werden, so glaube ich, häufig unterschätzt. Strukturwandel kann man nicht bewältigen, ohne die Menschen mitzunehmen. Und das war schon ein ganz großes Handicap. Das hat sich ja heute ein wenig gemildert durch den Stolz der Oberhausener auf die Neue Mitte auf der einen Seite und andererseits verschärft durch die Tatsache, dass in manchen Branchen Niedriglöhne gezahlt werden. Wir hatten doch in der Montanindustrie als Arbeitnehmer nicht nur Weltmeister, sondern wir hatten doch auch einfache Arbeitsplätze, die sich zum Teil nicht unterschieden von denen, die heute im Handel sind. Diese Einfacharbeitsplätze im Dienstleistungsbereich, die sind aber heute für jeden sichtbar. Wer diese Einfacharbeitsplätze in der Großindustrie hatte, der musste ja nicht sagen, ich feg den Platz oder ich feg die Späne, sondern der arbeitete bei Thyssen, bei Babcock oder auf der Zeche. Der war also in dieser großen gesellschaftlichen Gruppe aufgenommen. Und gerade die Menschen in der Montanindustrie haben ja ihr Selbstwertgefühl, auch wenn sie kein Weltmeister waren, kein intellektueller Weltmeister, bezogen aus der Tatsache, dass sie diese schwere körperliche Arbeit konnten. Und die haben eigentlich auf alles herab geblickt, um ihr Selbstwertgefühl zu stärken, ob berechtigt oder unberechtigt, auf die, die im Dienstleistungsberuf tätig waren. Ein Kellner, das war doch für einen Bergmann ein Tablettschwenker. Ein Friseur, der war doch nur Friseur geworden, weil er meine schwere Arbeit nicht konnte. Und diese Menschen mussten ihren Kindern jetzt sagen: Hört mal, das können wir nicht mehr, denn die alten Arbeitsplätze gibt es nicht mehr.

Auch die Struktur in den einzelnen Siedlungen, wo alle den gleichen Lohntag hatten, einen relativ gleichen Verdienst, hat sich geändert. Auch in den Siedlungen ist ein bisschen sozialer Zusammenhalt verloren gegangen. Denn heute hat der eine einen guten Job, der andere hat einen schlechteren und der Dritte hat gar keinen. Und das führt zwangsläufig dazu, dass vieles von diesem sozialen Zusammenhang zumindest Risse kriegte. Und ganz schwierig ist das geworden auch für die Arbeit der Parteien und der Gewerkschaften. Es gibt die Großbetriebe nicht mehr, in denen man neben guten Kontakten zum Vorstand auch gute Kontakte zu den Betriebsräten hatte, in denen Organisationsgrade in der Gewerkschaft herrschten zwischen 90 und 95 Prozent. Und das macht die Arbeit, sowohl die politische als auch die gewerkschaftliche heute sehr viel schwerer. Man kommt an die Menschen in einzelnen Bereichen einfach nicht ran. Und dazu kommt noch, dass nach meiner Einschätzung sowohl Gewerkschaften als auch Parteien überhaupt noch nicht begreifen, was in einigen IT-Berufen z. B. passiert. Die haben doch gar keine Vorstellung davon, dass die Leute zu Hause arbeiten, die sind nicht in der Firma und trotzdem arbeiten sie. Und welche Interessen haben diese Menschen? Wie geht man darauf ein?

Kommunen und Kommunalpolitik stehen heute vor der Herausforderung, die Zukunftsfähigkeit von Städten anders zu denken. Dabei hat das gesamte Thema Bildung in den letzten Jahren einen deutlich gewachsenen Stellenwert bekommen. Stellt sich aus Ihrer Sicht die Integration in das Beschäftigungssystem heute anders dar als beispielsweise vor 30 bis 40 Jahren?

Der Strukturwandel hat viele Menschen doch auf ein Lohn- oder Einkommensniveau gedrückt, das unter dem der damaligen Montanindustrie liegt. Und entsprechend schlechte Bildungschancen vieler Kinder waren die Folge, einfach weil sie von zu Hause nicht gefördert werden, weil das alles nicht geht. Und jetzt klagt die Industrie über Facharbeitermangel. Das kann ich nur schlecht verstehen. Wenn ich daran zurück denke: Womit hat denn nach dem Krieg eigentlich der Aufschwung begonnen? Der Bergbau hatte ein eigenes Schulwesen, eigene Berufsschulen, eigene Fortbildungsschulen, Babcock hatte eine Werksberufsschule, die GHH auch. Da sind doch nicht die hingekommen, die solche Anforderungen erfüllt haben, wie sie heute gestellt werden. Sondern das hat die Industrie doch betriebsspezifisch übernommen und ausgebildet. Den Weg, den geht heute offensichtlich niemand mehr. Aber ich glaube, das wäre ein Weg, um Facharbeiter zu gewinnen. Das wäre auch ein Weg, um über Bildung im Sekundärbereich, über den zweiten Bildungsweg, einiges zu tun. Wir müssen sicher im Primärbereich, in den Schulen anfangen. Aber das ist damit nicht zu Ende. Die betriebliche Fortbildung kann nicht erst bei dem anfangen, der schon Facharbeiter ist. Sondern wir müssen diese Facharbeiter „erst machen“. Diese Aufgabe hat die Industrie damals wahrgenommen.

(Fortsetzung siehe Seite 117)

„Das Knappenviertel ist ein Ort des sozialen Strukturwandels“

Interview mit Klaus Wehling (Teil 1)

Der wirtschaftliche Strukturwandel hat einen sozialen und kulturellen Wandel ausgelöst. Das Erscheinungsbild der Stadt und die Arbeitssituation der hier tätigen Menschen wurden im Laufe mehrerer Jahrzehnte stark verändert. Dies führte zwangsläufig auch zu einschneidenden Veränderungen des Wohnumfeldes und der nachbarschaftlichen Kontakte.

Als für die gesamte Stadt bedeutsames Beispiel haben in den letzten 50 Jahren derartige Prozesse im Knappenviertel stattgefunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden große Teile der alten Werksräume abgerissen, um durch eine neue Bebauung den damals dringend nötigen Wohnraum zu schaffen. Wie haben Sie, als Kind des Knappenviertels, diese bauliche Veränderung persönlich erlebt?

Hautnah, weil ich selber in einem Hüttenhaus gewohnt habe, das 1958 abgerissen worden ist und der damals neuen Bebauung weichen musste. Und auch sehr wohltuend, weil wir dann in der neuen Wohnung auf der Falkensteinstraße zum ersten Mal ein Badezimmer hatten und nicht mehr in den Stall aufs Klo mussten.

Für die von der Großindustrie geprägte Bevölkerung erfüllte das Knappenviertel in früheren Jahren alle wichtigen Versorgungsfunktionen. Seit den 1980er Jahren setzte ein Abstieg ein. Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe gaben auf, in den Wohnungsbestand wurde kaum noch investiert. Die Schließung des Thyssen Stahlwerks in den 1980er Jahren bedeutete Arbeitslosigkeit für viele Bewohner. Wie reagierten die Menschen im Knappenviertel auf diese neue Lebenssituation?

Was die Nahversorgung anbelangt, ist positiv, dass sich aus meiner Sicht im Knappenviertel die Situation in einem positiven Sinn nicht verändert hat. Denn nach wie vor ist das Knappenviertel ein intaktes Nebenzentrum mit entsprechender Versorgung, was den Einzelhandel anbelangt, aber auch die ärztliche Versorgung. Grundsätzlich kann man sagen, dass wir es bei dem Knappenviertel mit einem intakten Stadtviertel zu tun haben.

Ich würde gerne noch ergänzen, dass die in den 1960er Jahren gebauten Häuser inzwischen den Anforderungen nicht mehr genügen im Hinblick auf eine immer älter werdende Bevölkerung. Die Wohnungen sind nicht behindertengerecht wegen der in den 1960er Jahren gewählten Bauweise, weil man damals ja das Kellergeschoss nach oben gezogen, praktisch als Souterrain gebaut hat und damit das Erdgeschoss nicht ebenerdig war. Daraus ergeben sich Probleme nicht nur für Rollstuhlfahrer, sondern jetzt auch für Menschen, die auf Rollatoren angewiesen sind. Ich hoffe auf intelligente Lösungen für dieses Problem, weil diese Bauweise in Oberhausen sehr weit verbreitet ist, nicht nur im Knappenviertel.

Als Mitte der 1980er Jahre die Krise der Stahlindustrie auch die Bevölkerung des Knappenviertels so richtig erreichte, sind ja eben auch Veränderungsprozesse in Gang gesetzt worden. Kann man sagen, dass der Besatz mit Geschäften und mit Versorgungseinrichtungen im weitesten Sinne, was die Privatwirtschaft betrifft, sich in den letzten 20 Jahren durchaus wieder zum Besseren entwickelt hat?

Ja, auf jeden Fall. Wenn man sich z. B. die Angebote ansieht, die in unmittelbarer Nähe gegeben sind mit Aldi, Edeka, Penny und jetzt aktuell Netto, dann hat sich im Grunde die Einkaufssituation verbessert, allerdings sind die Wege länger geworden. Woran man längere Wege auch festmachen kann, ist das Kneipensterben. Davon ist das Knappenviertel, speziell die Knappenstraße, besonders betroffen. Wenn ich z. B. an die Traditionskneipe Töpp denke, die jetzt seit vielen Jahren geschlossen ist. Das war einer der wichtigen Treffpunkte im Knappenviertel. Wo z. B. die jährlichen Schützenfeste stattgefunden haben, aber auch viele Familienfeiern. Da gibt es heute kein vergleichbares Angebot mehr.

(Fortsetzung siehe Seite 120)

Klaus Wehling

Geboren am 30. Mai 1947 in Oberhausen. Besuchte von 1953 bis 1957 die Falkensteinschule in Oberhausen (Volksschule), von 1957 bis 1963 die Anne-Frank-Realschule, absolvierte von 1963 bis 1966 eine Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Stadtsparkasse Oberhausen und war von 1966 bis 1970 Angestellter der Stadtsparkasse Oberhausen. Von 1966 bis 1970 besuchte er das Abendgymnasium der Stadt Duisburg, von 1970 bis 1974 studierte er an der Ruhr Universität Bochum, Studiengang Lehramt für berufsbildende Schulen mit den Studienfächern Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Pädagogik. 1974 Erste Staatsprüfung, 1974 bis 1976 Studienreferendar an den Kaufmännischen Schulen der Stadt Mülheim an der Ruhr, 1976 folgte Zweite Staatsprüfung, anschließend war er Studienrat z. A., ab 1980 Oberstudienrat, 1997 Studiendirektor. 1972 trat Wehling der SPD bei, 1979 wurde er Mitglied des Rates der Stadt Oberhausen, 1994 bis 1998 Vorsteher der Bezirksvertretung Alt-Oberhausen, 1998 bis 2004 Erster Bürgermeister der Stadt Oberhausen. 2004 wurde Wehling zum Oberbürgermeister der Stadt Oberhausen gewählt, 2009 im Amt bestätigt.


Abb. 12: Klaus Wehling

Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4

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