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Zum Beispiel Carl Lutz

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Von den Gräueltaten hatte Carl Lutz als Schweizer Konsul im britischen Palästina durch einen Schweizer Missionar erfahren. 1944 dann amtete Lutz als Konsul in Budapest und rettete dort Zehntausende verfolgte Juden, indem er sogenannte „Schutzpässe“ für eine Auswanderung nach Palästina ausstellte und sogenannte „Schweizer Schutzhäuser“ einrichtete. In der Schweiz wurde er für sein eigenmächtiges Vorgehen kritisiert und erst nach seinem Tode gewürdigt.

Der Völkermord an den Armeniern reicht bis in unsere Gegenwart: In diesen Tagen machen die Mördertruppen des sogenannten Islamischen Staates Jagd auf aramäische Christen in den Dörfern im Nordosten Syriens. Sie foltern, töten, vertreiben die Menschen. Die 35 assyrischen Dörfer am Fluss Chabur waren durch aramäische Christen gegründet worden, die den Völkermord an den Armeniern und Christen vor hundert Jahren überlebt hatten. Und in unseren Tagen sehen wir alle zu, wie eine weitere Verfolgungswelle wahrscheinlich die Reste des christlichen Lebens dieser Region auf grausamste Art und Weise zerstört.

Die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern war in den 1930er-Jahren durchaus lebendig. Sie hat die bald darauf einsetzende Massengewalt und auch den Holocaust nicht verhindert.

Wir erinnern uns heuer an den Völkermord an den Armeniern – doch was bedeutet das konkret? Was leiten wir aus diesem Gedenken an vergangenen Schrecken ab?

Es ist ungemein schwierig, aus dem Gedenken an schlimmes vergangenes Geschehen Anleitungen für richtiges gegenwärtiges Handeln abzuleiten.

Der Althistoriker Christian Meier aus München schrieb ein schmales Büchlein über Erinnern und Vergessen. Es trägt den Titel: „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit.“

An den Anfang des Buchs setzt er zwei Beispiele zum Umgang mit „schlimmer Vergangenheit“. Einmal zitiert er die Worte des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Herzog, der 1996 sagte: „Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Diesem Gebot des Erinnerns setzt Meier einen Friedensvertrag von 851 gegenüber, in dem drei zerstrittene Karolinger Verständigung suchten. In diesem Vertrag wird eine völlige „Tilgung“ alles vergangenen Unrechts und aller Übel aus den Herzen der Beteiligten gefordert, nichts davon sollte im Gedächtnis erhalten bleiben, damit es nicht zur Vergeltung käme. Dies sollte dem Rachebedürfnis begegnen und eine Gewaltspirale verhindern, in der Gewalt und Gegengewalt sich bald nicht mehr unterscheiden – es diente der Sicherung des sozialen Friedens.

Meier führt eine ganze Reihe von Beschlüssen aus der Antike an, die alle das Vergessen von schlimmen Taten forderten. Allenfalls die Hauptschuldigen sollen bestraft werden, für den Rest galt „Amnestia“, was wörtlich „Nicht-Erinnerung“ bedeutet. Die Friedensverträge enthielten Bestimmungen, die versuchen, einen Schlusspunkt gegen die Zyklen von Gewalt zu setzen. Sie enthielten Bestimmungen zum Vergessen und Vergeben, damit die ehemals verfeindeten Gruppen einen neuen Anfang machen können, friedfertig miteinander zu leben.

Doch auch für Christian Meier sind die NS-Zeit und vor allem der Völkermord an den Juden ein einschneidendes Ereignis, das nicht vergessen werden kann.

Für die nationalsozialistischen Massenmorde gilt ganz besonders, dass dieses zur Herstellung des sozialen Friedens angeordnete Vergessen mit den „unabweisbaren“ Erinnerungen an die Verbrechen konfligiert: Die Erinnerungen an die erlittene Gewalt sind insbesondere für die Opfer „unabweisbar“.

Opfern wie auch Tätern ist zumeist gerade in den ersten Jahrzehnten nach den Gewaltereignissen gemeinsam, dass diese Erinnerungen zur Seite geschoben werden. Die zu Opfern gewordenen Menschen müssen ihr Leben neu aufbauen, sie wollen Familien gründen und haben zumeist gar keine Gelegenheit, sich diesen Erinnerungen hinzugeben. Und doch haben diese Erinnerungen eine ganz eigene Dynamik. Saul Friedländer, der große Historiker des Holocaust, war von seinen Eltern in einem katholischen Internat in Sicherheit gebracht worden. Die Eltern wurden deportiert und später ermordet und der junge Pavel, wie er damals hieß, konvertierte zum Katholizismus. Nach dem Krieg besann er sich wieder seiner jüdischen Identität. 1979 schrieb er über seine Geschichte und die Geschichte seiner Familie und gab dem Buch den Titel „Wenn die Erinnerung kommt“. Dem Buch stellt er ein Zitat voran: „Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe …“

Es lohnt, diese notwendige Verbindung von Wissen und Erinnerung festzuhalten und daran anknüpfend die Frage zu stellen, was denn ein Gedenken wert ist, wenn es nicht gleichzeitig ein Ringen um Wissen, um Erkenntnis ist?

Um wieder auf die unabweisbaren Erinnerungen zurückzukommen: Die ehemaligen Nationalsozialisten und insbesondere die Täter hatten jeden Grund, ihre Integration in die Nachkriegsgesellschaft nicht durch diese Erinnerungen zu gefährden bzw. sie nur mit Gleichgesinnten zu teilen.

Es dauerte recht lange, bis die Erinnerungen der zu Opfern gemachten Menschen öffentlich vernehmbar wurden und bis die Taten ins öffentliche Bewusstsein gelangten.

Die Erfahrungen und Erzählungen der Verfolgten sind deshalb besonders wichtig, weil sie einer abwehrenden Gesellschaft erzählen, was Menschen widerfuhr, wie sich die große Politik und wie sich diese massenhafte Gewalt ganz konkret im Leben von Menschen auswirkten, und was es heißt, mit den Ausgrenzungs- und Verfolgungserfahrungen weiterzuleben.

Es ist wichtig, diesen Erfahrungen Raum zu geben und den Menschen zuzuhören, die bereit sind, darüber zu sprechen, weil damit das Leid anerkannt wird. Durch den Akt des Zuhörens und der Anteilnahme wird den vormals Ausgeschlossenen ein besonderer Platz in der Gesellschaft eingeräumt.

Doch gibt es schon lange Zweifel daran, ob diese Zeitzeugenberichte einen Beitrag dazu leisten können, dass sich Auschwitz nicht wiederholt.

Raul Hilberg, der große Chronist des Holocaust, dessen Werk lange überhaupt ignoriert und noch viel länger nicht ins Deutsche übersetzt worden war, formulierte das einmal so: Man müsse zunächst die Verfolger analysieren, „… weil nur der Täter, nicht das Opfer wusste, was am nächsten Tag geschehen würde. Die Täter waren ausschlaggebend. Man kann nicht mit der Reaktion anfangen.“

In dieser Einschätzung trifft er sich mit dem deutschen Philosophen Theodor W. Adorno, der schon 1966 betonte, wir könnten von den Erfahrungen der Opfer gar nichts lernen, wenn es uns darum gehe, zu verhindern, dass sich „Auschwitz“ wiederholt.

Vielmehr müssten wir uns mit den Tätern und dem gesellschaftspolitischen System beschäftigen, das diese Taten hervorbrachte.

In anderen Worten, es bedarf der geschichtswissenschaftlichen, soziologischen, psychologischen und anderer Forschung, die zu erklären versucht, was jenen Menschen widerfuhr, die zu Opfern gemacht wurden.

Wer war am Völkermord der Nationalsozialisten beteiligt?

Das beginnt bei den Schreibkräften, die Listen der zu Deportierenden schrieben, und reicht hinauf bis zu Hitler, Himmler und dem nationalsozialistischen Führungspersonal. Vom Lokführer der Deportationszüge bis zu Polizeieinheiten an den Erschießungsgräben. Die Leute, die sich um Hausrat balgten, Wohnungen nahmen, Posten besetzten. Die Gendarmen, Volkssturmleute und Hitlerjungen, welche die Todesmärsche hier in Gleisdorf begleiteten und so viele Menschen dabei ermordeten.

Völkermord ist eben ein gesellschaftlicher Vorgang, der die Involvierung von vielen bedingt. Und: Es gibt beim Völkermord keine „Zuschauer“. Denn die Menschen, die zusahen und nichts dagegen taten, rechtfertigten und unterstützten die Täter. Es machte einen entscheidenden Unterschied, ob jemand hungernden Menschen ein Stück Brot zuzustecken versucht, oder ob jemand das verhindert, indem er den schlägt, der zu helfen versucht.

Nach 1945 – um nochmals bei Christian Meier anzuschließen – wurde zunächst versucht, gesellschaftlichen Frieden zu stiften, indem die Nazis integriert wurden und die Verbrechen bzw. die Beteiligung so vieler an diesen Verbrechen nicht zur Kenntnis genommen wurde. Das geschah auf Kosten der zu Opfern gemachten Menschen, die zumeist nicht jene anteilnehmende Zuwendung erfuhren, derer sie so dringend bedurft hätten.

Mit großem zeitlichem Abstand begann die intensivere Auseinandersetzung mit der Zeit der nationalsozialistischen Massengewalt – in der Geschichtsschreibung, in den Medien, aber auch in der juristischen Aufarbeitung. Der vermeintliche Gegensatz zwischen einem angeordneten Vergessen zur Sicherung des sozialen Friedens und der unabweislichen Erinnerung an den Holocaust kann vielleicht durch einen gesellschaftlichen Bearbeitungsprozess aufgehoben werden, in welchem sowohl die emotionale Dimension der Trauer über die Verluste und die Gewalt wie auch die kognitive Bearbeitung der historischen Kausalitäten Raum haben.

Lassen Sie mich nochmals den Bogen zeigen, den ich zu schlagen versuchte.

Die Erinnerung an den Genozid an den Armeniern hat den Holocaust nicht verhindert. Das Gedenken an den Holocaust hat den Völkermord in Ruanda 1994 sowie die Massengewalt in Indonesien (1965–1968) und in Kambodscha (1975–1979) genauso wenig verhindert wie den Massenmord an muslimischen Männern in Srebrenica (Bosnien und Herzegowina, 1995). Die in Srebrenica versagenden holländischen Soldaten hatten in ihrer Erziehung ganz sicher über die Nazi-Gräuel gelernt. Aber dieses Gelernte half ihnen nichts, als sie sich entschieden, die bosnisch-muslimischen Männer den serbischen Truppen auszuliefern.

Die Entscheidungsträger in Europa, die ihre Truppen aus Ruanda abzogen, um die der kanadische General Dallaire händeringend bat, weil er wusste, mit relativ wenig mehr militärischer Macht könnte er den Mördertrupps in Ruanda Einhalt gebieten – diese Entscheidungsträger wussten wahrscheinlich über „Auschwitz“ Bescheid und manch einer mag auch schon in Gedenkreden „niemals wieder“ gesagt haben. Als es drauf ankam, versagten sie.

Die zentrale Frage ist eine recht einfache Frage: Was hat das mit mir zu tun?

Diese einfache Frage ist aber ungemein schwer zu beantworten. Manche halten es nicht aus, dass die Antwort jeweils so schwer zu finden ist. Sie entladen die so entstehenden Spannungen, indem sie fordern, militärisch zuzuschlagen, ohne zu bedenken, wie es danach weitergehen soll.

Andere weichen dieser Frage aus, indem sie sich gar nicht damit beschäftigen oder sie investieren ihre Emotionen und Energien in Gedenken, ohne dass aus diesem Gedenken ein Gedanke für die Gegenwart erwächst.

Doch es gibt sinnvolle Antworten auf die Frage, was diese Geschichten und diese Geschichte mit uns zu tun hat.

Eine dieser möglichen Antworten ließ der aus einer jüdischen Familie stammende Jurist Fritz Bauer in den 1950er-Jahren am Eingang des damaligen Neubaus der Staatsanwaltschaft Braunschweig groß anschreiben:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Wie Sie vielleicht wissen, ist das etwas verkürzt der erste Absatz des ersten Artikels der deutschen Verfassung, des Grundgesetzes.

Fritz Bauer war als Sozialdemokrat 1933 von den Nazis inhaftiert worden, bevor er fliehen konnte. Nach der Befreiung kam er ans Landesgericht Braunschweig. Bekannt wurde Bauer als hessischer Generalstaatsanwalt in Frankfurt, wo er den Auschwitz-Prozess (1963–1965) gegen 24 Männer vorbereitete, die beschuldigt wurden, im Konzentrationslager Auschwitz Menschen getötet zu haben.

Die Wahrung der Menschenwürde ist ganz sicher eine wichtige Lehre aus den erinnerten schlimmen Zeiten. Gilt sie noch heute? Haben wir noch andere Antworten auf die Frage: „Was hat das mit mir zu tun?“

Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung

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