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DE CHARPENTIER ALS WEGBEREITER DER EISZEITFORSCHUNG
ОглавлениеAls Naturforscher und Gelehrter, der fast die gesamte erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hindurch aktiv war, zeichnete sich Jean de Charpentier durch die erfolgreiche Leitung eines Salzbergwerks, vielseitige naturwissenschaftliche Interessen und seine internationale Vernetzung aus. Die von ihm mitbegründete SNG diente dem kontakt- und reisefreudigen de Charpentier als Plattform, um seine Beobachtungen und neuen Theorien vorzustellen und Kontakte zu anderen Naturforschern zu pflegen. Ebenso nutze er deren Verhandlungen für die Publikationen seiner Untersuchungen. Strebte er eine internationale Verbreitung seiner Arbeiten an, wählte er daneben auch andere Zeitschriften.
De Charpentiers Rolle als einer der Pioniere der Eiszeitforschung zeichnet sich durch eine gewisse Tragik aus. Obwohl sich Jean de Charpentier spätestens seit 1815 mit der Frage nach der Herkunft ortsfremder Felsblöcke konfrontiert sah, befasste er sich erst ab Anfang der 1830er-Jahre damit. Dabei erwies er sich als bestens mit den zeitgenössischen Theorien zur Erdgeschichte vertraut. Konsequent versuchte er, seine und Venetz’ Beobachtungen mit dem damals aktuellen Forschungsstand in Einklang zu bringen. Im Nachhinein betrachtet, bewegte er sich damit in bekannten Bahnen. Seinen Überlegungen fehlten weitgehend konzeptionelle Neuerungen. So gesehen erwiesen sich die unkonventionellen Gedanken seines Freundes Ignaz Venetz zu einer Vergletscherung Nordeuropas oder zu astronomischen Ursachen48 einer globalen Abkühlung des Klimas als weiterführender. Doch stellt sich die Frage, ob die These eines alpinen Supergletschers ohne diese Zugeständnisse an den vorherrschenden Interpretationsrahmen der damaligen Forschung überhaupt Beachtung gefunden hätte. Die vorangehenden Arbeiten von Esmark hatten ohne solche Anknüpfungspunkte kaum Widerhall in den deutsch- und französischsprachigen Ländern gefunden.
Schliesslich musste de Charpentier erleben, wie Louis Agassiz ihm durch sein Vorpreschen bei der Publikation seines Buchs die Schau stahl. Dadurch vermochte Agassiz die Eiszeittheorie entsprechend seinen naturgeschichtlichen Vorstellungen zu formulieren und mit seiner Person zu verknüpfen. Hier liesse sich die Frage stellen, wie gerecht die Forschung und die Zuschreibung wissenschaftlicher Leistungen sind. Jean de Charpentier seinerseits zeichnete sich durch ein hohes Mass an Integrität aus und achtete gewissenhaft darauf, die Verdienste anderer Naturforscher zu würdigen. Die Rolle seines Freundes Venetz als Anreger seiner Forschungen hob er zeitweise bis in den Titel seiner Publikationen hervor. Sorgfältige Beobachtungen und Feldstudien waren ein weiteres Merkmal seiner Arbeit als Forscher.
Bei aller Zeitgebundenheit Jean de Charpentiers dürfte seine wichtigste Leistung sein, dass der Gedanke grossräumiger Vergletscherungen in den deutsch- und französischsprachigen Ländern den Weg in die wissenschaftliche Agenda fand. Ebenso war er daran beteiligt, das Thema im englischen Sprachraum zu etablieren. So sind die pathetischen Verse in einem Gedicht des Geologen Arnold Escher von der Linth (1807-1872) über seinen Freund de Charpentier durchaus zutreffend: «Dieser wandte unsern Blick in die ferne Zeit hinaus, wo die hohe Gletschermasse reichte bis zur Bergterrasse […]. Der was anfangs schien vermessen, allen machte licht und klar.»49