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TOBIAS KRÜGER EISZEIT Jean de Charpentier als tragischer Wegbereiter einer wissenschaftlichen Umwälzung
ОглавлениеDass grosse Bereiche Europas während der Eiszeiten mit Gletschern bedeckt waren, gehört heute faktisch zur Allgemeinbildung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war dieser Gedanke hingegen gänzlich unbekannt. Eine der Personen, die bei der Entdeckung und Erforschung der Eiszeiten eine massgebliche Rolle spielte, war Jean de Charpentier (1786–1855). Seine Beteiligung an einer der umwälzendsten geologischen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts, aber auch die damit verbundene persönliche Tragik sollen hier dargestellt werden.
Der Name lässt zunächst einen Westschweizer oder Franzosen vermuten. Tatsächlich stammte de Charpentier jedoch aus Sachsen. Seinen französischen Namen verdankte er der Herkunft seiner Familie aus der Normandie. Seine Vorfahren waren einst vermutlich als protestantische Glaubensflüchtlinge nach Sachsen gelangt. Jean de Charpentier kam im erzgebirgischen Städtchen Freiberg als jüngstes von sieben Kindern zur Welt. Sein Vater war Professor an der dortigen Bergbauakademie und erstellte unter anderem 1778 eine der ersten modernen geologischen Karten weltweit.1 Auf ihr kennzeichnete er Gesteinsarten mit unterschiedlichen Farben, was damals eine Innovation darstellte. 1802 stieg Jeans Vater zum Berghauptmann auf und stand bis zu seinem Tod an der Spitze des Berg- und Hüttenwesens im damaligen Kurfürstentum Sachsen.2 Dieser familiäre Hintergrund scheint prägend für den jungen Jean gewesen zu sein. In der Schule erhielt er eine klassische humanistische Bildung. Anschliessend studierte er, wie zuvor sein älterer Bruder Toussaint, Bergwesen in Freiberg. Nachdem er kurze Zeit unter seinem Bruder im schlesischen Waldenburg, heute Walbrzych in Polen, im Kohlebergbau gearbeitet hatte, nahm er eine Stelle in den französischen Pyrenäen an. Dort beabsichtigte eine Bergbaugesellschaft, den Kupferabbau aufzunehmen. Nachdem sich dieses Projekt zerschlagen hatte, blieb de Charpentier dort und widmete sich während vier Jahren der Erforschung der Pyrenäen. Ab 1812 belegte er Vorlesungen für Chemie und Naturgeschichte in Paris. Im folgenden Jahr bereiste er die Auvergne und das Vivarais. Zu dieser Zeit erhielt er durch Vermittlung eines Studienfreundes, des Waadtländer Kantonsförsters und Geologen Charles Lardy (1780–1858), das Angebot, die Leitung der Salinen in Bex zu übernehmen.3 Deren Salzproduktion war zu diesem Zeitpunkt kostspielig und unbefriedigend. De Charpentier nahm die Herausforderung an und vermochte die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Anstatt wie anhin den salzhaltigen Quellen nachzugraben, gelang es ihm, durch gezielte geologische Untersuchungen und Berechnungen die salzhaltigen Gesteinsschichten aufzuspüren. Dadurch konnte er die Salzgewinnung in Bex auf eine neue, auch wirtschaftlich gesunde Basis stellen und die Produktion vervierfachen.4 Zum Dank liess die Waadtländer Regierung in Les Dévens für de Charpentier 1825/26 durch Kantonsingenieur Adrien Pichard (1790–1841) die klassizistische, leichte Anklänge an die regionale Architektur zeigende Villa Solitaire bauen.5
Abb. 1: De Charpentiers 1825/26 erbaute klassizistische Villa Solitaire in Les Dévens bei Bex.
Durch seine berufliche Tätigkeit und sein ausserberufliches Engagement als Naturforscher knüpfte de Charpentier rasch Kontakte zu Schweizer Forschern. Im Jahr 1815 rief der Genfer Apotheker und Mineralwasserfabrikant Henri-Albert Gosse (1753–1816) die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft, kurz SNG, die heutige Akademie der Naturwissenschaften Schweiz, ins Leben.6 Unter den 36 eingeladenen Gründungsmitgliedern war der 29-jährige Salzbergwerksdirektor Jean de Charpentier. Dieser sollte sich in den folgenden Jahrzehnten als leidenschaftlicher und vielseitiger Forscher erweisen. Bereits während seiner Zeit in den französischen Pyrenäen hatte er deren geologischen Aufbau studiert. Für diese Untersuchung zeichnete ihn die Académie de France 1822 mit dem Preis für Statistik aus.7 Seine volkskundlichen und linguistischen Aufzeichnungen zur Sprache der in den Pyrenäen lebenden Basken stellte er 1822 dem preussischen Sprachforscher und Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt (1767–1835) zur Verfügung. Dieser benutzte sie für seine Untersuchungen zur baskischen Sprache.8
Im waadtländischen Bex erforschte de Charpentier nicht nur die lokalen Salzlagerstätten, sondern die Geologie der Alpen allgemein. So konnte er mit Charles Lardy 1814 ein deutlich jüngeres Alter der Alpen als bis dahin angenommen nachweisen.9 Im Lauf der Jahre legte de Charpentier überdies ein Herbar mit gut 26 000 Pflanzen an und entwickelte sich damit zu einem der besten Pflanzenkenner der Schweiz.10 Die grösste Leidenschaft des Salinendirektors galt wahrscheinlich den Schneckentieren. Der Katalog seiner Land- und Flussschneckensammlung führte nebst den Fundorten insgesamt 3707 Arten in 37 570 Exemplaren auf.11 Es handelte sich um de Charpentiers letzte grosse wissenschaftliche Arbeit.