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DE CHARPENTIER ERWÄRMT SICH FÜR DIE EISZEIT

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Heute ist Jean de Charpentier dagegen vor allem als Pionier der Eiszeitforschung bekannt. Dies ist nicht ohne historische Ironie. Zwar war er bereits etliche Jahre, bevor er seine eigenen Forschungen begann, mit Fragen aus dem Umfeld der späteren Gletscher- und Eiszeitforschung in Berührung gekommen. Doch lehnte er die Vorstellung eines ehemals kälteren Klimas und einer grösseren Ausdehnung der alpinen Gletscher zunächst ab und ging von einem wärmeren Klima in früheren Erdzeitaltern aus.

Mit Fragen des Gletscherwachstums dürfte de Charpentier erstmals im Sommer 1815 konfrontiert gewesen sein. Damals unternahm er einen Ausflug ins Val de Bagnes im Wallis. Dabei stiess der junge Salinendirektor auf die Vorstellung, ortsfremde, in der Landschaft verstreut liegende Felsblöcke könnten von Gletschern an ihre heutigen Fundorte transportiert worden sein. Viele Jahre später, im Februar 1840, berichtete er dem Berner Geologen Bernhard Studer in einem privaten Brief: «Die Person, die mir zum ersten Mal von Gletschern als Ursache des Transports der erratischen Trümer [sic!] sprach[,] war ein Bauer aus Lourtier im Bagne-Thale, Nahmens Perotin, welcher wahrscheinlich jetzt todt ist. Es war im July 1815 als ich auf einer Reise in das dortige Thal, bei ihm übernachtete. Da behauptete er steif und fest[,] dass in früheren Zeiten das Bagne- und Entremont-Thal völlig mit einem Gletscher erfüllt gewesen, welcher sich bis Martigny erstreckt und daselbst die grossen Granitblöcke abgesetzt habe. Dass ich diese Idee ganz verwarf[,] versteht sich von selbst.»12 Bei dem erwähnten Perotin handelte es sich um den Zimmermann und Gämsenjäger Jean-Pierre Perraudin (1767–1858). Entgegen de Charpentiers Mutmassung war er zum Zeitpunkt des Briefes keineswegs tot, sondern quicklebendiger Walliser Grossrat. Perraudins Beobachtungen hielt de Charpentier wahrscheinlich deshalb für mitteilenswert, da sich dieser auf überprüfbare Beobachtungen stützte und argumentierte, die ortsfremden Felstrümmer seien für einen Transport durch Wasser zu gross und schwer. Damit wandte Perraudin intuitiv das schon damals unter Geowissenschaftlern verbreitete Prinzip des Aktualismus an, wonach in der Gegenwart beobachtbare Vorgänge zur Erklärung vergangener geologischer Abläufe herangezogen werden. Tatsächlich waren ähnliche Ansichten wie jene von Perraudin unter den Bewohnern des Alpenraums recht verbreitet, und zeitgenössische Gelehrte berichteten verschiedentlich darüber.13 Wenige Monate später, im Oktober 1815, sah sich de Charpentier erneut mit dem Rätsel des Ursprungs ortsfremder Felstrümmer konfrontiert, als Henri-Albert Gosse im Oktober 1815 anlässlich der Gründung der SNG in Genf einen Vortrag zum Thema hielt.14


Abb. 2: Mutmassliche Fotografie von Jean-Pierre Perraudin (1767–1858), die in den 1850er-Jahren entstanden sein dürfte.

Im folgenden Jahr kam de Charpentier mit einer weiteren Frage aus dem Umfeld der späteren Gletscher- und Eiszeitforschung in Berührung. Er trug anlässlich der zweiten Jahresversammlung der SNG in Bern Untersuchungsergebnisse des Walliser Kantonsingenieurs Ignaz Venetz (1788–1859) vor und sicherte diesem so die Aufnahme in die Gesellschaft. In seiner Arbeit befasste sich Venetz mit der Frage, wie Gletscher Gegenstände transportieren, die in ihnen eingeschlossen sind.15 Wie und wann sich de Charpentier und Venetz kennengelernt haben, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass sie ab 1818 beruflich miteinander zu tun hatten. In jenem Jahr brach der Giétroz-Gletscher ab. Sein Eis stürzte in die Tiefe, und der danach aufgestaute Gletschersee verwüstete bei seinem Ausbruch das Val de Bagnes. Um die von Kantonsingenieur Venetz ergriffenen Schutzmassnahmen zu überprüfen, beauftragte die Walliser Kantonsregierung unter anderem de Charpentier als Gutachter.16 Später begegneten sich die beiden Männer gelegentlich, da sie an der Korrektion und Eindämmung der Rhone mitwirkten.17

1821 reichte Venetz bei der SNG ein Manuskript ein, in dem er deren 1817 ausgeschriebene Preisfrage, ob das Klima abkühle und rauer werde, zu beantworten versuchte. Der Kantonsingenieur argumentierte gestützt auf alte Gletscherstände, Findlinge und Moränen, dass sich das Klima während der Frühen Neuzeit verschlechtert habe. Schwieriger zu erklären waren für ihn jedoch Spuren alter Moränen, die bis zu fünfeinhalb Kilometer von den damals aktuellen Gletscherzungen entfernt lagen.

Venetz bat – vermutlich Ende August 1822 – über Jean de Charpentier sein Manuskript zurück, um es für die Drucklegung zu überarbeiten.18

Bis zu diesem Zeitpunkt war de Charpentiers wissenschaftliche Welt in Ordnung. Dies änderte im Frühjahr 1829, als Ignaz Venetz den Salinendirektor in Bex aufsuchte. Nach de Charpentiers Erinnerungen erklärte ihm Venetz, seine Beobachtungen hätten ihn zur Überzeugung geführt, «dass nicht nur das Tal von Entremonts, sondern das ganze Wallis einstmals von einem Gletscher bedeckt gewesen sei, der sich bis zum Jura erstreckt habe und der die Ursache für den Transport erratischer Geschiebe gewesen sei».19 De Charpentier war alles andere als überzeugt von dieser kühnen These. Die Vorstellung einer so gewaltigen Vergletscherung erschien ihm, wie er nachträglich bekannte, «wahrhaftig verrückt und übersteigert».20 Auf der folgenden Jahresversammlung der SNG im Juli 1829 auf dem Grossen St. Bernhard trug Venetz seine Überlegungen in einem Referat vor. Darin erklärte er die Verbreitung ortsfremder alpiner Gesteinstrümmer in den Alpen und im Jura, aber auch die Verbreitung von Findlingen in Nordeuropa durch «die Existenz ungeheurer Gletscher, die seither verschwunden seien».21 Das Echo auf den Vortrag des Kantonsingenieurs fiel sehr kritisch aus. Die Herkunft ortsfremder Felsblöcke schien nämlich durch die damals verbreiteten Geröll- und Schlammfluttheorien bereits hinreichend erklärt. In Versteinerungen tropischer Pflanzen in ganz Europa erblickten die damaligen Gelehrten einen klaren Beleg für ein ehemals wesentlich wärmeres Klima in Europa. Dementsprechend ging die Mehrzahl der damaligen Geologen von einer sich im Lauf der Erdgeschichte langsam abkühlenden Erde aus. In den Augen der meisten anwesenden Forscher dürfte Venetz ein schlecht informierter Autodidakt aus der Provinz gewesen sein, zumal er sich nur auf Beobachtungen in der Umgebung von Gletschern der Walliser Alpen stützte.22 Auch de Charpentier zählte zu jener Zeit zu Venetz’ Kritikern. Um seinen Freund von dessen vermeintlichem Irrtum abzubringen, machte sich Jean de Charpentier daran, dessen These zu prüfen und zu widerlegen.23 Seine Feldstudien dauerten knapp vier Jahre. Sie führten ihn jedoch zu einem ganz anderen Resultat als erwartet. De Charpentier kam zur Überzeugung, dass nicht Venetz, sondern er und die anderen Naturforscher im Irrtum waren. So schloss sich der Waadtländer Salinendirektor allmählich den Ansichten des Walliser Kantonsingenieurs an. Dies bekundete de Charpentier erstmals gesprächsweise gegenüber dem angehenden Arzt Hermann Lebert (1813-1878), der ihn im Hebst 1833 besuchte.24 Im Folgejahr, 1834, stellte de Charpentier seine neue Sichtweise an der Jahresversammlung der SNG in Luzern erstmals einem wissenschaftlichen Publikum vor. Sein Vortrag trug den Titel Anzeige eines der wichtigsten Ergebnisse der Untersuchungen des Herrn Venetz über den gegenwärtigen und früheren Zustand der Walliser Gletscher.25 Darin versuchte de Charpentier zu beweisen, dass der Rhonegletscher einst bis ins Schweizer Mittelland gereicht habe. Womöglich fühlte sich de Charpentier in seinen kühnen Thesen durch ein Erlebnis bestätigt, das ihm ein paar Tage zuvor, auf dem Weg nach Luzern, widerfahren war. So berichtete der Salzwerkdirektor im erwähnten Brief an Bernhard Studer, wie er mit seinem Vortragsmanuskript in der Tasche auf dem Brüningpass einen Holzfäller aus Meiringen einholte und ein Stück des Weges mit ihm ging: «Dieser behauptete unaufgefordert, dass die Granitblöcke, welche wir am Wege liegend sahen, von der Grimsel aus durch Gletscher hierher gekommen wären, welcher sich noch etwas weiter als Bern erstreckte. Da ich in diesem Augenblick mein mémoire in der Tasche hatte[,] um es in Luzern vor zu lesen, so freute mich die Bemerkung[,] so dass ich dem Mann ein gutes Trinkgeld gab.»26


Abb. 3: Ignaz Venetz im Alter von 38 Jahren. 1826 liess er sich als selbstbewusster Ingenieur porträtieren. Durch das Fenster links im Hintergrund sieht man den Giétroz-Gletscher. Bei dessen Abbruch konnte Venetz durch die von ihm ergriffenen Massnahmen erfolgreich eine grössere Katastrophe verhindern. Ölgemälde von Lorenz Justin Ritz (1796-1870).

In Übereinstimmung mit den damaligen Theorien zur Erdentstehung ging de Charpentier von der Vorstellung einer Erde aus, die sich im Lauf der Erdgeschichte kontinuierlich abgekühlt habe. In Anlehnung an die damaligen Gebirgserhebungstheorien nahm er an, im Untergrund wirkende, sogenannte plutonische Kräfte hätten die Alpen samt ihrem Umland emporgehoben. Durch Spalten und Klüfte des neu entstandenen Gebirges sei Wasserdampf ausgetreten. Da die Alpen kurz nach ihrer Entstehung wesentlich höher und das dortige Klima dementsprechend kälter als gegenwärtig gewesen seien, habe dies zu fortdauernden Schneefällen geführt. Ein abnormes Gletscherwachstum sei die Folge gewesen. Ein alpiner Supergletscher sei in der Folge über das Schweizer Mittelland hinweg bis an den Jura vorgestossen. Als sich das neu entstandene Gebirge gesetzt habe, seien die Alpen auf ihre heutige Höhe abgesunken. Dies habe eine Erwärmung des Alpenraums und ein Ende der Vergletscherung bewirkt. Innerhalb dieses Interpretationsrahmens betrachtete de Charpentier die ausgedehnte Gletscherbedeckung der Alpen als eine vorübergehende regionale Erscheinung. Damit glaubte er seine und Venetz’ Beobachtungen mit den damals vorherrschenden Theorien der Erdgeschichte in Einklang bringen zu können. Insgesamt ähnelte de Charpentiers Ansatz damit jenem des schwedischen Botanikers Göran Wahlenberg (1780-1851), der sich 1818 mit der Herkunft der Findlinge in Skandinavien befasst hatte und dort eine vorübergehende regionale Abkühlung und Vergletscherung des skandinavischen Gebirges vermutete.27 De Charpentier publizierte seinen Beitrag 1835 in der angesehenen französischen Bergbauzeitschrift «Annales des Mines».28 Das deutschsprachige Publikum erfuhr von diesem Beitrag 1836 zunächst durch einen Hinweis in Karl Büchners (1806-1837) «Literarischer Zeitung».29 Im gleichen Jahr druckten eine deutschsprachige und eine englischsprachige Zeitschrift eine geringfügig überarbeite Übersetzung ab.30 Ein zweiter Artikel, worin de Charpentier seine Vergletscherungstheorie in einen etwas weiteren erdgeschichtlichen Rahmen stellte, erschien 1836 auf Französisch und Englisch. Schliesslich druckte die damals führende deutschsprachige geowissenschaftliche Zeitschrift, das «Neue Jahrbuch für Mineralogie, Geognosie und Geologie», 1837 die beiden Beiträge de Charpentiers zusammen ab.31 Offensichtlich war Jean de Charpentier von seiner Theorie überzeugt und bestrebt, diese zu verbreiten und in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen.


Abb. 4: Zeitgenössisches Porträt von Louis Agassiz aus dem Jahr 1844, auf dem er sich 37-jährig als Gletscher- und Eiszeitforscher inszeniert. Die Felsen rechts neben ihm sollen wahrscheinlich von Gletschern abgeschliffene Felsflächen darstellen. Im rechten Hintergrund ist eine Gebirgslandschaft samt Gletscher mit deutlich erkennbarer Mittelmoräne zu sehen. Ölgemälde von Frédéric Zuberbühler (1822-1896).

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