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Sehnsucht nach Harmonie
ОглавлениеAuffällig ist – in einer Zeit verbreiteter Bedürftigkeit – die Kritik am «Materialismus», an der Rolle des Geldes, am Kampf der partikularen Interessen. «Der rücksichtslose, seichte Materialismus muss einer höheren Weltanschauung weichen», lautet einer von elf Gedanken, die der Schweizerische Bund für Reformen der Übergangszeit4 1919 publizierte. Leitbegriff ist der auf Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit beruhende «Sozialstaat», in dem der Klassenkampf gegenstandslos wird. Das Manifest der – kurzlebigen – Vereinigung, der Personen aus Wirtschaft und Gewerkschaften, Politik, Militär und Kultur angehörten, war gewiss beeinflusst von Leonhard Ragaz.5 In seinem Buch «Die neue Schweiz» (1917), einem «Programm für Schweizer und solche, die es werden wollen», nannte der Begründer der religiös-sozialen Bewegung die Vorkriegszeit eine «Zeit der Veräusserlichung und der Entseelung». Dem Kapitalismus und dem Egoismus wollte er eine sittlich verbundene Volksgemeinschaft entgegensetzen. Im inneren Konflikt mit der Kirche und der vorherrschenden Wissenschaft trat Ragaz 1921 von seiner Theologie-Professur zurück und widmete sich fortan besonders der Friedensbewegung.
Auf literarischer Ebene gehört in diesen Zusammenhang Jakob Bossharts 1921 erschienener Roman «Ein Rufer in der Wüste».6 Der tragische Held gerät in der Vorkriegsgesellschaft als konsequenter Idealist sowohl mit dem Unternehmer- als auch mit dem kämpferischen Arbeitermilieu in Konflikt. Eine Art Zivilisationskritik findet sich ebenfalls in Parteidokumenten. «Im Protzentum und in elender Moral geht ein guter Teil unserer schweizerischen Einfachheit und Ehrenhaftigkeit zugrunde», hielten die Junioren der Zürcher Freisinnigen 1920 fest.7 Konkretisiert hat sich das Bestreben, «dem verderblichen Materialismus einen Damm zu bauen», in der Gründung der Evangelischen Volkspartei (EVP, 1917 im Kanton Zürich, 1919 auf schweizerischer Ebene), die sich ausserhalb des Gegensatzes von Bürgertum und Arbeiterschaft stellen wollte.8 Im Übrigen scheint sich diese Welle verlaufen zu haben. Man mag sie als Ausdruck eines Unbehagens angesichts der internationalen industriellen Zivilisation, der sozialen Zerklüftung und von Tendenzen zur Individualisierung interpretieren.
Zu dem, was man Modernisierungskritik nennen kann, fügten sich eine Idealisierung des ländlichen Lebens und ein Bild der Stadt als eines in jeder Beziehung ungesunden Orts. Die Bauernschaft halte den Städter «für einen halben oder ganzen Müssiggänger, für einen Weichling und Genüssling», formulierte Leonhard Ragaz gewiss übertreibend; besonders hasse sie die sozialistischen Arbeiter.9 Im Landesstreik waren bewusst ländliche Truppen eingesetzt worden, und für die Grippeopfer unter den Soldaten machten manche wiederum die Sozialisten verantwortlich. Schon gegen die Eingemeindung, die Zürich 1891/93 aufgrund einer kantonalen Abstimmung schlagartig zur grössten Stadt der Schweiz machte, waren bäuerliche Organisationen angetreten, indem sie ein «neues Babylon» oder ein «kleines London» als Schreckgespenster an die Wand malten (wobei sie die Tonhalle als «Heulkasten» bezeichneten). Ähnlich befürchteten manche mit der Einführung des Proporzwahlrechts 1916 eine Stärkung des «Stadtmolochs».10
Eine andere Kritik richtete sich gerade gegen ländlich-nationale Mythen. Der Schriftsteller Jakob Bührer nahm sich «Das Volk der Hirten» satirisch vor, machte in «Marignano» einen Dienstverweigerer zur zentralen Figur und formte in seinem Stück «Ein neues Tellenspiel» (1923) den Helden zu einem Weltbürger um, der auf Distanz zum Rütlischwur der Besitzenden geht und von einem universalen Aufstand aller Leibeigenen und Hörigen träumt.11 Die Bühnenwerke wurden erstmals in Zürich aufgeführt.
Als Bewegung des individuellen, inneren Aufbruchs – nach dem Bruch mit Bestehendem – nahm in dieser Zeit die Psychoanalyse einen Aufschwung. Um Carl Gustav Jung bildete sich 1916 der Psychologische Club Zürich als fachlicher wie auch persönlicher Kreis, von dem verschiedene weitere Aktivitäten, von der Vortragsveranstaltung bis zum Tanzkurs, ausgingen.12
Irma Löwinger und Alexander Schaichet auf dem Zürichsee, 1918.