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Juden aus Osteuropa – Anfeindungen und Karrieren

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Zürichs Offenheit nach aussen, zumindest hin zum deutschsprachigen Raum, schloss xenophobe Tendenzen keineswegs aus. Dies zeigte sich besonders an der Stellung der Juden aus Osteuropa.85 Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert waren viele Juden, die Russland, Polen und Galizien wegen des Verfolgungsdrucks oder wegen der Bildungs- und Berufsmöglichkeiten im Westen verlassen hatten, in die Schweiz und vor allem nach Zürich gelangt, allenfalls auch nach einem Aufenthalt in Deutschland oder Österreich. Eine städtische Statistik verzeichnet für die Jahre 1911 bis 1917 insgesamt 8000 solcher Zuzüge.86 1920 waren 6500 Juden in Zürich niedergelassen, 2650 davon Ausländer aus Osteuropa. Sie wohnten mehrheitlich in Aussersihl und Wiedikon, auch in Oberstrass, in der Nähe von Universität und ETH, und waren als Handwerker, Händler und Geschäftsleute, später zunehmend akademisch oder künstlerisch tätig. Auch den schweizerischen und anderen westlichen Juden gegenüber grenzten sich viele ab, und es bildete sich als weitere Gemeinde die Agudas Achim, während andere – sofern nicht völlig säkularisiert – der Israelitischen Cultusgemeinde angehörten.

Hausierer waren bald Objekt von Misstrauen und Schikanen. Ein verbreitetes, zum Teil «offizielles» Bild der Ostjuden war noch pauschaler negativ. Die russischen Juden stünden «auf der denkbar niedrigsten Kulturstufe», urteilte der freisinnige Stadtrat Robert Welti 1906, und für die Eidgenössische Fremdenpolizei stand 1919 fest, dass die Juden aus Polen und Galizien «sich unserem Volk schwer oder nicht assimilieren» könnten.87 Hinzu kam das Konstrukt des staatsgefährdenden «Judeo-Bolschewismus».88 Die mit der Wohnungsnot oder dem Ausländerrecht begründeten Wegweisungen, besonders nach Kriegsende, trafen Juden aus Osteuropa weit überproportional; es soll sich um Hunderte von Familien gehandelt haben.89

Die vorher im Allgemeinen recht grosszügige Einbürgerungspraxis wurde durch eine restriktivere und diskriminierende Politik abgelöst, indem der Stadtrat, dem demokratischen Polizeivorstand Hans Kern geschlossen folgend, für Ostjuden die «Assimilation» als Vorbedingung betonte und die Wohnsitzfrist (Wartezeit) 1911 von den üblichen 2 auf 10 und 1920 von den sonst geltenden 10 auf 15 Jahre verlängerte.90 Neben dem «Fremdtum» der Betroffenen diente auch die Gefahr einer feindlichen Haltung der Bevölkerung als Argument. Im Weiteren wurde ein beträchtlicher Teil der Gesuche abgelehnt. Alexander Schaichet hatte bereits nach 13 Jahren – im dritten Anlauf – Erfolg, musste allerdings unschöne öffentliche Vorwürfe über sich ergehen lassen. Der Schuldispens am Sabbat wurde trotz wiederholten Angriffen faktisch gewährt.

Manifestationen des Antisemitismus riefen immer wieder Reaktionen – von Betroffenen und von Nichtjuden – hervor. Beachtlich sind jedenfalls die Beispiele von Juden aus Osteuropa, die in diesem Umfeld besondere Positionen erlangten. David Farbstein, 1868 in Warschau geboren und als Student in die Schweiz gekommen, wurde Rechtsanwalt, engagierte sich in der SP, ebenso als Zionist, und wurde 1922 Nationalrat.91 Der in Kiew aufgewachsene Ökonom Manuel Saitzew wurde 1921 Professor an der Universität. Tadeusz Reichstein, ab 1937 ETH-Professor für Chemie und später mit dem Medizin-Nobelpreis gewürdigt, war in Polen geboren worden, als Kind in die Schweiz gekommen und 1914 Zürcher Bürger geworden. Lazar Wechsler, polnischer Herkunft, seit 1914 in Zürich, gründete 1924 die Praesens-Film AG, die in den 1930er-Jahren «den Schweizer Film» hervorbringen sollte. Die gebürtigen Ukrainer Sinai Tschulok und Max Husmann waren Pioniere mit ihren Privatschulen, die auf die Maturität vorbereiteten.92 Gegen subtile oder massivere Widerstände hatten wohl viele Ostjuden anzukämpfen. Der bereits erwähnte Wladimir Rosenbaum ist allerdings ein Beispiel, das sich nicht verallgemeinern lässt. Er gelangte nach einer schwierigen Jugend als Anwalt zu grossem Erfolg, eckte allerdings manchenorts an, wurde später im Zusammenhang mit Transaktionen im Spanischen Bürgerkrieg zu einer Haftstrafe verurteilt, verlor fast alles und machte im Tessin als Antiquitätenhändler einen Neuanfang. «Einen Juden aus Russland, den kann nichts schrecken!», bemerkte er in seinem Tagebuch.93

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