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Vom «sozialen Galopp»zum Bürgerblock
ОглавлениеDer Bundesrat ging nach dem Landesstreik auf einige Reformanliegen ein. Schon auf Anfang 1920 wurde im Industriesektor die 48-Stunden-Woche gesetzlich eingeführt. Mitte 1919 legte die Landesregierung dem Parlament einen Verfassungsartikel über die Alters- und die Invalidenversicherung vor. Nach dem «sozialen Galopp» kam dieses Projekt aber nur sehr mühsam voran. Hatte der Bundesrat in der Krisensitzung des Parlaments 1918 eine Beteiligung der Sozialdemokratischen Partei (SP) an der Regierung und allenfalls deren Vergrösserung auf neun Mitglieder befürwortet, war von solchen Schritten bald nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: 1919/20 erhielten die Konservativen einen zweiten Sitz, und gewählt wurde, als Nachfolger des Liberalen Gustave Ador aus Genf, der Freiburger Jean-Marie Musy, der sich nach dem Landesstreik besonders unversöhnlich exponiert hatte.
Schwankungen wie in der Bundespolitik sind auch bei den Zürcher Freisinnigen festzustellen.22 Im Mai 1919 stellte die kantonale Partei ein neues Programm auf und forderte – gegen den Widerstand von Gewerbe- und Industrievertretern – unter anderem eine staatliche Altersversicherung, die Förderung des Wohnungsbaus, eine Steuerreform und das Frauenstimmrecht. Schon nach den Nationalratswahlen des gleichen Jahres begann sie, wieder von anderen Kräften dominiert, von diesen Positionen abzurücken. Sie setzte auf die Wirkung einer starken Wirtschaft und wollte die staatliche Sozialpolitik auf Notsituationen beschränken. Insgesamt ergab sich eine eher defensive Politik.
Die Konstellation hatte sich in verschiedener Hinsicht geändert. Der Wechsel vom Majorz- zum Proporzwahlsystem (1916/17 im Kanton Zürich, 1918/19 auf Bundesebene) schwächte den bis anhin dominierenden Freisinn im Parlament ganz erheblich. Hinzu kam als neuer Faktor auf der rechten Seite die Bauernpartei.23 Die 1917 innerhalb des Landwirtschaftlichen Kantonalvereins gegründete Organisation diente als Interessenvertretung eines Teils der Wirtschaft und der Bevölkerung, der sich im Krieg seiner Bedeutung für die Landesversorgung bewusst geworden war, sich aber Sorgen um seine Zukunft in der Industriegesellschaft machte. Politisch sahen sich die Bauern speziell innerhalb der Freisinnigen Partei (FP) zurückgesetzt. Die Bauernpartei (1951 BGB, seit 1971 SVP) hatte auch einen allgemein konservativen Zug, indem sie gegen Bolschewismus, Überindustrialisierung, Überfremdung und grossstädtische Lebensweise ankämpfen wollte. 1919 errang sie auf Anhieb eine starke Position im Kantonsrat24 und einen Sitz in der Regierung, im folgenden Jahr kam ein zweiter Vertreter in der Exekutive hinzu.
Der doppelte Machtverlust des Freisinns wurde durch die bürgerliche Blockbildung mehr oder weniger kompensiert, zumal da auf Bundesebene auch die Konservativen, die einstigen Gegner, in der Allianz waren. Im Kanton Zürich spielte die damalige Christlichsoziale Partei25 eine weit geringere Rolle, obschon der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung 1920 fast 21 Prozent (wovon gut ein Drittel Ausländer war) erreichte.
Gleichzeitig liess der unmittelbare Druck der Linken etwas nach. Die Entwicklungen in Deutschland und das Ende der Räterepublik in Ungarn dürften Revolutionserwartungen gedämpft haben. Ein allgemeiner Streik, zu dem die Arbeiterunionen Basel und Zürich im August 1919 aufriefen, scheiterte rasch unter dem Druck eines erneuten Truppeneinsatzes, bei dem vier Personen getötet wurden.26 Die SP konnte zwar dank Proporzverfahren ihre parlamentarische Position verbessern, blieb aber klar in der Minderheit und weitgehend isoliert. Hinzu kam die interne Auseinandersetzung um den Beitritt zur Dritten oder Kommunistischen Internationale. Die Mitglieder beschlossen 1919 und 1921 in Urabstimmungen, der Parteienorganisation nicht, beziehungsweise nicht zu Lenins Bedingungen, beizutreten, worauf sich die Minderheit als Kommunistische Partei (KP) abspaltete. In ihrem Programm von 1920 hielt die SP allerdings am Weg der «Diktatur des Proletariats» fest und bestärkte damit eine bürgerliche Abwehrhaltung.
Die Blockbildung machte die Lage der Parteien im Bereich zwischen den Polen schwieriger. Die einst mächtigen Demokraten hatten nach dem Verlust des bäuerlichen Flügels vor allem noch in der wachsenden Angestelltenschaft eine Basis. Der reformerisch-linke Grütliverein verlor rascher an Bedeutung und löste sich 1925 auf, mit der Empfehlung an die Sektionen, sich der SP anzuschliessen.
Das «Reformfenster» nach dem Krieg war auch für die politische Gleichberechtigung der Frau kurze Zeit offen. Der Zürcher Kantonsrat unterstützte eine Initiative von 75 seiner Mitglieder für das Frauenstimmrecht, doch erreichte diese 1920 nur einen Stimmenanteil von zwanzig Prozent (27% im heutigen Bezirk Zürich, 4% im Bezirk Dielsdorf).27 Schon 1911 war im Kanton die Verfassungsgrundlage für die gesetzliche Einführung des Frauenwahlrechts für bestimmte Behörden geschaffen worden. Sogar einzelne Schritte wurden aber vom Volk blockiert.