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Fallvignette

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Es folgt zur Verdeutlichung ein beispielhaft zusammengefasster Therapiebericht von Aylin8, einem damals 16 Monate alten Mädchen aus dem türkischen Kulturkreis.

Laut Auskunft Ihrer Mutter, Frau D., die über die Empfehlung ihrer Kinderärztin zu mir findet, äße Aylin viel zu wenig. Sie könne das Kind nur füttern, wenn es durch Fernsehen oder Spielsachen abgelenkt sei. Die Mutter (19 Jahre alt), der Vater (21 Jahre alt), beide in Wien geboren, seien sehr beunruhigt, weil die Tochter »so wenig esse« und machten sich Sorgen um ihre physische und psychische Gesundheit.

Beide Herkunftsfamilien nehmen regen Anteil an der Erziehung und Pflege des Kindes. Das zeigt sich auch an den wechselnden Familienmitgliedern, die Fr. D. zu unseren Terminen begleiten.

Aylin ist, von der Kinderärztin abgeklärt, in gutem Gesundheitszustand. Sie ist ein blasses, zartes, sehr schlankes Kleinkind, liegt mit ihrem Körpergewicht jedoch im Normbereich (15. Perzentile). Sie hat schöne große dunkle Augen, die wenig Blickkontakt halten; im Raum und mit Spielsachen exploriert sie wenig, zeigt sich aber auch nicht schüchtern oder ängstlich. Der immer wieder gesuchte Körperkontakt zur Mutter ist altersentsprechend. Mein erster Eindruck ist, dass sie wenig Selbstkontakt hat, genau wie die hübsche, ebenso zarte Mutter. Auf beiden scheint ein enormer Druck zu lasten. Die Großeltern väterlicherseits, deren Meinung absolut zu respektieren ist, sind überzeugt, dass Aylin zu mager und die junge Mutter zu nachlässig sei. Frau D. tue ihr Möglichstes, um Aylin »zu stopfen« und ist dabei kaum mehr im Kontakt mit ihrer Tochter und mit sich selbst. Weder Aylin noch ihre Mutter haben die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse ausreichend wahrzunehmen. Der junge Vater vertritt die Meinung seiner Eltern und konzentriert sich nur mehr auf die Essmengen seiner Tochter. Frau D. erzählt exemplarisch: »Kaum kommt er von der Arbeit heim, fragt er mich sofort, ohne Begrüßung, wie viel sie gegessen hat.«

Auch hier sind anfangs Körper- und Zentrierungsübungen der Schlüssel zu einem neuen Zugang. Durch die einfache Strukturiertheit der Kindesmutter ist Reflexion nur bedingt möglich und durch die strikten ethnischfamilialen Regeln, denen sie unterliegt, ist Wachstum erschwert/begrenzt. Aber die Zugewandtheit, der Kontakt zwischen Mutter und Tochter, verändert sich durch ganz basale Übungen. Auch schon dadurch, dass ich begleitende Familienmitglieder bitte, im Vorraum zu warten, ist das Signal für alle deutlich, dass es hier um die Mutter-Kind-Einheit geht, um deren Autonomie. Beide können dadurch ihre Kontaktgrenzen unter neuen Voraussetzungen spüren/erfahren.

Meine Frage, was die Mutter von ihrer Kindheit im gleichen Alter um die 16 Monate noch weiß, führt zu Parallelen zwischen Mutter und Tochter und der Erkenntnis, dass es sehr zarte Kleinkinder gibt, die trotzdem gesund und glücklich sind und gut gedeihen – die Mutter selbst ist der lebende Beweis. Das Wissen also, das sie in sich trägt, tritt deutlich in ihr Bewusstsein und stärkt ihre Intuition, wie sie als Hauptzuständige mit dem Essverhalten ihrer Tochter umgehen will.

In der zweiten Stunde nehmen wir uns Zeit für Essen und Spielen, wobei ich für Frau D. den Fokus weg von der Nahrungsmenge hin zum Wie der Nahrungsaufnahme lenke: Was macht Aylin mit dem Brei, mit den Apfelstückchen, mit dem Stück Brot? Was glaubt die Mutter, was ihr Kind jetzt und hier damit machen will? Was darf Aylin mit dem Essen zu Hause oder bei den Schwiegereltern sonst noch machen? Ist eine spielerische Herangehensweise an die Speisen möglich, erlaubt oder verboten? Wo und wie werden kindliche Explorationsbedürfnisse unterbrochen und frustriert? Ich habe den Eindruck, die Mutter kann hier den beratenden Teil (Kinder in Aylins Alter machen das so, brauchen das so, zeigen ihr Interesse so …) gut annehmen und die vielen kleinen Kontaktunterbrechungen (zwischen Mutter und Kind und Kind und Nahrung) während einer Füttersequenz wahrnehmen.

Nach der vierten Stunde kommt es zu einer Therapiepause durch den Aufenthalt bei Aylins Urgroßmutter in der Türkei, nur Mutter und Kind, ohne Vater und dessen Familie, und dies bringt große Veränderung: Aylin isst selbstständig und interessiert und Mengen, die die Mutter beruhigen. Der Teufelskreis scheint durchbrochen.

Nach der Rückkehr nach Wien erhalte ich zuerst ein freudiges Mail, ein paar Tage später eines mit dem Titel »Hilfe, meine Tochter macht mich verrückt«. Ein weiterer Termin bei mir soll bald stattfinden, es sei alles wieder beim alten. Wir beginnen von neuem, wobei Gewahrseins-Übungen jetzt Vergleiche einbeziehen können: Wie ist es hier, wie war es in der Türkei bei ihrer »Anneanne« (Oma)? Wie hat sich unter welchen Umständen die Mutter gefühlt, wie die Tochter? Wie hat Aylin agiert/reagiert? Frau D. wird immer klarer, was die Meinung und der Druck des familiären Umfeldes ausmachen. Und sie kommt zu ihrem Gefühl, wie sehr sie die Zweisamkeit mit ihrem Mann vermisst. In der Folge sprechen wir Support-Möglichkeiten durch: Wie ist Schritt für Schritt Autonomie zu erreichen, einerseits als Paar und andererseits als Eltern?

Die Stunden, die wir gemeinsam arbeiten, verbessern Gewahrsein, Bewusstheit und Handlungsfähigkeit, auch wenn Frau D. immer wieder berichtet, dass sie sich gegen die Vorstellungen der väterlichen Familie nicht endgültig durchsetzen kann. Zu Therapieende (vier Stunden vor ihrer Türkeireise und vier Stunden danach) sind teils bescheidene, teils deutliche Veränderungen in Richtung Wachstum und Emanzipation zu bemerke. Frau D. hat z. B. eingeführt, ihre Tochter zu ihren Freundinnen mitzunehmen, zuvor sollte das Kind immer bei den Großeltern bleiben, wenn die junge Mutter das Haus verlässt. Sie führt Gespräche mit ihrem Mann, fordert ein, dass er sein Vertrauen ihr gegenüber bei seiner Familie deutlich macht und damit neu festgelegt ist, dass die Verantwortung für Aylins Ernährung nur bei Frau D. liegen soll. Sie initiiert auch, dass die jungen Eltern wieder etwas gemeinsam als Paar unternehmen (wobei die Großeltern gerne Babysitter sind). Und die Zeit zu dritt kann phasenweise unbeschwerter genossen werden. Intuitionsgestärkt geht Frau D. feinfühliger mit den Bedürfnissen ihrer Tochter um, Verweigerungen bei der Nahrungsaufnahme können besser akzeptiert werden, ohne in einen Angst- und Stresskreislauf zu kommen.

Auf Wunsch der Mutter vereinbaren wir keine weiteren Termine, sie würde sich bei Bedarf melden. Von der behandelnden Kinderärztin erhalte ich (mit Zustimmung von Frau D.) ein knappes Jahr später die Rückmeldung, dass derzeit der Umgang mit Trotz und dem Setzen von Grenzen zwar fordernd für die Mutter sei, sich rund um das Thema Essen die Situation aber weiter entspannt habe und nicht mehr Teil eines familiären Machtkampfes sei.

Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen

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