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Fallgeschichte: Die Geschichte von Anatol, dem Jungen, der nicht wusste, warum er immer so viel weinen muss3
ОглавлениеAnatols Mutter rief mich in meiner psychotherapeutischen Praxis an und bat um ein Erstgespräch, eine Psychologin habe ihr nach einer klinischen Testung dringend geraten, für sich und ihren Sohn Anatol psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie wolle alleine zu diesem Gespräch kommen.
Anatol war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt, er lebte als Einzelkind mit seiner Mutter, einer moldawischen Altenpflegerin und mit seinem Vater, einem selbstständigen Handwerker. Zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme hatte der Vater wieder zu trinken begonnen, nachdem er über ein Jahr abstinent gewesen war.
Als mir Anatols Mutter das erste Mal gegenübersaß, sagte sie: »Anatol ist komisch, aber die Situation zuhause ist komisch.« Was meine sie damit, fragte ich nach. »Mein Mann trinkt, wir streiten uns sehr viel und Anatol hat Angst, sehr viel Angst. Er muss viel weinen, wissen Sie.« Sie selbst habe als Kind auch viel Angst gehabt, auch ihr Vater war Alkoholiker, für ihren Sohn Anatol wünsche sie sich etwas anderes, er solle nicht so viel Angst haben.
Wie äußere sich die Angst, fragte ich weiter. Anatol habe vor allem Angst davor, alleine zu bleiben, auch vor Geräuschen fürchte er sich und vor Spinnen. Er beginne in letzter Zeit immer öfter grundlos zu weinen, was sie nicht verstehen könne, weil er doch ansonsten so ein fröhlicher Bub sei.
Außerdem leide er immer wieder an heftigen Kopfschmerzen und Bauchschmerzen. In der Kinderklinik hätten sie keine organischen Ursachen finden können, vermutlich seien die Beschwerden psychosomatischen Ursprungs. Die Mutter hat ein testpsychologisches Gutachten mitgebracht, in dem die Angststörung und die psychosomatische Reaktionsbildung Anatols formuliert waren, ferner die Schulprobleme in jüngerer Zeit. Aus dem Gutachten ging weiter hervor, dass Anatol besonders dann Angst hatte, wenn seine Mutter im Nachtdienst als Altenpflegerin war und er mit seinem Vater alleine zu Hause sein musste. Sein Vater betrank sich in diesen Nächten und Anatol konnte vor Angst nicht schlafen, er fühlte sich bedroht, glaubte, etwas Schlimmes könnte passieren. Als Anatol vier Jahre alt war, starb der Bruder der Mutter bei einem Verkehrsunfall, dieser Onkel hatte für Anatol und dessen Mutter eine große Bedeutung. Im Alter von fünf Jahren erlitten Anatol und seine Eltern selbst einen schweren Autounfall. Am Tag zuvor hatte der Vater sehr viel getrunken. Das Auto wurde von einer Leitplanke durchbohrt, die knapp neben Anatols Sitzplatz in das Auto eingedrungen war. Anatol und seine Eltern hatten großes Glück, dass sie diesen Unfall mit leichten Verletzungen überstanden. Dieses Ereignis war laut Aussage der Mutter ein wichtiger Einschnitt für sie und ihre Familie. Sie begann selbst mit einer Psychotherapie, und der Wunsch, ihren Mann zu verlassen, reifte in ihr. Sie habe zum damaligen Zeitpunkt nur noch eine Art Geschäftsbeziehung zu ihm gehabt, meinte sie. Im Kindergarten war Anatol zu diesem Zeitpunkt noch nicht auffällig, er war ein kontaktfreudiges Kind, aber in der Vorschule und vor allem in der Volksschule gab es dann verstärkt Probleme. Er störte den Unterricht, redete viel dazwischen. Mit acht Jahren verstärkte sich dann Anatols Angst.
Die Mutter begann zu weinen, sie erinnerte sich an ihre eigenen Ängste als Kind in einer Alkoholikerfamilie, ihren Wunsch, zu flüchten, woanders ein Leben aufzubauen. Bis dorthin sei es ein weiter Weg gewesen, sagte sie und sie sei immer noch nicht ganz angekommen. In mir wuchs ein Gefühl großen Respekts für diese Frau und ihr Ringen für das eigene Leben und das ihres Sohnes.
Eine Woche später kam Anatol das erste Mal mit seiner Mutter zu mir. Fünfzig weitere Sitzungen über einen Zeitraum von zwei Jahren sollten folgen. Vor mir stand ein athletischer, sympathischer Junge, der mich mit wachen Augen anschaute und sofort mit mir Kontakt aufnahm. Auf die Frage, was er glaube, warum er hier sei, sagte er: »Weil mein Vater säuft!«Dann begann er zu weinen, eine Mischung aus Traurigkeit und Wut schlug mir entgegen.
Ich war beeindruckt, wie schnell Anatol sich mit seinen Sorgen zeigte. Dann sagte er: »Weißt du, ich bekomme in letzter Zeit immer so viel Angst, dass was Schlimmes passiert, auch habe ich Angst vor meinen eigenen Gedanken!« Anatol ließ erst in der dritten Sitzung zu, dass die Mutter den Raum verließ. Er malte in dieser Stunde ein Bild von einem Haifisch, der er selbst gerne wäre, da bräuchte er keine Angst mehr zu haben vor nichts und niemandem, meinte er. Ich rief den Vater an und vereinbarte ein Gespräch mit ihm alleine, da die Mutter zu diesem Zeitpunkt keine gemeinsamen Gespräche mit ihm wünschte.
Er kam und zeigte sich kooperativ, er mache dies allerdings nur für seinen Sohn, betonte er. Er fand, seinem Sohn ginge es bedeutend besser, wenn sich seine Frau nicht immer so aufregen würde. Der Alkohol war immer wieder ein Problem, gab er zu, aber er sei zuversichtlich, irgendwann würde er dieses Problem schon noch ganz in den Griff bekommen. Er stammte selbst aus einer Alkoholikerfamilie, sei aufgewachsen in einer ländlichen Region Österreichs, in der es üblich war, bei der Feldarbeit zu trinken. »Alle haben da getrunken, Erwachsene und auch wir Kinder.« Er erzählte von seiner ersten Ehe, die am Alkohol gescheitert sei. Er habe einen erwachsenen Sohn aus dieser Ehe, der sei ebenfalls Alkoholiker. Seine zweite Ehe drohe nun abermals zu scheitern, das wüsste er. Er versuche alles, um sie zu retten, auch für Anatol. Es sei nicht gut, wenn ein Junge ohne Vater aufwächst, meinte er. Er habe aber große Probleme, mit Anatol offen über sein Alkoholproblem zu sprechen. Er liebe seinen Sohn sehr und es käme auch vor, dass Anatol zu ihm sagte: »Bitte trinke heute Abend nichts«, und es gelänge ihm dann durchaus, an diesem Abend nichts zu trinken. Er sprach über seine abgebrochenen Therapieversuche, es gab bereits zwei, einmal versuchte er es stationär, einmal ambulant, beide Anläufe waren fehlgeschlagen. Ich hörte deutlich seinen Wunsch, abstinent zu leben und vor allem spürte ich seine aufrichtige Liebe zu seinem Sohn.
Als ich Anatol das nächste Mal sah, wirkte er lustlos und unmotiviert, ganz anders als in den Stunden vorher. Beim Ballspiel klatschte er mir mit der Hand auf den Hintern. Ich sagte ihm, er solle das unterlassen.
Im weiteren Verlauf der Stunde symbolisierte er in einer Zeichnung seinen Vater als Figur, die weggeworfen wird, die Mutter als Drachen und sich als Fledermaus, die wegfliegt. Er kommentierte die Zeichnung mit den Worten: »Im Wald, da ist keine Liebe bei den Zwergen.« Beim Öff nen der Türe empfing uns seine Mutter mit den Worten: »Muss ich etwas wissen?« Ich gab keine direkte Antwort. Verwirrt und ratlos blieb ich zurück. Nach drei Monaten Einzeltherapie kam es zu einer dramatischen Situation: Nach der Mittagspause näherte ich mich der Eingangstüre des Hauses, in dem sich meine psychotherapeutische Praxis befindet. Ich sah gerade noch, wie Anatol weinend weglief. Ich rief ihm nach, er hörte mich, kam zurück und fiel mir schluchzend in die Arme. »Ich habe gedacht, du bist nicht da.« Ich hatte zur Mittagspause das Haus verlassen, der Türöffner war noch nicht in Betrieb und Anatol war verunsichert, ob ich ihn vergessen hätte. »Du bist so früh dran«, sagte ich zu ihm, »ich habe dich nicht vergessen, komm wir gehen gemeinsam hinauf.« Er war erleichtert und beruhigte sich allmählich. In diesen kurzen Momenten zeigte sich seine abgrundtiefe Angst vor dem Verlassenwerden, seine Angst vor dem Alleinsein. Dies war unsere letzte Stunde vor den Ferien. Er wollte mir eine Karte aus dem Urlaub schicken und freute sich, dass wir mit Schulbeginn wieder unsere Treffen hätten, meinte er zum Abschluss. Ich freute mich auch auf ihn.
Nach den Ferien erfuhr ich von Anatols Mutter am Telefon, dass der Vater wieder verstärkt zu trinken begonnen habe. Anatol spielte den Rückfall in der nächsten Sitzung herunter, er habe nur einmal getrunken, nahm er seinen Vater in Schutz. Die Mutter war während der Sitzung im Wartebereich, gestand mir nach der Sitzung, sie habe versucht, an der Türe zu lauschen.
Ich lud sie daraufhin zu einem Gespräch ein und vereinbarte mit ihr, dass sie zu Stundenbeginn dabei sein könne, um mich über wichtige Ereignisse zu informieren, aber die restliche Stunde weggehen solle und erst zu Stundenende wiederkommen, um Anatol abzuholen. Sie war damit einverstanden. Ferner bat sie mich um die Telefonnummer eines mir bekannten Suchttherapeuten, den ich in einem früheren Gespräch empfohlen hatte. Als Anatol das nächste Mal kam, hatte er Tränen in den Augen. »Mein Vater säuft wieder«, sagte er. »Ich habe damit gerechnet, aber es ist so schlimm, weil es wieder anfängt.« Während des Spielens war er sehr zornig, warf Figuren umher und konnte sich kaum beruhigen. Nach der Stunde war ich müde und erschöpft. Zur nächsten Sitzung erschien er sichtlich entspannt, seine Eltern seien mit dem neuen Auto der Mama in den Urlaub gefahren. Papa habe nämlich Mama versprochen, mit dem Trinken aufzuhören. Er habe ihr ein tolles Auto gekauft und nun seien sie gemeinsam auf Urlaubsreise. Er selbst wohne für ein paar Tage bei der Freundin der Mama. Als wir uns während eines Ballspiels über seine Eltern unterhielten, sagte er plötzlich zu mir: »Und du bist mein Anwalt!«
Ich lud beide Eltern zu einem gemeinsamen Gespräch ein und erfuhr, dass sie es noch einmal zusammen versuchen wollten, vor allem wegen des Kindes. Außerdem sei ein weiterer Therapieversuch des Mannes geplant.
Zur nächsten Sitzung kam Anatol wieder völlig aufgelöst. Seine Eltern hätten sich gerauft, daraufhin sei die Polizei gekommen und sein Vater dürfe nun für ein paar Tage nicht in die Wohnung. Zwei Wochen später war wieder alles beim Alten. »Zuhause ist es wieder ruhig«, sagte Anatol. In dieser Sitzung fiel auf, dass er kaum dazu in der Lage war, sich länger auf ein Spiel oder eine Übung zu konzentrieren. Er lenkte ab, als ich ihn auf bestimmte Themen ansprach.
Schließlich ermunterte ich ihn zu einer Imaginationsübung: Er solle sich vorstellen, er sei an einem guten Platz, wo er ganz sicher ist und ihm niemand auf die Nerven gehe. Er malte das Haus seiner Oma im fernen Moldawien. Beim Malen wurde er ganz ruhig und entspannt. Beim Elterngespräch zeigt sich die Mutter sehr zufrieden mit Anatols Fortschritten, auch der Vater zeigt sich sehr motiviert, er habe vor, bei dem Suchttherapeuten anzurufen und einen Termin zu vereinbaren. Anatol kam zur nächsten Sitzung mit einer Verletzung am Auge, welche er sich bei einem Sturz zugezogen hatte. Anatol fragt mich, ob er eine Doppelstunde haben dürfe, eine Therapiestunde sei immer so kurz.
Anatols Mutter rief an, sie wolle aus Geldgründen das Setting verändern. Ich war zu diesem Zeitpunkt keineswegs mit einer Veränderung einverstanden. In einem Elterngespräch wurde deutlich, dass das Ehepaar kurz vor der Trennung stand. Außerdem hatte der Mann noch immer kein Erstgespräch beim Suchttherapeuten, er habe die Telefonnummer verloren, sagte er.
Anatol verletzte sich an der Hand, kam mit eingegipstem Arm in die nächste Sitzung und erzählte viel von seinem Vater, wie schön es früher mit ihm war und wie schwierig es jetzt sei. Er stellte Vergleiche an zwischen mir und seinem Vater: »Der ist älter als du, hat auch ältere Zähne, aber er kennt sich viel besser aus mit handwerklichen Dingen, der hätte schon längst deinen Holzboden repariert.« Zur nächsten Sitzung drängte sich die Mutter wieder in die Stunde, sie wolle dabei sein, Anatol sei in der Schule wieder so auffällig. Anatol wollte aber nicht in ihrer Gegenwart sprechen. Wir vereinbarten wieder ein Elterngespräch. Anatol war erleichtert. Er weinte viel in der Stunde. »Ich weiß auch nicht, warum ich so viel weinen muss«, sagte er. Lange sprachen wir darüber, was ihn alles zum Weinen brachte. Wir gaben seinen Tränen gemeinsam eine Sprache. Inzwischen wurde das Setting nicht mehr infrage gestellt, zusätzlich zu den regelmäßigen Einzelsitzungen kamen in dieser Phase verstärkt Muttergespräche, vereinzelt auch gemeinsame Elterngespräche hinzu. Die familiäre Situation schien sich wieder einmal entspannt zu haben.
Zu einem gemeinsamen Elterngespräch kam die Mutter chic angezogen, der Vater im Arbeitsgewand. Der Vater sei derzeit trocken, erzählten beide stolz. Anatol habe weniger Angst, in der Schule gebe es auch weniger Klagen.
Wieder verletzte sich Anatol, diesmal am Fuß. Er könne sich nur mühsam fortbewegen, sagte er. In der gleichen Stunde erzählte er mir, dass seine Mutter gesagt habe, die Stunden bei mir könnten nicht ewig dauern.
In einem weiteren Elterngespräch vereinbarten wir, nach dem Sommer ein verändertes Setting zu erproben. Anatol solle nur noch alle zwei Wochen kommen. Er war damit einverstanden. Als wir kurz vor Weihnachten eine neuerliche Stundenreduzierung und ein Therapieende überlegten, verletzte er sich bei einem Sturz auf dem Eislaufplatz. Er wurde an der Lippe genäht, war beim Sprechen eingeschränkt, sein Gesicht war geschwollen und er hatte wieder einen Gips, dieses Mal an der linken Hand. Die Verletzungsdichte während der letzten Monate war auffallend hoch. Nach Weihnachten stellte sich die familiäre Situation wie folgt dar: Anatols Mutter hatte die Scheidung eingereicht, Anatols Vater suchte eine neue Wohnung, die groß genug sein sollte, dass auch Anatol ein Zimmer bei ihm bekäme. Anatols Vater hatte eine medikamentöse Therapie begonnen, von der er sich dauerhafte Abstinenz versprach. Im März war es dann so weit: Der Vater zog in seine neue Wohnung. Die Mutter und Anatol lebten weiter in der alten Wohnung. Die Einzeltherapie wurde bis zu den Sommerferien durchgeführt. Anatol verletzte sich in dieser Zeit nicht mehr. Das Therapieende wurde vereinbart. Zu einem abschließenden Elterngespräch kam die Mutter alleine. Ich zitierte den früheren Satz der Mutter: »Anatol ist komisch, aber die Situation zuhause ist komisch.« Die Mutter erinnerte sich und veränderte den Satz: »Anatol ist nicht mehr komisch, aber die Situation war wirklich komisch, nun ist einiges klarer!« Die Angst sei weniger stark bei Anatol, insgesamt sei er viel selbstbewusster geworden, er störe nicht mehr den Unterricht, insgesamt gäbe es deutliche Verbesserungen, meinte sie. Auch die Bauchschmerzen seien verschwunden, ferner die Kopfschmerzen. Was sei wichtig gewesen, fragte ich nach. Wichtig sei die dringende Empfehlung der Kollegin zur Psychotherapie gewesen. »So haben wir uns überhaupt erst kennengelernt.« »Und natürlich die eigene Psychotherapie«, ergänzte sie. »Dies war wie eine Kette von Personen, die hilfreich waren.« Auch bei ihr habe sich einiges verändert. Sie habe Anatol früher öfters geschlagen, gestand sie nun, das habe sie schon länger nicht mehr gemacht. Sie verstünde ihn nun besser und habe mehr Geduld mit ihm. Die Trennung vom Vater Anatols sei auch erst jetzt möglich gewesen. Zu viel Angst hatte sie, alleine zu leben mit ihrem Sohn. Die Mutter saß mir gegenüber mit einem T-Shirt, auf dem gedruckt stand: Love, honor and respect. Am Ende des Gesprächs sprach ich sie auf dieses T-Shirt an und sagte ihr, dass ich viel Respekt vor ihr und ihrem Mut hätte, ihr Leben und das ihres Sohnes zu verändern. Am nächsten Tag kam Anatol zu seiner letzten Therapiestunde. »Hallo Anatol, dies ist heute unsere letzte Therapiestunde.« »Ja, ich bin traurig«, sagte er und tatsächlich hatte er Tränen in den Augen. Er erzählte mir vom Therapiebeginn, als er mich kennenlernte, er sprach nochmals von seiner Angst. »Weißt du, damals hatte ich sogar Angst hierher zu kommen, obwohl es hier so gut ist bei dir. Ich hatte sogar Angst vor mir selbst, vor allem Angst vor meinen eigenen Gedanken.« Wir saßen gemeinsam auf dem Sofa, er erzählte von seinen Urlaubsplänen. Er wolle mit seinem Vater auf eine Fahrradtour gehen. Er gewöhne sich auch langsam daran, dass er jetzt zwei Zimmer mit zwei Betten und zwei Kleiderschränken habe. »Weißt du, das hat auch Vorteile, die Mama ist immer so pingelig und beim Papa kann ich auch mal was liegenlassen, der hält das gut aus.« Sein Vater sei seit längerer Zeit wieder abstinent, aber inzwischen fühle er sich nicht mehr verantwortlich, das sei wirklich Sache seines Vaters. »Wenn mein Vater das Trinken aufhören will, dann soll er das tun, aber nicht für mich, sondern für sich«, sagte Anatol selbstbewusst. Als nun der endgültige Abschied gekommen war, fragte er mich, ob er mir schreiben dürfe oder sogar später einmal wiederkommen, wenn es ihm mal nicht so gut gehe. »Werden wir uns wiedersehen?«, fragt er mit Tränen in den Augen. Dann lächelte er plötzlich und sagte: »Vielleicht rufe ich dich ja mal später an, wenn ich erwachsen bin und Krach mit meiner Frau habe, dann kannst du mir sicher einen Rat geben, oder?« »Du darfst mich gerne wieder anrufen, auch wenn du keinen Krach mit deiner Frau hast, ich freue mich, von dir zu hören.«
Die Suchterkrankung des Vaters hatte starken Einfluss auf das Familiensystem und auf das psychische Wohlbefinden des Kindes, was in der Fallbeschreibung schnell deutlich wird. Die Abhängigkeit Anatols von den guten und schlechten Phasen des Vaters einerseits und denen der Eltern in ihrer Paarbeziehung andererseits wurde spürbar und wirkte unmittelbar in den Therapieprozess hinein. Hört der Vater nun auf zu trinken oder nicht? Bleiben die Eltern zusammen oder trennen sie sich? Auf diese beiden Fragen gab es keine klaren Antworten. Diese Ambivalenzen der Erwachsenen auszuhalten, war Teil der Therapie. Oftmals blieb ich wie Anatol mit einem Gefühl der Verwirrung, Orientierungslosigkeit und Erschöpfung zurück. Schließlich gab er mir die Rolle des Anwalts, somit brauchte er selbst nicht mehr Anwalt des Vaters und der schwierigen Beziehung seiner Eltern zu sein. Er konnte sich allmählich distanzieren, seine Überforderung und seine Ängste wurden weniger.
Das Thema Alkoholismus war von Anfang an benannt. »Mein Vater säuft« – mit diesen Worten begann Anatol unsere erste gemeinsame Sitzung. Seiner Mutter kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zu. Laut einer Untersuchung von Kösten4 verleugnet meist der nicht-trinkende Elternteil das Alkoholismusproblem des anderen Elternteils, Alkoholismus wird somit zur Krankheit namens Verleugnung. Dabei haben die Kinder von Alkoholikern wesentlich bessere Prognosen, selbst nicht Alkoholiker zu werden, wenn die Krankheit benannt wird und im Idealfall durch erfolgreiche Psychotherapie behandelt wird. Wie schwierig dies allerdings ist, zeigt sich beim Vater von Anatol. Er war anfangs sehr bemüht, konnte jedoch sein Engagement nicht konsequent durchhalten. Er kam im Gegensatz zu seiner Frau nicht regelmäßig zur Elternarbeit. Gründe dafür waren zum einen, dass er es nicht immer wollte, zum anderen, dass seine Frau es nicht wollte und auch, dass ich es als Therapeut nicht immer wollte. Ich muss mich selbst aus heutiger Sicht kritisch fragen, ob ich den Kontakt mit ihm phasenweise vermied, etwa in den Zeiten seiner Rückfälle. Und trotzdem: Es gab innerhalb der Therapie mit Anatol immer wieder Momente, in denen es gelang, den Vater positiv zu besetzen. So war unser Bemühen, ein realistischeres Bild des Vaters zu zeichnen, das neben den problematischen Seiten auch die guten Seiten zulassen konnte, gelungen. In Kindertherapien wirkt das Vaterthema viel unmittelbarer und direkter als später in Erwachsenentherapien. Wenn es nicht gelingt, unmittelbar mit dem Vater zu arbeiten, so ist es doch entlastend, diese Interaktion zwischen Vater und Sohn innerhalb der Therapie zu thematisieren. Dem Therapeuten kommt dabei die Rolle des Übersetzers, oder in Anatols Worten, die Rolle des Anwalts zu. In all den Therapiephasen, in denen der Vater thematisch auftaucht, in den Spielen, in Nebensätzen, in Übungen und Imaginationen, versuche ich den Vater positiv zu konnotieren, ihn dem Kind verständlicher zu machen. So gehen wir den Weg gemeinsam mit dem Kind und sprechen die Sprache, die das Kind versteht. Im Sinne Oaklanders geht es um eine Stärkung des Selbst. Anatol sollte lernen, sich selbst besser zu verstehen, vor allem seine Ängste besser in Sprache zu übersetzen, was ihm auch gut gelang. Er war sehr früh gezwungen, Verantwortung für seine Eltern, vor allem den Vater zu übernehmen, in diesem schwierigen Umweltfeld war er überfordert. Indem er diese Überforderung erkannte und sich davon distanzierte (»Wenn mein Vater das Trinken aufhören will, dann soll er das tun, aber nicht für mich, sondern für sich.«), hatte er wieder die Chance, sich altersadäquat zu entwickeln.
Nachtrag: Anatols Vater hat ein Jahr nach Beendigung der Kindertherapie seines Sohnes selbst mit einer Psychotherapie bei einem Kollegen begonnen, den ich empfohlen hatte.