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Gestalttherapeutische Antworten auf heutige Kindheit

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»Gestalttherapeutisch zu arbeiten heißt zunächst, den Blick darauf zu richten, was uns schwierige Kinder heutzutage mitteilen.« (Baulig /Baulig 2002, 47)

Die Gestalttherapie orientiert sich an einem Entwicklungsmodell der normalen und gesunden Entwicklung des Kindes. Kinder nehmen über ihre Sinne wahr. Sie sehen, hören, riechen, schmecken, tasten und bewegen sich. Sie bilden dabei ganz individuelle Vorlieben aus. Diese Sinneserfahrungen ermöglichen ihnen Erlebnisse. Kinder entwickeln sich durch diese Erlebnisse und treten darüber in Interaktion mit anderen Menschen. Die emotional gefärbten Erlebnisse werden benannt und erhalten eine begriffliche Einordnung. Das Kind übernimmt diese Benennungen. Es sind Benennungen für die Wahrnehmung des Kindes und damit werden Aussagen über das Kind selbst getroff en. Sind die Benennungen wohlwollend, wird das Kind sich sicher fühlen, die eigene Wahrnehmung wird von der Wahrnehmung anderer Menschen geteilt und sie wird als gemeinsame Wahrnehmung in Worte gefasst. Das Kind fühlt sich bestätigt, sein Entwicklungspotenzial kann sich frei entfalten. Fällt die Benennung negativ, irritierend, abwertend aus, wird das Kind nicht in seiner Wahrnehmung bestätigt. Das Kind fühlt sich unsicher, abgewertet, nicht gesehen. Das Kind muss sein inneres Bild von sich aufrechterhalten, im Dienste der Selbsterhaltung müssen Benennungen abgewehrt werden. Gelingt dies, weil das Kind mit seinem Selbstwert stark genug ist, kann Entwicklung weiter stattfinden, obwohl von außen Infragestellungen passieren. Ist die Irritation jedoch zu groß, bleibt dem Kind nichts anderes übrig, als seine psychische Abwehr zu aktivieren.

Abwehrformen wie Projektion, Introjektion, Retroflexion1 kommen zum Tragen, werden als Strategien eingesetzt und für ähnliche Situationen im Gedächtnis abgespeichert. Unsere Aufgabe als KinderpsychotherapeutInnen ist es, dem Kind behilflich zu sein, sich selbst mit seinen Sinneserlebnissen, seinen Körpererfahrungen, seinen Gefühlen als richtig zu erleben und sich allmählich von negativen Bewertungen zu befreien. Somit kann das Kind wieder einen Zugang zu sich und zu seinem Leben finden, was ermöglicht, die nächsten Entwicklungsschritte zu tun. Es geht darum, selbstunterstützende Kräft e im Kind zu aktivieren (vgl. L. Perls 1999, Votsmeier-Röhr 2005). Dazu muss dem Kind aber genügend Unterstützung und Rückhalt geboten werden. Nicht zu viel, sonst würde es überfordert. Nicht zu wenig, sonst würde es unterfordert und sein Interesse würde versiegen. Auch eine unberechenbare Unterstützung ist nicht hilfreich, es verunsichert das Kind, wenn Unterstützung einmal kommt und dann wieder nicht. Schließlich muss Unterstützung im Tempo und in der Dosierung adäquat sein, auch wird das Kind spüren, ob es aufrichtig gemeint ist oder nicht. Die Unterstützung muss verlässlich sein, darf nicht aufgedrängt werden, auch nicht verweigert, wenn ein Kind darum bittet. Wenn genügend Unterstützung erfolgt ist und ein Kind Selbstunterstützung gelernt hat, kann sich das Kind gut entwickeln. Schließlich geht es darum, dass Kinder lernen, sich selbst zu akzeptieren, sich um sich selbst zu kümmern und zum eigenen Gefährten werden. Dies gelingt nur, wenn wichtige Menschen zur Seite stehen. KindertherapeutInnen können solche äußeren Gefährten werden, die sich im Laufe des Therapieprozesses auch zu inneren Wegbegleitern mit Schutzfunktion wandeln können.

Oaklander (2009) und Mortola (2011) erforschen in ihren neuesten Arbeiten auf eindrucksvolle Weise die Wirkfaktoren in der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen. Oaklander legt bereits in The therapeutic process with children and adolescents2 einen ersten Entwurf vor. Ich werde mich im weiteren Verlauf auf diese Arbeiten beziehen und sie in Bezug zu eigenen Gedanken und Beobachtungen setzen. Der wichtigste Wirkfaktor in der Kindertherapie ist die Qualität der therapeutischen Beziehung.

»Nichts ist in einer Therapie möglich, wenn nicht zumindest im Ansatz eine Beziehung zwischen Therapeut und Klient besteht. Eine Beziehung ist sehr empfindlich und muss sorgsam gepflegt werden. Sie ist die Grundlage des Therapieprozesses und kann schon an und für sich eine starke therapeutische Wirkung haben.« (Oaklander 2009, 31)

Arbeit am Kontakt ist erst möglich, wenn dieses Mindestmaß an Beziehung hergestellt ist. An mehreren Stellen wird die Beziehung von Kind und TherapeutIn mit einem Tanz verglichen (vgl. dies., 40; Mortola 2011, 44; 76). Es ist ein beständiges Wechselspiel von langsamer Annäherung und Entfernung, von Führen und Geführt werden. Oaklander ist davon überzeugt, dass die gelungenen Kontakterfahrungen und Beziehungserfahrungen im therapeutischen Prozess heilend wirken. Die Selbstregulationskräfte des Kindes werden wieder hergestellt, das Selbst des Kindes wird gestärkt (vgl. Oaklander 2009, 40).

Erst wenn diese grundlegenden Prozesse in Gang kommen, ist es möglich, dass sich Kinder öffnen und sich schwierigeren Themen zuwenden. Es kommt dann zu Momenten im Therapieverlauf, da geht etwas existenziell Wichtiges im Kind vor, das Kind sagt etwa beiläufig einen Satz, der uns in seiner Aufrichtigkeit und Unmittelbarkeit tief berühren kann. Ein Achtjähriger, der bislang kaum etwas über sich erzählt hatte, sagte während eines einfachen Kartenspiels völlig unvermutet: »Weißt eh, mein Papa ist weg und ich bin traurig.« Unsere Antworten auf solche Sätze sollten wohldosiert sein. Es geht darum, dem Kind dabei zu helfen, sich selbst zu definieren (Wer bin ich und wer bin ich nicht?). Das Kind lernt, Vorlieben auszudrücken (Was mag ich?), auch Abneigungen (Was mag ich nicht?) oder im kurzen Satz des Achtjährigen: Wer fehlt mir? Wir begleiten als KinderpsychotherapeutInnen diese Differenzierungsarbeit. Kinder aus einem schwierigen Umweltfeld sind oft durch die Umstände gezwungen, zu schnell Aufgaben zu übernehmen, die nicht altersgemäß sind. Altersadäquate Aufgaben sind aber wichtig. Gutes Meistern kann nur erfolgen, wenn Eltern nicht zu rigide, nicht zu gewährend und nicht zu frustrierend sind in den Aufgabenstellungen. Auch ist es nicht sinnvoll, in den Zuschreibungen zu verallgemeinern oder zu stark zu übertreiben, betont Oaklander (2009, 44). Ich will dies mit dem kleinen Beispiel einer eigenen Beobachtung veranschaulichen:

Eine Mutter sitzt mit ihrer 5-jährigen Tochter in der Garderobe eines Wiener Kindergartens, es ist kurz vor Kindergartenbeginn. Das Kind sitzt und bindet sich die Straßenschuhe auf. Die Mutter beugt sich mit ihrer großen Körperfülle über das Mädchen und redet lautstark auf sie ein. Es geht darum, ob sie nächste Woche im Kindergarten mit den Vorschulkindern übernachten will, oder nicht. »Willst Du mit den Vorschulkindern nächste Woche hier übernachten?«, fragt die Mutter mit lauter Stimme. Das Mädchen antwortet leise. »Ja.« Die Mutter hebt die Arme und ruft: »Du bist ein Engel!« Diese Antwort der Mutter verwirrt mich, vermutlich auch das Kind. Das Mädchen sagt »Ja« zur Übernachtung, meistert diese Situation auf ihre Art. Statt sie adäquat zu loben für diesen Entwicklungsschritt, lobt die Mutter sie im wahrsten Sinne des Wortes in den Himmel.

Wichtig für Oaklander ist auch das Setzen klarer Grenzen: Rechtzeitiges Beginnen und Beendigen der Therapiestunde, unbedingte und ungeteilte Aufmerksamkeit (kein Telefonieren während der Stunde) und das gemeinsame Aufräumen des Zimmers am Ende der Stunde erwähnt sie als Beispiele. Auch das Deutlichmachen eigener Grenzen der Therapeutin hilft dem Kind, seine eigenen Grenzen zu spüren.

»Gleichzeitig bleibe ich mir selbst treu. Ich habe keine Angst vor meinen eigenen Gefühlen und Reaktionen, und ich kenne meine Grenzen.« (Oaklander 2009, 32)

Eine Grenze, die Oaklander nicht erwähnt, die ich aber für sehr wichtig halte, ist unsere körperliche Unversehrtheit. Kinder müssen diese Grenze respektieren, sie dürfen uns nicht absichtlich verletzen. Wenn diese Grenze nicht gewährleistet ist, muss das Spiel oder die entsprechende Aktivität sofort unterbrochen werden, bis diese Sicherheit wieder hergestellt ist. Ebenso dürfen die Gegenstände im Therapiezimmer vom Kind nicht absichtlich zerstört werden. Diese Grenzen von Raum, Zeit und körperlicher Unversehrtheit müssen zu Beginn der Therapie formuliert werden und manche Kinder müssen immer wieder daran erinnert werden. Wie ein Kind mit diesen Grenzen umgeht, ist ein Gradmesser für Fortschritte im therapeutischen Prozess.

Spielen, Fantasie und Humor sind natürliche Ressourcen des Kindes. Bei traumatisierten Kindern sind sie oftmals verschüttet. Spielen, das Freude macht und lustvoll ist, absichtsloses Spielen, dieses Wiedergewinnen der Natürlichkeit im Spiel ist Aufgabe der Kindertherapie und auch der Arbeit mit den Angehörigen im Umweltfeld. Wieder Spielen zu lernen ist ein Therapieziel. KinderpsychotherapeutInnen sind darin auch ein Modell für Eltern, die oft mals selbst verlernt haben zu spielen. Sie werden von uns ermutigt, dass sie wieder mit ihren Kindern spielen. Das Kind wird angeregt, aktiv die Therapiestunde mit zu gestalten, Einfluss zu nehmen, auszuwählen, Kraft und Ausdauer im Ausprobieren zu entwickeln. Kinder werden auch aufgefordert im Sinne Oaklanders, aggressive Impulse zu zeigen. Im Laufe der kindlichen Entwicklung kommt es häufig zu negativer Sanktionierung von aggressiven Handlungen und infolge zu Beschämung. Die Annahme der Aggression als einer treibenden Kraft, um Ziele zu erreichen, macht sie aber erst nutzbar für heilsame Prozesse. So weit zu einigen Ausführungen von Oaklander und Mortola über den therapeutischen Prozess in der Gestaltkindertherapie. Abschließend sei angemerkt, dass Mortola Oaklanders Interventionen in einem 4-Stufen-Modell der therapeutischen Erfahrungen zusammenfasst, die weitere Ausführung dieses Modells würde an dieser Stelle zu weit führen (vgl. Mortola 2011, 78 ff.; 108).

In der psychotherapeutischen Praxis haben wir es mit Kindern und deren Angehörigen zu tun, die mit komplexen Problemkonstellationen zu uns kommen und unsere Antworten müssen dieser Komplexität Rechnung tragen. Kinder mit Migrationshintergrund, traumatisierte Kinder, Kinder, die ohne Vater aufwachsen, Kinder inmitten von Wohlstandsverwahrlosung, Kinder psychisch kranker Eltern, Kinder mit Behinderung oder chronischer Erkrankung oder Kinder mit suchtkranken Eltern, wie es in der nachfolgenden Fallgeschichte von Anatol zur Sprache kommen wird. All diese Kinder brauchen unterschiedliche Unterstützung von uns und doch ist allen gleich: Sie sind Kinder und versuchen innerhalb eines geschützten Therapieraums, innerhalb einer tragfähigen dialogischen Beziehung mit uns Antworten zu finden auf ihr Dasein in der Welt.

Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen

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