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Die Geschichte der Kindheit

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»Früher brauchte man ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen«, so lautet ein afrikanisches Sprichwort. Und heute? Was brauchen wir heute, wo kaum noch dörfliche Strukturen in Mitteleuropa vorhanden sind und Kindheit sich radikal unterscheidet von dem, was früher Kindheit war? Kindheit hat sich gewandelt im Laufe der Jahrhunderte und wandelt sich noch immer in einem Tempo, das es schwer macht, sie überhaupt zu fassen und zu beschreiben. Weltweit unterscheidet sich Kindheit sehr stark, je nachdem wo Kinder heranwachsen. Selbst in Europa gibt es große Unterschiede. Kinder in Österreich etwa finden ganz andere Lebensbedingungen vor als Kinder in Moldawien. Dabei gibt es Kindheit in der Menschheitsgeschichte erst seit vergleichsweise kurzer Zeit. Kindheit ist eine Erfindung des europäischen 17. Jahrhunderts (vgl. Böhme 1985). Seit dieser Zeit gilt Kindheit als eigenständige Lebensform, seitdem gibt es speziell für Kinder produziertes Spielzeug und eine eigene Kinder- und Jugendliteratur. Wir gehen heute davon aus, dass Kindheit – vor allem frühe Kindheit – den Menschen in seiner weiteren Entwicklung maßgeblich prägt. Diese Einschätzung war nicht immer so. Kindheit wurde lange Zeit als wertlos betrachtet und Kinder als unfertige Erwachsene gesehen. Ein Kinderleben galt nicht viel bis ins Mittelalter, abgesehen von adeliger Heiratspolitik, die Kinder verdinglichte im Dienste der Machterhaltung von Herrscherhäusern. In dieser Zeit lebten die meisten Familien in einem gemeinsamen Raum. Kinder waren unmittelbar mit den Lebensabläufen der Zeugung, des Gebärens und des Sterbens konfrontiert. Als Siebenjährige wurden Kinder in gehobenen sozialen Schichten an befreundete Familien zum Dienen geschickt. Die meisten Kinder blieben jedoch als Arbeitskräfte in ihren eigenen Familien oder trugen zum Familienunterhalt bei, was bis ins 20. Jahrhundert hineinreichte. Fünfj ährige mussten bereits in Fabriken arbeiten, manche bis zu vierzehn Stunden. Sie wurden für schwierigste Tätigkeiten herangezogen. Schlanke Buben wurden etwa gezwungen, den Ruß aus Kaminen herauszukratzen. 1813 war die Hälft e der englischen Weber Kinder unter 14 Jahren. Die Kindersterblichkeit war enorm. Noch im 18. Jahrhundert erreichte kaum die Hälfte der Kinder das 8. Lebensjahr. Aries und andere Historiker gehen davon aus, dass Eltern aus diesem Grund keine tieferen Bindungen zu ihren Kindern entwickelten, da die begründete Sorge bestand, sie würden ohnehin nicht lange leben. Trotzdem entwickelten Eltern eine hohe Anteilnahme an ihren Kindern und waren nicht gleichgültig, was eine Auswertung von 500 Tagebüchern und Autobiografien von 1500 – 1900 zeigt (vgl. Böhme 1985, 274).

Rousseau markierte 1762 mit »Emile oder über die Erziehung« einen ersten Wendepunkt in der Einstellung Kindern gegenüber. Die körperliche Misshandlung von Kindern und Prügel waren über Jahrtausende die Regel und so schreibt Rousseau über ein eigenes Kindheitserlebnis körperlicher Gewalterfahrung:

»… die gleiche Züchtigung wurde …verhängt. Sie war schrecklich. Wenn man das Heilmittel mit dem Übel selbst suchen und meine verderbten Sinne hätte ein für allemal abtöten wollen, hätte man es nicht besser anstellen können … Mehrere male vorgenommen und furchtbar misshandelt, war ich unerschütterlich. Ich war entschlossen, sogar den Tod auf mich zu nehmen. Selbst die Gewalt musste dem teuflischen Starrsinn eines Kindes weichen, denn nicht anders nannte man meine Festigkeit. Endlich entrann ich aus dieser grausamen Prüfung, zerfetzt, aber triumphierend … Man denke sich einen im gewöhnlichen Leben schüchternen und lenksamen, aber feurigen, stolzen und in seinen Leidenschaften unzähmbaren Charakter, ein stets von der Stimme der Vernunft geleitetes, stets mit Sanftmut, Billigkeit und Freundlichkeit behandeltes Kind, das nicht einmal einen Begriff von der Ungerechtigkeit hatte und nun zum ersten mal eine so schreckliche von denjenigen Menschen erfährt, die es liebt und am meisten achtet. Welch ein Umsturz der Begriffe! Welche Verwirrung der Gefühle! Welche Umwälzung in seinem Herzen, in seinem Hirn, in seinem ganzen kindlichen Geistes- und Seelenleben! … Noch jetzt, während ich das schreibe, fühle ich meinen Puls schneller schlagen … Damit hatte die Heiterkeit meiner Kindheit ein Ende. Von diesem Augenblick an hörte ich auf, ein reines Glück zu genießen, und ich fühle selbst heute, dass die Erinnerung an die Reize meiner Kindheit hier enden.« (Voß, 1979, 31-33)

Rousseau schildert das Erleiden von körperlicher Gewalt unter dem Vorwand erzieherischer Maßnahmen. Die Entfremdung von den so geliebten Erziehungspersonen ist die Folge. Aus heutiger Sicht würden wir von »man-made Traumatisierung« durch wichtige Bezugspersonen sprechen, was zu einer nachhaltigen Traumatisierung führen kann (vgl. Schön, 2009).

Historiker, die sich mit Kindheit beschäftigen, sind sich nicht einig, ob Kinder in familiärer Geborgenheit aufwuchsen oder nicht. Während Aries von dieser Geborgenheit zumindest bis zum Ende des 15. Jahrhunderts ausgeht, widerspricht DeMause, wenn er postuliert: »Die Geschichte der Kindheit ist wie ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, je unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden.« (Hardt/Hoff mann 2006, 278) Emotionale Geborgenheit dürfte seiner Einschätzung nach eher die Ausnahme als die Regel gewesen sein.

Auf den ersten Blick scheint Kindheit in westlichen Industriegesellschaften heute glücklicher, unbeschwerter zu sein, weniger von Belastungen und Entbehrungen gezeichnet. Aber eben nur auf den ersten Blick: Es wird von einer kommerzialisierten Kindheit gesprochen (vgl. Die Zeit 2009/18), einer Verkürzung, ja einem Ausverkauf der Kindheit (vgl. Die Zeit 2011/37). Die Kinder seien umzingelt von Spielsachen, traditionelles Spielzeug wird ab dem 6. Lebensjahr immer stärker von Videospielen und neuen Medien verdrängt. Ab dem Alter von 12 Jahren verbringen sowohl Buben wie auch Mädchen dreimal so viel Zeit mit Videospielen wie mit traditionellen Spielen. Kinder werden durch die Vermarkter zu frühreifen Erwachsenen erklärt, so wird gar nicht mehr von Kindern gesprochen, sondern von »Kids« (6-9 Jahre), »Pre-Teens« (10-12 Jahre) und »Teens«( ab 13 Jahre und älter). Kindheit wird von der Spielzeugindustrie und Werbung einfach umdefiniert. Eine Beibehaltung der Entwicklungsphasen, wie wir sie von der Entwicklungspsychologie kennen, ist jedoch ratsam. Etwa gilt die Phase der mittleren Kindheit (8-12 Jahre) als besonders wichtig für kreatives Spielen. Kinder bauen ein Gefühl für die eigenen Fähigkeiten auf, sind mit erfolgreichem Problemlösen beschäft igt, lernen kooperativ zu sein und geben schließlich der Welt um sich herum eine Bedeutung. Dies verläuft so im positiven Fall, wenn Kinder genügend angeregt werden, letztlich auch mit geeignetem Spielmaterial. Kinder brauchen nicht noch mehr Spielzeug, das schnell an Aufforderungscharakter verliert und unter einem Stapel anderer Spielzeuge im Regal verkümmert, sondern Dinge, die einladen, neugierig zu sein und etwas herauszufinden. Elschenbroich spricht vom Spiel als dem »Königsweg des Denkens, es ist eine Art von tätigem Tagträumen« (vgl. Die Zeit 2011/37). Kinder brauchen Zeit, um in ihrem Tempo Neues für sich zu erschließen, dann spielen sie wesentlich konzentrierter und gewinnen dadurch auch mehr an Selbstvertrauen. Dies ist es ja, was wir Kindern letztlich wünschen, um in dieser Welt bestehen zu können.

Als Risikofaktoren heutiger Kindheit gelten neben der Kommerzialisierung vor allem der Rückgang emotionaler Bindungen zugunsten kurzlebiger Beziehungen, ferner die Missachtung emotionaler Befindlichkeiten des Kindes bis hin zu massiven Grenzverletzungen. Als besonders schwerwiegend sind hier die Folgen von körperlicher, seelischer und sexueller Misshandlung zu nennen. Eine große amerikanische Studie (vgl. Hardt/Hoff mann 2006, 288) belegt ein doppelt so hohes Risiko für körperliche Krankheiten bei Personen mit mehreren Kindheitsbelastungsfaktoren im Vergleich zu Personen ohne Kindheitsbelastungen. Auch Trennung oder Scheidung der Eltern kann für Kinder massive Auswirkungen haben. Eine britische Längsschnittstudie zeigt etwa eine erhöhte Rate an Depressionen bei Personen, deren Eltern sich während ihrer Kindheit oder Jugend scheiden ließen (ders., 2006, 289). Kindheit scheint ein hochriskantes Unternehmen zu sein und von vielen Wirkfaktoren abhängig.

Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen

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