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Kindheit in der Postmoderne

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Kindheit befindet sich seit den 1980er Jahren in tiefgreifenden Prozessen postmodernen Wandels. Kinder und Jugendliche sind enormen lebensweltlichen Veränderungen und Verunsicherungen ausgesetzt, wie wir Erwachsene natürlich auch. Wir leben in einer »Risikogesellschaft« (Metzmacher et al 1996, 24). Individualisierungsprozesse bedeuten einerseits große Chancen, tragen aber auch das große Risiko des Scheiterns in sich. Spielräume gehen immer mehr verloren vor der Haustür und auch in den Kinderzimmern, an deren Stelle technisch aufgerüstete Kinderzimmer und virtuelle Scheinwelten treten. Die Ausbildung stabiler Beziehungen wird scheinbar immer schwieriger, Unverbindlichkeit dagegen immer stärker. Die Kinder werden oft alleine gelassen mit sich in ihrer virtuellen Welt.

»Durchschnittlich gute Eltern gründen ein Heim und halten zusammen; auf diese Weise lassen sie ihren Kindern ein grundlegendes Maß an Fürsorge zuteil werden, und sie stellen einen Rahmen bereit, in dem jedes einzelne Kind nach und nach sowohl sein Selbst wie auch die Welt finden und eine funktionierende Beziehung zwischen beiden herstellen kann.« (Metzmacher 1996)

Dieser von Metzmacher zitierte Gedanke Winnicotts entspricht heute oft mals nicht mehr den gesellschaftlichen und familialen Gegebenheiten, so wie sie Kinder vorfinden. Der siebte Familienbericht des deutschen Bundestags (2006) geht wie der achte Familienbericht (2011) davon aus, dass selbst in der modernen Variante von Familien, in denen die Fürsorgepflicht auf beide Eltern gleichmäßig verteilt ist, immer weniger Zeit bleibt für Fürsorge und Solidarität hinsichtlich der eigenen Kinder. Die gefühlte Temperatur von Familien (2006, 6) ist für manche Kinder nicht wachstumsförderlich. Es bestehe die Gefahr eines Fürsorgedefizits in postmodernen Gesellschaften (ders., 7).

Die Balance zwischen individuellem Berufsverlauf einerseits und Entwicklung der Familie andererseits sei nicht ausreichend vorhanden, so lautet eine der Kernthesen des Berichts. Die Beziehungsqualität des Paares nehme stetig ab während der Zeit von der Geburt eines Kindes bis zu dessen 8. Lebensjahr. Als Indikatoren werden Zärtlichkeit und Sexualität herangezogen, die immer weniger werden, Streit und Konflikte dagegen immer mehr. Dies gilt nicht nur für Risikogruppen, sondern für alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen (ders., 112). Neuere Zahlen gehen davon aus, dass jede zweite Ehe im Zeitverlauf geschieden wird. Aber schon früher gab es hohe Scheidungsraten. Etwa sind aus dem Berlin der 20er Jahre Zahlen bekannt, die heutige Scheidungsraten sogar noch übertreffen (ders., 10).

Tatsächlich wurden auch in früheren Zeiten gesellschaftliche Wandlungsprozesse als Krise der Familie interpretiert. Solche Übergangszeiten gab es immer wieder und so mancher Warnruf wurde auch früher laut. Das Ende der Familie sei gekommen oder eben das Ende der Kindheit. So lautete der Titel von Postmans Bestseller 1987 Das Verschwinden der Kindheit.

Der deutsche Kinderpsychiater Winterhoff spricht in seinem Buch Warum unsere Kinder Tyrannen werden (Winterhoff 2009) im Untertitel von einer »Abschaffung der Kindheit«. Kinder werden in zunehmendem Maße von Erwachsenen emotional benutzt für ihre eigenen Bedürfnisse, so seine wenig überraschende Analyse. Beziehungsstörungen seien die Folge. Kinder und Jugendliche würden sich zu Tyrannen entwickeln, manipulierten die Eltern und seien unzureichend auf das Erwachsenenleben vorbereitet. Während noch in den 80er Jahren neurotische Störungsbilder in kinderpsychiatrischen Praxen überwogen und dafür individuelle Lebensgeschichten der Kinder und deren Eltern herangezogen wurden, genüge dies heute nicht mehr. Als neues Störungsbild postuliert Winterhoff Entwicklungsfixierungen im Alter unter sechs Jahren. Der häufigste Typus sei das frühkindlich narzisstisch fixierte Kind, das respektlos seine Eltern und die Umgebung manipuliert, Menschen wie Gegenstände behandelt und herumschiebt. Diese Kinder hätten keine Frustrationstoleranz, könnten nicht warten oder Bedürfnisse aufschieben. Es gäbe keine intuitive Elternschaft mehr, das Gespür für natürliche Grenzziehungen zwischen den Sphären der Erwachsenen und denen der Kinder sei verloren gegangen. Kinder würden heute unbedacht in alle Erwachsenenthemen hineingezogen, seien es Partnerprobleme, Fragen der Sexualität, Erziehung, Arbeitsabläufe. Winterhoff benutzt dafür die Begriffe Symbiose und Projektion, um die Störungen zu benennen. Die Kontaktgrenzen sind – in der Terminologie der Gestalttherapie – nicht mehr intakt, sondern konfluent, fließend.

Wie ist es dazu gekommen, dass eine gesunde psychische Entwicklung kaum mehr statt zu finden scheint? Erwachsene seien durch den gesellschaftlichen Wandel stark überfordert und orientierungsloser geworden, sie vereinzeln und verlieren immer mehr Kontakt zu anderen Erwachsenen. Diese Vereinzelung führe dazu, in den Kindern Ersatz für verlorengegangene Kontakte zu suchen und die Kinder auf gleicher Ebene als Partner anzusprechen. Wünsche werden auf sie projiziert oder sie werden als symbiotischer Teil angesehen. Diese Vorgänge verlaufen meist unbewusst, so Winterhoff. Er appelliert, diese Prozesse bewusst zu machen, die eigenen Haltungen zu reflektieren.

Wie entwickeln sich Kinder und Jugendliche aus seiner Sicht? Indem Erwachsene Regeln und Strukturen vorgeben, Orientierung bieten, Vorbild und Modell sind. Indem sie auf das Tun des Kindes tatsächlich mit Handlung reagieren und nicht nur versuchen zu verstehen, warum das Kind entsprechend gehandelt hat.

Einen positiveren Ansatz vertritt der Neurobiologe Hüther, der sich in einer Vielzahl von Publikationen für den Wert der Kindheit ausspricht als der Zeit, in der Kinder Lebenserfahrungen machen und lebenswichtige Bindungen eingehen, die prägend sind, aber nicht schicksalhaft für die weitere Entwicklung (vgl. Hüther 2005, 138). Die Plastizität des menschlichen Gehirns ermöglicht es nämlich, korrigierende Beziehungserfahrungen abzuspeichern. So können auch Kinder, die unter schlechten Voraussetzungen starten, durchaus positive Verläufe nehmen. Er geht von zwei Grundbedürfnissen des Menschen aus. Erstens: Ich will dazugehören. Und zweitens: Ich will etwas leisten. (Geo 2008, 108) Bereits im Mutterleib mache der Fötus die grundlegende Erfahrung der Verbundenheit, dies ist auch die Voraussetzung für das Bedürfnis, weiter in Verbundenheit zu bleiben. Andererseits mache der Fötus die Grunderfahrung des Wachsens, welche wiederum Grundlage für das Bedürfnis wird, über sich hinauszuwachsen. Dieses Wachsen als Grunderfahrung bleibe ebenfalls erhalten (vgl. Hüther 2006). Er spricht sich für Körperlernzeiten aus; dies sei entscheidend für die Hirnentwicklung der Kinder. Sie müssen körperliche Erfahrungen machen, sich genügend bewegen, Herausforderungen meistern, interaktive Erlebnisse machen zusammen mit konkreten anderen Menschen – diese seien wichtiger als virtuelle. Auf gesellschaftlicher Ebene befinden wir uns am Übergang von der starren traditionellen Gesellschaft zu einer fluiden postmodernen Gesellschaft und es käme hier zu Entgrenzungsphänomenen, die Menschen seien hauptsächlich beschäftigt mit »boundary management« (ders., 2006). Wir versuchen mit aller Kraft zusammenzuhalten, was auseinanderzufließen drohe. Im Gegensatz zur starren traditionellen Gesellschaft gibt es heute weniger Anhaltspunkte, etwa durch Vorschrift en oder Rituale. Manchen Menschen gelingt es, ein Kohärenzgefühl aufzubauen, aber manche verlieren sich in Demoralisierung und erlernter Hilflosigkeit. Das Kohärenzgefühl zeichnet sich durch folgende Erfahrungen aus: Ich verstehe die Welt, kann gewisse Abläufe vorhersagen. Ich bin Mitgestalter der Welt und schließlich: Ich bin bedeutsam und fühle mich eingebunden. Mit diesen inneren Haltungen könne man in einer fluiden postmodernen Gesellschaft bestehen, andernfalls drohe Scheitern.

Wie können wir Kindern aus gestalttherapeutischer Sicht dabei helfen, solche persönliche Integrität und Reife zu entwickeln oder, im Sinne Hüthers, ein Kohärenzgefühl?

Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen

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