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1.1.2Medikalisierung versus psychosoziale Perspektive
ОглавлениеJürgen Kriz
Unter Medikalisierung wird die möglichst weitgehende Erklärung für Normabweichungen im psychischen und interpersonellen Bereich durch biosomatische Vorgänge verstanden. Es geht also um die Reduktion der hochkomplexen Wechselwirkungen zwischen somatischen, psychischen, interpersonellen und kulturellen Prozessen auf das Paradigma einer rein somatisch verstandenen Schulmedizin. Diese Sichtweise dient wiederum als Begründung dafür, daraus entsprechende medizinische Interventionen (Medikamente, Operationen) abzuleiten – oder zumindest medizinanaloge Behandlungen dieser »Krankheiten« zu fordern (d. h. störungsspezifische Interventionen, deren Effizienz nach dem Modell evidenzbasierter Medizin [EbM] »bewiesen« wurde).
Keineswegs das historisch erste, aber dennoch ein besonders bemerkenswertes Beispiel für Medikalisierung ist die Diagnose »Drapetomanie«. Mit dieser »Geisteskrankheit« wurden 1851 von S. A. Cartwright auf dem Jahrestreffen der Louisiana Medical Association die häufigen Versuche einiger schwarzer Sklaven, von den Baumwollfeldern zu fliehen, begründet (vgl. Gould 2007). An diesem Beispiel lässt sich nämlich die Problematik der Medikalisierung entfalten: Es geht bei der »Drapetomanie« ja nicht um einen historischen Missgriff in der Ursachenzuschreibung, der aus heutiger Sicht – nach Überwindung der (formalen) Sklaverei – bestenfalls ein überlegenes Schmunzeln hervorrufen sollte. Vielmehr wäre es interessant zu überlegen, ob nicht gerade in heutiger Zeit die Drapetomanie in die Diagnosesysteme DSM oder ICD aufgenommen werden müsste, wenn es denn noch Sklaven gäbe. Und ob nicht vor allem die modernen bildgebenden Verfahren und die Fortschritte der Neurobiologie die Berechtigung für eine störungsspezifische Therapie der Drapetomanie, entsprechende RCT-Studien und einen florierenden Pharmamarkt für Medikamente gegen diese Krankheit liefern würden.
Man muss sich nur einen Sklaven vorstellen, der länger geplant hat, unter Lebensgefahr von seiner Plantage zu fliehen, und dessen Flucht unmittelbar bevorsteht: Er wird körperliche Symptome zeigen – z. B. Zittern, Schweißausbruch etc. – und sich vermutlich kognitiv mit anderen Dingen beschäftigen als jene Sklaven, die nicht unter Drapetomanie leiden, was derzeit oder bei weiterem Fortschritt der bildgebenden Verfahren auch objektiv nachgewiesen werden könnte. Kurz: Wir dürfen wohl sicher sein, dass die Drapetomanie aufgrund der Fortschritte in störungsspezifischer Diagnostik und Therapie, in neurobiologischer Forschung etc. heute noch weit besser und wissenschaftlich objektiver nachgewiesen werden könnte als 1851. Man darf ebenso sicher sein, dass für einen solchen Markt dann auch Pharmaka entwickelt werden würden, welche ebenso objektiv nachweislich die Drapetomanie bei den Betroffenen verringern könnten. In der Presse könnte man dann womöglich lesen, die Ursache für Drapetomanie sei im Gehirn und/oder als Mangel an XYZ nachgewiesen (wobei dann für XYZ der von den Pharmakonzernen bereitgestellte, in RCT-Studien als wirksam nachgewiesene Stoff einzusetzen ist).
Dieses extensiv entfaltete Beispiel macht deutlich, dass das Problem der Medikalisierung auf vielen miteinander verwobenen Ebenen anzusiedeln ist. »Somatische versus psychosoziale Ursachen?« wäre in jedem Fall eine zu reduktionistische Fragestellung. Denn natürlich haben alle psychischen, interpersonellen und kulturellen Vorgänge auch irgendwelche somatischen Korrelate. Bei entsprechendem Interesse an bestimmten Kategorien in den Verhaltens-, Denk-, Empfindungs- oder auch Wahrnehmungsprozessen wird man zwischen diesen Kategorien und entsprechenden somatischen Korrelaten auch differenzialdiagnostische und störungsspezifische Zusammenhänge erforschen und mit den üblichen Designs »nachweisen« können. Ein moderneres Beispiel dafür ist die »Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)«, die nachgewiesenermaßen mit Methylphenidat (Medikamentennamen: Ritalin®, Concerta®, Medikinet®, Equasym®) behandelt werden kann. Doch wenn die Verschreibung von Methylphenidat laut Barmer-GEK-Arzneimittelreport in den 15 Jahren zwischen 1993 und 2007 um mehr als das 100-Fache gestiegen ist (vgl. Gebhardt et al. 2008) – bzw. in sogenannten Tagesdosierungen von rund 400 000 im Jahr 1991 auf 52,3 Mio. im Jahr 2008 (Hulpke-Wette u. Paul 2010) –, stellt sich schon die Frage nach den Ursachen dieser plötzlichen »Epidemie«. Dabei gibt es heute für ADHS wie schon 1851 für Drapetomanie noch nicht einmal biosomatisch abgesicherte Indikatoren, vielmehr wird mit Fragebogen-Items diagnostiziert, die der subjektiven Beurteilung von Eltern oder Lehrern unterliegen. Gleichwohl wirken auch hier in unterschiedlichem Ausmaß somatische und psychosoziale Prozesse zusammen. Für Psychotherapeuten ist die Interventionsebene aber eben die der psychosozialen Prozesse, welche die Gesamtdynamiken stabilisieren und so gegebenenfalls wichtige Entwicklungsschritte behindern können. Diese Aspekte sind gerade von der systemischen Therapie theoretisch aufgearbeitet worden, wobei gleichzeitig ein großes Spektrum praxisbezogener Vorgehensweisen zur Veränderung solcher destruktiven Überstabilitäten entwickelt wurde.
Drapetomanie und ADHS sind nur Beispiele für den Trend, eine enge medizinische Sichtweise an viele menschliche und zwischenmenschliche Probleme heranzutragen, bei denen unübersehbar das materielle, soziale und kulturelle Umfeld einen wesentlichen Einfluss haben. Dies ist für die systemische Therapie und Beratung besonders bedeutsam, weil gerade dieser Ansatz die Ausdifferenzierung und Stabilisierung von Symptomen im Kontext der je spezifischen Umwelten in den Fokus der praktischen Arbeit und ihrer theoretischen Aufarbeitung gestellt hat. Daher kam im Zuge des von den systemischen Verbänden gefassten Entschlusses, den langen Weg der berufsrechtlichen und sozialrechtlichen »Anerkennung« der systemischen Therapie zu gehen, zu Recht auch die Frage nach den Gefahren und Nachteilen dieses Schrittes auf. Denn es war und ist klar, dass der für eine kassenrelevante Zulassung zuständige »Gemeinsame Bundesausschuss« (G-BA) bisher nicht gewillt ist, die großen Unterschiede zwischen chirurgischen Eingriffen, der Behandlung mit Medikamenten und Psychotherapie zu berücksichtigen, sondern alles nach einem einzigen – und zudem sehr reduzierten – Modell von evidenzbasierter Medizin beurteilt.
Nicht viel anders ist der für die berufsrechtliche Anerkennung gutachtende »Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie« (WBP) ausgerichtet. Der vom Gesetzgeber geforderte Nachweis für zuzulassende Verfahren, dass es sich um »wissenschaftlich anerkannte Verfahren« handeln müsse, wurde gleich nach Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes vom WBP dahin gehend ausgelegt, dass es ausschließlich um nachgewiesene Wirksamkeit im Rahmen eines klassisch linearen Input-Output-Wirkmodells unter experimentellen Bedingungen geht (im Wesentlichen um randomisierte, kontrollierte Studien). Während aber zumindest noch in der ersten Amtsperiode (2000–2004) die Wirksamkeitsstudien als exemplarisch angesehen wurden, d. h. bei hinreichend großer Bandbreite der Anwendungsbereiche als Belege für die Wirksamkeit eines Verfahrens gewertet wurden, verschärfte und verengte der WBP in seiner zweiten Amtsperiode (2005–2009) die Medikalisierung der Psychotherapie insofern, als nun für jeden Störungsbereich jeweils spezifische Wirksamkeitsbeweise vorgelegt werden müssen (wobei zumindest noch beibehalten wurde, dass ein Verfahren auch dann anerkannt werden kann, wenn ein bestimmtes Mindestmaß an Bereichen abgedeckt ist).
Bei einem solchen Vorgehen wird zwangsläufig unterstellt, dass die eigentlich auf Symptomklassifizierung ausgelegten Diagnosesysteme psychisch-interpersoneller Beschwerden so etwas bedeuten wie reine Bakterienstämme in der Medizin (Kriz 2010a): Ein Bakterium b kann dabei forschungslogisch als Repräsentant eines allgemeinen Bakterienstammes B mit denselben Eigenschaften für alle Mitglieder angesehen werden; und diese können daher auch mit dem Antibiotikum A – das an ganz anderen individuellen Mitgliedern von B irgendwo auf der Erde in einem Labor erprobt wurde – bekämpft werden. Wenn dazu noch ein zusätzliches relevantes Bakterium C mit anderen symptomatischen Wirkungen kommt, so würde man sinnvoll von »Komorbidität« sprechen und das gegen C entwickelte Antibiotikum ebenfalls verabreichen. Ein als »Depression« klassifiziertes Beschwerdebild eines Menschen kann aber schwerlich als Repräsentant einer Klasse D angesehen werden. Und eine weitere Diagnosekategorie – z. B. Belastungsstörung – macht aus diesem Menschen keinen komorbiden Patienten mit zwei Krankheiten. Vielmehr lässt sich sein – individuelles – komplexes Beschwerdebild nur mit zwei (oder gar mehr) Kategorien beschreiben bzw. erfassen. Das ist etwas grundlegend anderes. Weder gegen D noch gegen die »komorbide« Mischung lässt sich ein Wirkmittel in Form von Psychotherapie verabreichen, das wie Pharmarezepturen irgendwo in der Welt im Labor entwickelt wurde – und bei dem es egal ist, unter welchen sozialen oder kulturellen Kontexten man es erprobt hat.
Die stillschweigende Gleichsetzung beider Vorgänge, nur damit eine bestimmte im Medizinsektor (für einfache Krankheiten) hinreichend erfolgreiche Methodik einem völlig andersgearteten Ausschnitt von Wirklichkeit übergestülpt werden kann, sollte eigentlich für alle methodisch hinreichend Gebildeten überaus fragwürdig erscheinen. Dass dies dennoch so bedenkenlos vom großen Mainstream getragen wird, zeugt von der großen Faszination des medizinischen Modells. Denn es ist wohl nicht allein das Motiv berufspolitischer Konkurrenz, welches den G-BA und den WBP beflügelt. Allzu viele Therapeuten haben sich gut mit der Selbstdefinition arrangiert, dass sie objektiv diagnostizierbare Krankheiten bzw. Störungen mit ebenso objektiv definierbaren Methoden behandeln, die sie, wie in der Schulmedizin, in bestimmten Dosen, mit bestimmter Frequenz und entsprechend einer evidenzbasierten Standardprozedur verabreichen können. Zudem unterstützt die üblicherweise mangelhafte wissenschaftstheoretische Reflexion sowohl im Psychologie- wie im Medizinstudium einen fast mystisch-magischen Glauben in die scheinbare Objektivität von quantitativen Daten und ihrer computertechnischen Verarbeitung – nahezu egal, wie diese Daten zustande gekommen sind. Die Fiktion einer Weltbeschreibung, in welcher der Beschreibende scheinbar nicht vorkommt, sondern nur »Fakten« einsammelt, ist leider gerade unter Klinikern verbreitet – auch wenn dieses Weltbild in den Naturwissenschaften bereits seit rund einem Jahrhundert als überwunden gilt. All dies nährt die Medikalisierung psychosozialer Prozesse und Zusammenhänge.
Für die systemische Therapie folgt daraus allerdings, dass sie sich notwendig im Bereich ambulanter Psychotherapie in der BRD den Erfordernissen eines Systems anpassen muss, dessen Machtstrukturen auch der Psychotherapie einseitige, medikalisierte Vorstellungen von Wirksamkeit und ihrer Nachweismethodiken sowie ein entsprechendes Menschen- und Weltbild oktroyieren. Andernfalls riskiert die systemische Therapie, weiter ausgegrenzt und marginalisiert zu werden. Gleichzeitig ist es wichtig, diese Zwangsverordnung eines homogenen Glaubenssystems – das zudem gemäß der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften auch noch größtenteils inadäquat und antiquiert ist – immer wieder in allen Kontexten nach Möglichkeit zu kritisieren. Zudem gilt es zu bedenken, dass der Bereich »Psychotherapie« im formalen Sinn, der so rigide auch nur in Deutschland geregelt wird, einen vergleichsweise kleinen Bereich im großen Spektrum systemischer Anwendungsfelder ausmacht. Dies könnte zu einer hinreichenden Gelassenheit beitragen.
Für den Umgang mit den Menschen, die in der gegenwärtigen Kultur der Medikalisierung leben und um professionelle Hilfe von Systemikern bitten, ist die Beachtung der unterschiedlichen Erwartungsstrukturen wichtig. Denn gerade auch der Volksglauben hat medikalisierte Vorstellungen und Reparaturmodelle für psychosoziale Prozesse in hohem Ausmaß übernommen. Da systemische Therapie aber ohnedies zentral mit der Dekonstruktion pathogener, einengender und destruktiver »Wahrheiten« arbeitet, sollte dies kein besonderes Hindernis für konstruktives Arbeiten sein.