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1.2Berufliche Zugänge 1.2.1Psychologie

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Jürgen Kriz

Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland die meisten niedergelassenen Psychotherapeuten und ein großer Teil professioneller Berater ein Psychologiestudium absolviert haben, ist der Einfluss von Psychologie und akademisch ausgebildeten Psychologen auf die systemische Therapie und Beratung recht gering. Das gilt, soweit Ausbildungsgänge und Berufsstrukturen überhaupt vergleichbar sind, auch für andere Länder. Psychologie ist somit kein besonders guter Zugang zur systemtherapeutischen Praxis – nicht einmal ein durchschnittlich guter.

Für diese Unterrepräsentation von Psychologie im Bereich systemischer Profession gibt es zwei zentrale Gründe: Zum einen ist der Mainstream akademischer Psychologie vor allem mit solchen Befunden verbunden, welche dem klassischen experimentellen Paradigma entsprechen – wozu insbesondere die klare Differenzierung in unabhängige und abhängige Variablen, die Nichtbeachtung oder Ausschaltung von Rückkopplungseffekten und nichtlinearen Verläufen sowie die Anpassung an Designs nach dem »allgemeinen linearen Modell« (u. a. Varianzanalyse, Faktorenanalyse, Pfadanalysen etc.) gehören. Phänomene von Selbstorganisation, qualitative Sprünge und Nichtlinearitäten oder die Beachtung von Effekten in rückgekoppelten Netzwerken spielen somit praktisch keine Rolle. Gleichzeitig ist der Druck auf akademische Karrieren in der Psychologie aber groß, möglichst experimentell zu arbeiten, sodass auch theoretische und praxeologische Arbeiten in der Psychologie eher marginalisiert sind, während solche Werke in anderen Disziplinen, z. B. in den Sozialwissenschaften oder in der Pädagogik, dazu beitragen, dass systemisches Denken in die Diskurse einbezogen und verbreitet wird.

Der zweite, damit verknüpfte Grund ist, dass auch die psychotherapeutischen Arbeitsfelder – zumindest unter den gesundheitsadministrativen Bedingungen in der Bundesrepublik Deutschland – vom behavioralen Mainstream beherrscht werden. Und dies sogar mit steigender Tendenz: Fast alle deutschen Lehrstühle in Klinischer Psychologie und Psychotherapie an den Universitäten sind mit Vertretern des verhaltenstherapeutischen Paradigmas besetzt; Studierende erfahren kaum noch, dass es überhaupt andere Ansätze, Zugänge und Paradigmen gibt. Zunehmend werden daher nur noch behaviorale Ausbildungsgänge zum Psychotherapeuten nachgefragt. Durch eine extrem aufwendige Prozedur für die Zulassung weiterer Verfahren, verbunden mit einer Doppelhürde aus »Wissenschaftlichem Beirat Psychotherapie (WBP)« und »Gemeinsamem Bundesausschuss (G-BA)«, ist es den Vertretern der beiden Richtlinienverfahren gelungen, auch zwölf Jahre nach Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes kein einziges weiteres Verfahren zuzulassen – und daran wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Denn nachdem der WBP rund ein Jahrzehnt gebraucht hat, um die systemische Therapie berufsrechtlich anzuerkennen, sind schon wieder mehrere Jahre ins Land gegangen, ohne dass der G-BA überhaupt das notwendige Prüfverfahren für die sozialrechtliche Anerkennung auch nur in Gang gesetzt hätte. Es kann also niemand auf der Basis der inzwischen in ihrer Wirksamkeit selbst in Deutschland formal vom WBP anerkannten systemischen Therapie auch niedergelassener Therapeut werden. Erste Aufweichungstendenzen sind zwar beobachtbar, indem über Weiterbildungsgänge zusammen mit einer Approbation in einem der Richtlinienverfahren auch ein Zusatztitel in systemischer Therapie erworben werden kann, aber dies sind erste Modellversuche mit erheblichen zusätzlichen Kosten der ohnedies sehr teuren Ausbildung zum Psychotherapeuten. Quantitativ fällt dies (noch) nicht ins Gewicht.

Konzepte systemischen Arbeitens und auch systemischer Psychotherapie sind daher deutlich mehr im Bereich der Beratung zu finden – der bisher dem Zugriff von WBP und G-BA entzogen blieb und daher nicht unter ihren desaströsen Ausgrenzungsstrategien leiden muss. Hier gibt es in der Tat viele Ausbildungsgänge zum Berater, aber z. B. auch zum klinischen Sozialarbeiter und zu anderen Berufsbildern, in denen Konzepte systemischer Therapie in reiner Form oder (vor allem) in mit anderen Konzepten gemischter bzw. integrierter Form vermittelt werden. Offiziell ist zwar sehr klar geregelt, was in Deutschland »Psychotherapie« heißen darf. Aber faktisch wird eben auch in Beratungsstellen sowie auf dem privaten Sektor vieles angeboten, was sich mit Psychotherapie überlappt (aber aus juristischen Gründen anders genannt werden muss). Allerdings sind hier eben auch die Zugänge nicht vorwiegend auf Psychologen beschränkt, sodass Menschen mit einem breiten Spektrum an anderen akademischen Ausbildungen oder anderen Grundberufen solche Ausbildungen durchlaufen. Daher ist auch hier der Anteil von Psychologen klein.

Größer ist der Anteil von Psychologen in systemischen Aus-, Fort- und Weiterbildungen in einem anderen Bereich, nämlich dem Coaching. Auch hier gibt es in Sonderfällen und bei Einzel-Coaching Überlappungen mit psychotherapeutischer Tätigkeit. Aber ganz überwiegend liegen beim Coaching der Problemfokus und der Arbeitsschwerpunkt doch deutlich anders als in der Psychotherapie oder der Beratung – weshalb Coaching für unsere Fragestellung nach dem Stellenwert der Psychologie für »systemische Therapie und Beratung« hier nicht weiter betrachtet werden soll.

Die (noch) sehr geringe Offenheit der Psychologie für systemische Konzepte und ihre praktische Umsetzung in Psychotherapie und Beratung sowie auch für die psychologische Grundlagenforschung ist umso bemerkenswerter, als mit der Gestaltpsychologie der Berliner und Frankfurter Schule – Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler, Kurt Lewin, Kurt Goldstein – zwischen 1910 und 1935 eine international beachtete Richtung der Psychologie grundlegende Ansätze entwickelte, die auch in der heutigen Systemtheorie bedeutsam sind. So entwarf Goldstein auf der Basis umfangreicher Untersuchungen an hirnverletzten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg sein zentrales Konzept der »Selbstaktualisierung« (Goldstein 1934). Damit ist die Realisierung und Entfaltung inhärenter Potenziale gemeint, wobei aber diese inneren Möglichkeiten stets mit den äußeren Gegebenheiten dynamisch zu einer ganzheitlichen Gestalt abgestimmt werden. Veränderung dieser dynamischen Ordnung wird von ihm als eine Reorganisation einer alten Struktur (»pattern«) zu einer neuen und effektiveren Struktur beschrieben. Dies entspricht weitgehend den Konzepten, die heute in der interdisziplinären Systemtheorie (vgl. »Synergetik«, Abschn. 1.3.11) und der entsprechenden systemischen Therapie (vgl. »Personzentrierte Systemtheorie«, Abschn. 1.3.12) mit Selbstorganisation, Attraktoren und Ordnungs-Ordnungs-Übergängen (bzw. Phasenübergängen) thematisiert werden und aktuell sind.

Doch auch die Gestaltpsychologie ist in Deutschland marginalisiert: Im »Dritten Reich« mussten die meisten Wissenschaftler emigrieren, da sie Juden waren und zudem ihre Betonung von ganzheitlicher, autonomer Organisation, sich selbst herausbildenden Ordnungen und freiheitlich-schöpferischer Kreativität konträr zur Nazi-Ideologie mit ihren autoritär-diktatorischen Strukturen, der Fremdbestimmung und der einfachen Ursache-Wirkungs-Effekte stand. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren dann zwar Deutschland und (wenige) Nazi-»Führer« besiegt, nicht aber (so schnell) diese Ideologie. Es ist daher nachvollziehbar, dass eine größere Kontinuität im Behaviorismus gefunden wurde – und man sich dabei sogar mit den »Siegern« identifizieren konnte –, anstatt sich auf »unvölkische« Konzepte der Gestalttheorie zurückzubesinnen. Zumindest mag dies den rasanten Aufstieg behavioraler Konzepte und die weitgehende Ignoranz gegenüber gestaltpsychologischen und systemischen Ansätzen mit erklären.

Wegen der oben erwähnten starken Orientierung der Psychologie am experimentellen Paradigma gilt diese Abstinenz der Psychologie bezüglich der Teilnahme an systemischen Diskursen auch für einen anderen Strang der Systemtheorie, die mit dem Konzept der »Autopoiese« wesentlich auf den Soziologen Luhmann zurückgeht (vgl. Abschn. 1.3.5 und 1.3.6). Indem sich die Psychologie in ihrem Mainstream nämlich deutlich von der Sozialwissenschaft distanziert und gerne als »Naturwissenschaft« gelten möchte (ohne deren Entwicklung in den letzten Jahrzehnten wirklich zu beachten), spielt auch dieser Autopoiese-Ansatz viel mehr in Sozialwissenschaft, Pädagogik und Sozialpädagogik sowie anderen Kultur- und Gesellschaftswissenschaften eine Rolle. Für die Psychologie bleibt hingegen auch dieser Ansatz weitgehend irrelevant.

Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch

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