Читать книгу Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch - Группа авторов - Страница 7
Vorwort der Herausgeber
ОглавлениеDas Wort »systemisch« ist heute in aller Munde. Offenbar hat der Systembegriff eine Ausstrahlung, der man sich in den unterschiedlichsten psychosozialen Feldern gegenwärtig nur schlecht entziehen kann. Für den Soziologen Karl Otto Hondrich werden nur Begriffe mit einer »Erlösungskomponente« wirklich populär und damit verallgemeinerungsfähig (1998), sie sind für unterschiedliche Zwecke anschlussfähig, verheißen die Möglichkeit eines grundlegenden Wandels und neuer Sinnstiftung. Beobachtet man die Verwendung der Begriffe systemischen Denkens und Handelns genauer, findet man auch hier eine solche Erlösungskomponente. Das lässt sich einerseits als Erfolg verbuchen, andererseits läuft der Begriff »systemisch« Gefahr, in dem Maße an Aussagekraft und Trennschärfe zu verlieren, in dem er als Etikett für alle möglichen Konzepte, Methoden und Techniken herhalten muss. Für eine Kennzeichnung als »systemisch« scheint es mittlerweile auszureichen, auf Lösungs- oder Ressourcenorientierung und den Einsatz entsprechender Techniken zu verweisen.
Der systemische Ansatz ist aber alles andere als eine Sammlung systemischer Tools. Seine theoretischen, praxeologischen und kontextuellen Grundlagen sind komplex und vielfältig. Dieses Lehrbuch vermittelt die Komplexität und Vielfalt dieser Grundlagen auf verständliche Weise und eignet sich daher als Begleiter im professionellen Alltag von Anfängern und Fortgeschrittenen, Weiterbildungsteilnehmerinnen und Lehrenden, Praktikern und Theoretikerinnen sowie allen, die sich für den systemischen Ansatz interessieren.
Systemische Therapie und Beratung blickt mittlerweile auf eine über 30-jährige Geschichte zurück. Ihre Entstehungsgeschichte reicht jedoch bis in die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als die ersten familientherapeutischen Vorgehensweisen erprobt wurden, zunächst ausgehend von psychoanalytischen oder verhaltenstherapeutischen Konzepten, aber schon früh auch unter Zuhilfenahme kybernetischer und systemtheoretischer Theorien und Modelle (Bateson u. Ruesch 1995; Bateson et al. 1969; Ray, Stivers u. Brasher 2011). Von der systemischen Therapie als eigenständigem Ansatz ist erst seit den frühen 1980er-Jahren die Rede, vor allem in den deutschsprachigen Ländern.1 Seitdem hat es eine lebhafte theoretische, methodische und institutionelle Entwicklung gegeben, die bis heute anhält und ein wissenschaftlich anerkanntes, grundständiges Behandlungsverfahren hervorgebracht hat, welches andere psychotherapeutische Ansätze sowohl ergänzt als auch überschreitet. Die systemische Therapie und Beratung wird von den aktuellen Erkenntnissen und Grundannahmen der gegenwärtigen Humanwissenschaften (u. a. Neurobiologie, Psychologie, Soziologie und Sozialphilosophie) gestützt, ihre charakteristische Besonderheit liegt in der konsequenten Einnahme einer interaktionellen Perspektive sowohl im Verstehen als auch in der Bearbeitung körperlicher, psychischer und sozialer Probleme, Störungen und Konflikte. Für das Menschenbild der systemischen Therapie und Beratung ist die soziale Natur des Menschen von grundlegender Bedeutung. Vom vorgeburtlichen Stadium bis zum Tod ist die lebenslange Entwicklung des Menschen nur im Kontext seiner Beziehung mit anderen Menschen verstehbar.
Seit den 1980er-Jahren hat nicht nur das systemische Wissen über die Dynamik psychischer und psychosozialer Systeme (Individuen, Paare, Familien, Gruppen, Organisationen etc.) enorm zugenommen, die Fülle von systemtherapeutischen Methoden, Vorgehensweisen und Techniken wird zunehmend auch von Vertretern anderer psychotherapeutischer Ansätze aufgegriffen und eingesetzt (nicht ohne dass gelegentlich ihre Herkunft verschwiegen wird). Umgekehrt haben auch Konzepte anderer Herkunft (etwa Bindungstheorie, Affektdynamik u. a.) im Laufe der Zeit Eingang in systemische Modelle gefunden. Die Zeit der »harten Abgrenzung« aus den frühen Jahren ist längst vorbei.
Professionalisierungsprozesse (etwa in der Medizin, Jurisprudenz, Psychotherapie oder Sozialarbeit) münden nach einer Anfangsphase vielfältigen und wenig reglementierten »Wildwuchses« regelmäßig in eine organisierte Form der Wissensweitergabe an die nachfolgenden Generationen von Professionellen, ohne die eine relative Einheit des Fachgebietes oder der Disziplin gar nicht vorstellbar ist. Dies ist aus der Sicht der Kunden professioneller Dienstleistungen ebenso plausibel wie aus der Sicht der Professionsangehörigen, die ihre Leistungen auf dem Markt anbieten und als solche identifizierbar machen müssen. Damit verbunden ist eine bestimmte Ordnung des verfügbaren Wissens und ihre Weitergabe im Rahmen von Aus- und Weiterbildungsgängen, Curricula, Prüfungssystemen usw. Diesem organisationalen »Schließungsprozess« auf der einen Seite steht die Notwendigkeit der inhaltlichen Öffnung bzw. Offenhaltung als Garant der schöpferischen Potenz eines Ansatzes gegenüber, die eine Gewähr dafür bietet, dass seine inhaltliche Substanz nicht erstarrt und abstirbt.
Während der systemische Ansatz sich in seinen frühen Jahren durch zum Teil radikale Experimente auszeichnete, lässt sich seit Ende der 1980er-Jahre eine deutliche institutionelle Konsolidierung verzeichnen – bei gleichzeitiger Vielfalt curricularer Orientierungen, je nach theoretischer und professioneller Herkunft der Anbieter entsprechender Weiterbildungsangebote. Schon 1987 wurde der »Dachverband für Familientherapie und systemisches Arbeiten« (DFS) als kleinerer Verband von Weiterbildungsinstituten ins Leben gerufen, der eine Vereinheitlichung und Zertifizierung von Weiterbildung in systemischer Therapie und Beratung zum Ziel hatte. 1993 gründete sich die Systemische Gesellschaft (SG), z. T. mit einer ähnlichen Zielsetzung, aber mit einem engeren systemtheoretischen Selbstverständnis. Aus einer Fusion der (ursprünglich als loses Sammelbecken von familientherapeutisch interessierten Personen konzipierten) Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie (DAF) und dem DFS entstand im Jahre 2000 die DGSF (Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie), der gegenwärtig größte systemische Fachverband. SG und DGSF haben heute weitgehend vergleichbare Weiterbildungsrichtlinien. Eine entsprechend zertifizierte Weiterbildung in systemischer Therapie und Beratung kann man mittlerweile bei über 100 Weiterbildungsinstituten in Deutschland absolvieren. In Österreich und der Schweiz gelten andere rechtliche Rahmenbedingungen, aber auch hier gehört die systemische Therapie zu den etablierten und professionalisierten Therapieansätzen.
Die »Ordnung des Wissens« des jeweiligen Fachgebietes zu vermitteln ist die primäre Aufgabe eines Lehrbuches. Es kann dazu beitragen, die professionelle Praxis zu legitimieren und zu orientieren. Viele Lehrbücher kommen deshalb mit einem Nimbus der Objektivität daher, mit dem ein Anspruch auf die Gültigkeit des präsentierten Wissens erhoben wird. Ein Wesensmerkmal der wissenschaftlichen Grundlegung des systemischen Ansatzes liegt jedoch darin, dass Wissen nicht als einheitlicher, widerspruchsfreier Kanon theoretischer und praxeologischer Konzepte, sondern als sich selbst ständig infrage stellende soziale und kommunikative Praxis verstanden wird, die sich in einer Vielzahl von unterschiedlichen Facetten, Bezugnahmen und Entwicklungsrichtungen entfaltet. Dieses Lehrbuch postuliert daher nicht, was gilt oder gelten soll, sondern hat den Anspruch, die Vielfalt systemischen Denkens zugänglich zu machen. Gleichzeitig bietet es einen konzeptuellen Rahmen an, der Perspektivendifferenzen zwar ermöglicht, aber nicht der Beliebigkeit anheimstellt.
Ausgangspunkt ist ein Verständnis systemischer Therapie und Beratung als transdisziplinärer und multiprofessioneller Ansatz, ein Verständnis, das sich bewusst von der berufsständischen Einengung des psychotherapeutischen Professionalisierungsprozesses auf den »Psychologischen Psychotherapeuten« absetzt. Das Lehrbuch richtet sich daher gleichermaßen an psychologische und ärztliche Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sowie Angehörige anderer Berufe, die in therapeutischen Kontexten tätig sind.
Die Orientierung an Kontexten ist der Leitfaden, der sich durch das gesamte Buch zieht. Ausgehend von den unterschiedlichen beruflichen und disziplinären Zugängen zur systemischen Praxis, werden die verschiedenen theoretischen Kontexte vorgestellt, aus denen sich die Philosophie des systemischen Ansatzes speist.
Die Grundlagen der therapeutischen und beraterischen Praxis (Problemverständnis, Haltung, Methoden und Techniken) werden nicht wie oft üblich entlang medizinisch-psychiatrischer Diagnosesysteme entwickelt, sondern anhand konkreter Behandlungssettings und institutioneller und organisationaler Strukturen, innerhalb deren systemische Therapeutinnen und Berater tätig sind, und konkreter klinischer Konstellationen, die für spezifische Arbeitskontexte typisch sind.
Eigenständige Kapitel sind den Themen »Interkulturelle Therapie und Beratung« und »Ethik, Lehre und Forschung« gewidmet.
Als Herausgeber war es unsere Idee, die Vielfalt von Unterschieden innerhalb des systemischen Ansatzes durch die Beteiligung eines breiten Spektrums von Autorinnen und Autoren widerzuspiegeln, die über jahrelange Erfahrungen als Therapeutinnen und Berater wie auch als Lehrende in unterschiedlichen Kontexten verfügen. Mit einer einzigen Ausnahme haben alle Kolleginnen und Kollegen, bei denen wir wegen eines Beitrags angefragt haben, unsere Einladung angenommen. Ihnen gilt unser herzlicher Dank. Herausgekommen ist dabei ein repräsentativer Querschnitt dessen, was derzeit im systemischen Feld praktiziert und gelehrt wird. Zu Beginn der Arbeit an diesem Buch fand im März 2010 ein vom Carl-Auer Verlag organisiertes Treffen der Herausgeber und des Verlages mit einigen Autorinnen in Heidelberg statt, auf dem das Konzept des Lehrbuches diskutiert und viele Ideen für die weitere Arbeit auf den Weg gebracht wurden. Auch für diese Unterstützung möchten wir an dieser Stelle allen Beteiligten unseren Dank aussprechen.2
Es wurde unter den Autoren eine lebhafte Diskussion darüber geführt, wie eine geschlechtssensitive Schreibweise umgesetzt werden könnte. Wie nicht anders zu erwarten, gab es eine Fülle von unterschiedlichen Vorschlägen, die sich nicht vereinheitlichen ließen. Als Herausgeber haben wir uns daher für eine Schreibweise entschieden, in der jeweils die männliche und weibliche Form in freiem Wechsel verwandt wird, wenn sich die Verwendung des Maskulinums oder Femininums nicht zwangsläufig aus dem Inhalt ergibt.
Tom Levold und Michael Wirsching Köln und Freiburg, Frühjahr 2014
1In den angelsächsischen Ländern hat sich bis heute stärker das Label »Familientherapie« erhalten.
2Corina Ahlers, Uli Clement, Reinert Hanswille, Thomas Hegemann, Joachim Hinsch, Ralf Holtzmann, Rudolf Klein, Klaus Müller, Cornelia Oestereich, Hans Schindler, Beate Ch. Ulrich, Gunthard Weber.