Читать книгу Die dänischen Eufemiaviser und die Rezeption höfischer Kultur im spätmittelalterlichen Dänemark – The Eufemiaviser and the Reception of Courtly Culture in Late Medieval Denmark - Группа авторов - Страница 16
II Die Handschrift als materielles Phänomen
ОглавлениеDer Kodex K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket) weist keinerlei Illustrationen auf. Einige wenige Seiten haben Initialen, die größte darunter ist gleich auf der ersten Seite zu finden, auf der sich das rote I („I Naffn“) beim Beginn von Herr IvanIvan lejonriddaren (schwed.) über 19 von 24 Zeilen erstreckt. Zudem sind hier die ersten Buchstaben auf jeder Zeile mit kleinen roten Strichen hervorgehoben (vgl. Abb. 1). Diese Seite stellt jedoch eine Ausnahme dar. Bei den anderen Erzählungen wird der Beginn durch eine kleine Initiale in Zeile 7 (vgl. Abb. 5) oder einen leergelassenen Raum für eine später nicht ausgefüllte Initiale markiert (vgl. Abb. 3 und 6) bzw. ganz unmarkiert gelassen (vgl. Abb. 2 und 4).
Abb. 1: K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket), 1r, Ivan løveridderIvan løveridder (dän.), Incipit
Abb. 2: K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket), 112r, Hertug Frederik af NormandiHertug Frederik af Normandi (dän.), Incipit
Abb. 3: K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket), 153v, Dværgekongen LaurinDværgekongen Laurin, Incipit
Abb. 4: K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket), 169v, Persenober og KonstantianobisPersenober oc Constantianobis, Incipit
Abb. 5: K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket), 196v, Den kyske dronningDen kyske dronning, Incipit
Abb. 6: K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket), 219r, Flores og BlanseflorFlores og Blanseflor (dän.), Incipit
Abb. 7: K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket), 218v, Den kyske dronningDen kyske dronning, Explicit
Abb. 8: K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket), 255r, Flores og BlanseflorFlores og Blanseflor (dän.), Explicit
Abb. 9: K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket), 255v, Flores og BlanseflorFlores og Blanseflor (dän.), obere Hälfte: Schluss des Explicit, untere Hälfte: spätere Besitzereinträge
Drucke aus späteren Zeiten stellen die eindeutigsten Belege für die Rezeption der einzelnen Texte dar; auf sie wird unten ausführlicher eingegangen. Daneben finden sich in K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket) aber einige interessante Marginalien, die ebenfalls frühe Spuren der Beschäftigung mit den Erzählungen beinhalten. Eine Hand, die von ca. 1700 stammen dürfte, also rund 200 Jahre jünger als der allgemein angenommene Zeitpunkt der Niederschrift der Handschrift ist, fügte bei fünf der sechs Erzählungen in den Marginalien beim Beginn eines neuen Textes eine Art von Titeln ein (vgl. Abb. 1–4, 6). Diese später hinzugefügten Titel zeigen deutlich, dass der nachmittelalterliche Leser Gattungszuschreibungen vornahm und drei der betreffenden Erzählungen in die großen und gut bekannten Sagenkreise um Artur, Karl den Großen und Dietrich einordnete, sie also vor dem Hintergrund von Ritter- und Heldenepik sah. Die einschlägigen Überschriften lauten:
Ivan løveridderIvan løveridder (dän.): „Om kong Artus og Keyser Karolus Magnus“ (Über König Artur und Kaiser Karl den Großen)
Hertug FrederikHertug Frederik af Normandi (dän.): „Om Kong Artus i Engeland“ (Über König Artur in England)
Dværgekongen LaurinDværgekongen Laurin: „Om Thidrik af Bern“ (Über Dietrich von Bern)
Persenober og KonstantianobisPersenober oc Constantianobis: „Om Jomfrú Constancianobis“ (Über die Jungfrau Konstantianobis)
Den kyske dronningDen kyske dronning weist keine Überschrift auf.
Flores og BlanseflorFlores og Blanseflor (dän.): „Flores Bok“ (Das Buch von Flores)
Während die Handschrift ursprünglich ohne Titel und nur mit Initialen zur Gliederung auskam, bestand im frühen 18. Jahrhundert offenbar das Bedürfnis oder die Notwendigkeit, die Narrative einerseits thematisch deutlicher voneinander abzuheben, also den Kodex zu strukturieren, und sie mit groben Inhalts- und Gattungsangaben zu versehen. Indem sie die einzelnen Erzählungen bestimmten Traditionen zuweisen, übernehmen diese paratextuellen Marginalien neben gliedernden somit auch literaturhistorische Funktionen.
,Originale‘, also mit dem Text zusammen verfasste Paratexte vom Typ des Incipit oder Explicit, der Prologe oder Epiloge, Kolophone, Vor- oder Nachwörter vermitteln demgegenüber ausgeprägter textinterne Aussagen zu den Intentionalitäten. Vor allem die Prologe und Epiloge weisen in den vorliegenden Texten ein bemerkenswertes Spektrum an relevanten Kriterien wie Terminologie, Transmission, Intertextualität, Performativität, Datierung, Angaben zu den Übersetzungs-, Schreib-, Aufführungsprozessen auf.1 Einige Beispiele aus K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket) können dies illustrieren.
Der am meisten verwendete narratologische Terminus in Paratexten und allgemein metafiktionalen Selbstbezeichnungen ist „bog“ (Buch). Der Begriff ist weit und kann sowohl das Narrativ, das der Erzähler zu erzählen beginnt oder soeben abgeschlossen hat, wie auch das physische Manuskript als ein materielles Objekt umfassen. Aus diesem Grund kann man ein Buch machen, es in eine bestimmte Form wie etwa Reime setzen, es sehen oder hören, aus ihm vorlesen, ein Buch kann aber auch geschrieben und übersetzt werden: „war thenne bogh giordh til rimæ“ (wurde dieses Buch zu Reimen gemacht), Ivan løveridderIvan løveridder (dän.), V. 6397; „thenne bog, som i hawer hørdh“ (dieses Buch, das ihr gehört habt), Hertug FrederikHertug Frederik af Normandi (dän.), V. 2401; „førræ æn bogen ær læst til ændhe“ (bevor das Buch zu Ende gelesen ist), Den kyske dronningDen kyske dronning, V. 6; „Thenne bog worte dickt oc giord for snyme“ (dieses Buch wurde vor Kurzem gedichtet und gemacht), Den kyske dronning, V. 1221; „then som bogen satte i ryme“ (der, welcher das Buch in Reime setzte), Den kyske dronning, V. 1229; „Thenne bogh worte dikt i rym“ (dieses Buch wurde in Reimen gedichtet), PersenoberPersenober oc Constantianobis, V. 1587; „[S]om jech i bogen skrewet saa“ (wie ich im Buch geschrieben sah), FloresFlores og Blanseflor (dän.), V. 1; „Ewfemia droningh, thet mowe I tro, / lodh thenne bogh om windhæ saa / aff walske twnge och pa wort mall.“ (Königin EufemiaEufemia, Königin von Norwegen, das sollt ihr glauben, ließ dieses Buch so wenden [übersetzen] aus der wälschen Zungen und in unsere Sprache), Ivan løveridder, V. 6398–6400. Den zweifachen Übersetzungsprozess referiert Hertug Frederik besonders ausführlich:
Thenne bog, som i hawer hørdh,
then hawer kieszer Otte giord
och wenden aff walskæ i tyskæ maal.
Gud nade then edlæ fyrstæ hans siel.
Nw ær hwn wend i staked timæ,
jen anen tid sat i rymæ
aff tysk och i danskæ twnge,
henne maa for staa bode gamlæ och vnge. (Hertug Frederik, V. 2401–2408)
Dieses Buch, das ihr gehört habt, das hat Kaiser Otto gemacht und gewendet aus der wälschen Zungen in die deutsche Sprache. Gott sei der Seele des edlen Fürsten gnädig. Nun ist es übersetzt vor kurzer Zeit, ein anderes Mal in Reime gesetzt aus deutscher und in die dänische Zunge, verstehen sollen es sowohl Alte wie Junge.2
Andere relevante narratologische Termini beziehen sich auf Stoffe und Inhalte („sag“, Sache), („ewentyr“, die Entsprechung zum französischen und deutschen aventure / aventiure als Inbegriff der zentralen Handlung der Ritterdichtung, in den späteren Ausgaben wird „ewentyr“ jedoch allgemein für Erzählung, Geschichte verwendet und unten auch so übersetzt), die metrische Form („dikt“, Gedicht), Gattung („spil“, Spiel): „ffromme saghe fram ath føre“ (tapfere Sachen [Erzählungen über tapfere Taten] vorzutragen), Ivan løveridderIvan løveridder (dän.), V. 3; „[I]eth ewentyr tha begynes heræ“ (eine aventiure, die beginnt hier), Hertug FrederikHertug Frederik af Normandi (dän.), V. 1; „[I]eth ewentyr wil jech seye fra“ (eine aventiure will ich erzählen), PersenoberPersenober oc Constantianobis, V. 1; „nw hawer thennæ dickt jen ændæ“ (jetzt hat dieses Gedicht ein Ende), FloresFlores og Blanseflor (dän.), V. 2188; „[Ie]th lidhet spel acther jech ath skriwe“ (ein kleines Spiel beabsichtige ich zu schreiben), Dværgekongen LaurinDværgekongen Laurin, V. 1.
Auch diese und andere Termini sind wie „bog“ offen und weit, so dass sich aus ihnen nur mit Mühe eine ansatzweise systematische Typologie medialer und gattungsmäßiger Konzepte und eine schlüssige historische Semantik entwickeln ließe. Die in K 4Codex Holmiensis K 4 (Stockholm, Kungliga biblioteket)7Codex Holmiensis K 47 (Stockholm, Kungliga biblioteket) verwendeten Begriffe, die natürlich Entsprechungen in der zeitgenössischen Literatur haben, zeigen jedoch ein beachtliches Bewusstsein für mediale Kategorien, welche die literarischen Texte und deren Performativität in semi-oralen Kulturen, Inszenierungen von Schrift wie auch mündliche Konstellationen bestimmen. Die Handschrift K 47, kurz und unambitioniert, wie sie ist, stellt in einem weitgefächerten Spektrum Überlegungen zu so wichtigen Fragen darüber zur Diskussion, wie Erzählungen gemacht sind, wie sie entstehen (können), als stabile Einheiten weiter tradiert werden oder sich in Phasen von manchmal sehr kreativen Prozessen fluiden Neuschreibens ändern.
Mit rhetorischen Topoi wird die Zuverlässigkeit des Narrativs unterstrichen, wenn es beispielsweise heißt, „Thet wil jech seye for sannen hæræ“ (Das will ich hier für wahr sagen), PersenoberPersenober oc Constantianobis, V. 10. Oder in einer Art von früher Textkritik wird im Epilog von Ivan løveridderIvan løveridder (dän.) behauptet, dass der Text nicht geändert und im Verhältnis zur Vorlage weder Auslassungen noch Hinzufügungen vorgenommen worden seien:
nw hawer jech sawdh aff iwan
alth hwadh jech aff hanum skrewet fand
och aldiels jnthet lawdh ther til
ladhe veræ how thet ey tro wil
jnthet lodh jech ther effther staa
aff thet jech skrewet for mægh saa (Ivan løveridder, V. 6388–6393)
Nun habe ich von Ivan erzählt, alles, was ich über ihn geschrieben fand und gar nichts hinzugefügt. Lasst sein, wer es nicht glauben will. Nichts ließ ich davon stehen [nichts ließ ich aus], von dem, was ich vor mir geschrieben sah.
Der Erzähler des Dværgekongen LaurinDværgekongen Laurin stellt im Prolog das Offensichtliche fest, „jech kan ey heræ alt skriwe“ (Ich kann hier nicht alles schreiben), Laurin, V. 10. Im Epilog sagt er: „Hwad the siden mwn slaa appa, / ther wil jech jnthet seye fra, / pa thenne tid lade thet saa weræ“ (Was sie später trieben, davon will ich nichts erzählen, zu dieser Zeit lasse ich es so sein), Laurin, V. 879–881 – eine narratologische Reflexion, die auch aus der isländischen Sagaliteratur bestens bekannt ist.
In Den kyske dronningDen kyske dronning wird, was in diesem Textkorpus eine große Ausnahme darstellt, der Name des Autors oder zumindest dessen, der die Erzählung versifizierte, angegeben. „hwo hans naffn wil wede / jep jensen mon han hiedhæ / then som bogen satte i ryme“ (Wer seinen Namen wissen will, Jep Jensen wird er heißen, der, welcher das Buch in Reime setzte), Den kyske dronning, V. 1227–1229. Der Forschung ist es nicht gelungen, hinter diesem Namen eine empirische Person ausfindig zu machen (vgl. Abb. 7).
Der Epilog von Flores og BlanseflorFlores og Blanseflor (dän.), und damit in gewisser Weise der gesamten Handschrift, skizziert die Produktions- und Aufführungssituation und bietet besonders viele einschlägige metafiktionale Elemente (vgl. Abb. 8–9):
Nw hawer thennæ dickt jen ændæ,
Gud han os sin nadæ sændæ!
Ewfemia dronnigh i then timæ
lodh sættæ thennæ bog [a rimæ]
lidhet føræ hwn døde,
Gud frælsæ hinnæ siel aff møde.
saa och then ther hinnæ giorde,
och allæ the ther hinnæ hørde,
reth anger och skrefftemal,
hemerigs gledæ tha fonge wor sel.
Thet lade os Gud i hemerig hændæ,
ther lewer och styrær for vden ænde!
then hinnæ skreff, hwn maa och saa,
ther til seye wi allæ jaa!
amen! (Flores og Blanseflor, V. 2188–2202)
Nun hat dieses Gedicht ein Ende, Gott sende uns seine Gnade! Königin Eufemia, zu jener Zeit ließ setzen dieses Buch [in Reime], kurz bevor sie starb, Gott erlöse ihre Seele von Kummer. Und auch den/die, welche/r es machte, und alle die, die es hörten, gerechte Reue und Beichte, des Himmelreiches Freude erlange unsere Seele. Das lasse Gott uns im Himmelreich erfahren, der lebt und lenkt ohne Ende! Ihr, die es [das Buch] schrieb, ergehe es auch so, dazu sagen wir alle Ja! Amen!
Dieser Epilog ist in den Einzelelementen typisch für spätmittelalterliche Texte vom vorliegenden Genre und zugleich außergewöhnlich in seiner Ausführlichkeit. Er markiert einleitend explizit das Ende des Narrativs und introduziert darauf zum ersten Mal in diesem Text die Mäzenin, deren Tod, der kurz nach der Niederschrift der Erzählung erfolgt sein soll, eine ungefähre Datierung ermöglicht (auch wenn diese natürlich debattiert werden kann). Die beiden anderen EufemiaviserEufemiaviser (dän.) übernehmen diese Art der Datierung, wenn auch der dänische Hertug FrederikHertug Frederik af Normandi (dän.) Eufemias Namen nicht erwähnt – im Unterschied zu den schwedischen Handschriften, in denen es heißt, „Hona loth wændæ a thetta mall / Eufemiæ drøtning […]“ (Es [dieses Buch] ließ wenden in diese Sprache Königin EufemiaEufemia, Königin von Norwegen), Hertig FredrikHertig Fredrik af Normandie (schwed.), V. 3287–3288. Zuschreibung an die Mäzenin und Datierung erfolgen in allen drei Eufemiaviser-Epilogen nach dem gleichen Muster. Dichter bzw. Übersetzer und vor allem auch die anwesenden und direkt angesprochenen Zuhörenden werden genannt und ihnen wird gedankt. Dass es sich bei der Person, die die Handschrift schrieb, um eine Frau handelte, wird hier in Flores og BlanseflorFlores og Blanseflor (dän.) und auch in Hertug Frederik, V. 2419 („hwn“, sie), ausdrücklich betont, während Ivan løveridderIvan løveridder (dän.), V. 6406, von einem männlichen Schreiber spricht („hanum“). Dværgekongen LaurinDværgekongen Laurin, Persenober og KonstantianobisPersenober oc Constantianobis und Den kyske dronningDen kyske dronning erwähnen die Funktion des Schreibers bzw. der Schreiberin dagegen nicht. Alle am Zustandekommen der Erzählung und des Buches und den Primärrezipienten werden am Schluss toposhaft in eine als anwesend konzipierte Erzähl- und Hörergemeinschaft integriert. So macht der Epilog am Ende mit aller Deutlichkeit nochmals auf die kommunikativen und performativen Aspekte des Erzählens und Vortragens auf der Grundlage von geschriebenen Texten aufmerksam. Wie sich diese Elemente in den nachmittelalterlichen Drucken entwickelten, soll im Folgenden kurz betrachtet werden.