Читать книгу Praxishandbuch Altersmedizin - Группа авторов - Страница 132

5.10 Potenziale Andreas Kruse und Eric Schmitt 5.10.1 Einleitung: Zum Verständnis von Potenzialen des Alters

Оглавление

Die Frage nach den Chancen und Voraussetzungen der Entwicklung und Nutzung von Stärken und Potenzialen des Alters hat vor dem Hintergrund des demografischen Wandels weltweit an Bedeutung gewonnen. Innovationsfähigkeit, Wirtschaftswachstum und Wohlstand alternder Gesellschaften, nicht zuletzt auch leistungsfähige soziale Sicherungs- und Rentensysteme, sind allein auf der Grundlage der Produktivität jüngerer Generationen nicht zu sichern, die Bedürfnisse und Bedarfe einer immer größeren Zahl älterer Menschen auf Dauer von einer immer kleineren Anzahl jüngerer Menschen nicht zu finanzieren, wenn auf mögliche (Gegen-)Leistungen älterer Generationen verzichtet wird. Entsprechend ist der aktuelle und zukünftige Beitrag alter Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft zu einem zunehmend wichtigeren Gegenstand des öffentlichen Diskurses, seine Sicherung und Gestaltung zu einer zentralen Aufgabe gesellschaftlicher Entwicklung geworden.

Mit Blick auf die Definition von Potenzialen des Alters kann zwischen einem theoretischen und einem empirisch-praktischen Zugang differenziert werden (Kruse und Schmitt 2010). In theoretischer Perspektive kann in Anlehnung an die von Kierkegaard (1984) beschriebenen Metamorphosen des Alters zwischen Kontinuierlichkeit oder Perfektibilität und Potenzialität differenziert werden. Die erstgenannte Metamorphose (Kontinuierlichkeit, Perfektibilität) bezieht sich dabei auf seelisch-geistige Kräfte, die wir heute als Erfahrungswissen und Überblick umschreiben. Die zweite (Potenzialität) hingegen legt besonderes Gewicht auf die schöpferischen Kräfte im Prozess der Vervollkommnung einer Idee, eines Werkes oder eines persönlich bedeutsamen Daseinsthemas. Charakteristisch für einen empirisch-praktischen Zugang sind Arbeiten zum Lebenswissen in den verschiedenen Lebensaltern – also nicht nur im Alter – die zeigen, dass Menschen in dem Maße, in dem sie sich kontinuierlich und reflektierte mit zentralen Fragen des Lebens auseinandersetzen, sich kognitiv wie emotional auf diese einstellen und nach persönlich tragfähigen Antworten suchen, reichhaltigen Wissenssystems in Bezug auf das Leben sowie zum kompetenten Umgang mit praktischen Lebensanforderungen entwickeln und im eigenen Interesse wie im Interesse anderer nutzen können (Staudinger 2005). Im Alternsprozess zunehmende Erfahrungen von Begrenztheit, Verletzlichkeit und Endlichkeit des Lebens tragen dazu bei, dass ältere Menschen besser in der Lage sind als jüngere Menschen, mit Unsicherheiten und Ungewissheiten des Lebens umzugehen. Dieser Befund verweist auf das im Lebenslauf mehr und mehr an Gewicht gewinnende Innewerden der Begrenztheit, Verletzlichkeit und Endlichkeit des Lebens. Der hier angesprochene Entwicklungsprozess ist, darauf hat schon Ernst Bloch in seiner Schrift »Das Prinzip Hoffnung« (Bloch 1972) hingewiesen, nicht nur in einem individuellen Kontext, im Sinne einer durch reflektierte Auseinandersetzung angestoßenen und geförderten biografischen Entwicklung, sondern auch in einem gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, im Sinne der Frage, inwieweit Wissenssysteme und Fähigkeiten alter Menschen durch die Gesellschaft anerkannt und genutzt werden (Kruse und Schmitt 2016).

Im Alternsprozess auftretende Verluste haben nicht selten irreversiblen Charakter. Aus diesem Grunde stehen bei der Lebensgestaltung im Alter andere Mechanismen im Vordergrund als in früheren Lebensjahren. Im SOK-Modell von Baltes und Baltes (1990) werden etwa Selektion und Kompensation, im Zwei-Prozess-Modell der Bewältigung (Brandtstädter 2017) akkomodative Prozesse, in der Lebenslauftheorie kontrollbezogenen Verhaltens (Heckhausen et al. 2019) sekundäre Kontrollprozesse wichtiger. Da Entwicklungsverluste mit zunehmendem Alter häufiger, Entwicklungsgewinne hingegen seltener werden, das subjektive Wohlbefinden älterer Menschen gleichzeitig aber mit dem jüngerer Menschen vergleichbar, in einigen Untersuchungen sogar besser ist (Carstensen und Lang 2007), liegt es aus der Perspektive der genannten Theorien nahe, im Management von Verlusten einen Bereich zu sehen, in dem sich in besonderem Maße kreative Potenziale des Alters widerspiegeln.

Wenn die verbleibende Lebenszeit in stärkerem Maße als begrenzt erfahren wird, werden unmittelbare Bedürfnisse (wie emotionales Wohlbefinden) wichtiger, wenn dagegen die Zukunftsperspektive – wie in frühen Lebensabschnitten – als nahezu unbegrenzt erscheint, kommt langfristigen Zielen größere Bedeutung zu. Entsprechend sind ältere Menschen in geringerem Maße als jüngere an emotional bedeutungslosen, in anderer Hinsicht (z. B. hinsichtlich der Gewinnung neuer Information) aber unter Umständen bedeutungshaltigen Kontakten interessiert. Des Weiteren verändert sich im Laufe des Erwachsenenalters auch die Verarbeitung emotional-relevanter Informationen: Positive emotionale Inhalte werden von älteren Menschen stärker beachtet, höher gewichtet, effektiver verarbeitet und besser erinnert als negative emotionale Inhalte und emotional unbedeutende Inhalte. Von Vertretern der sozioemotionalen Selektivitätstheorie wird betont, dass die genannten Veränderungen nicht lediglich im Sinne von effektiven Mechanismen der Verlustbewältigung, sondern vielmehr als evolutionär begründete sozioemotionale Gewinne, originäre Potenziale des Alters zu interpretieren sind (Carstensen und Löckenhoff 2004). Demnach begünstigte die evolutionäre Selektion aber soziale Fähigkeiten von alten Menschen, die dazu führten, anderen kompetent zu helfen und eigene Erfahrungen an Jüngere weiterzugeben. Erwachsene im post-reproduktiven Alter tragen zur Reproduktionsfähigkeit ihrer Nachkommen bei, »indem sie emotional ausgeglichen(er) sind, über ein großes soziales wie allgemeines Welt- und Beziehungswissen verfügen und indem sie den sozialen Zusammenhalt ihrer (Stammes-)Gruppe verbessern« (Carstensen und Lang 2007, S. 393). In dieser Sichtweise des evolutionären Kontexts der sozialen und emotionalen Entwicklung erscheint die zunehmende Begrenztheit der Zukunftsperspektive weniger als eine durchaus adaptive Reaktion auf verlorene Entwicklungsoptionen und endgültig blockierte Entwicklungsziele, die stärkere Gewichtung emotionaler Ziele nicht primär als Folge reaktiver Selektion, die zur Folge hat, dass nicht mehr erreichbare Ziele zugunsten des noch erreichbaren aufgegeben werden, oder als Kompensationsmechanismus, der trotz zunehmender Verluste die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Zufriedenheit und Wohlbefinden ermöglicht. Stattdessen wird die Entwicklung der Zeitperspektive als grundlegend für die Evolution menschlicher Erkenntnis und Kognition interpretiert. Mit der allgemein stärkeren Beachtung und Gewichtung emotionaler Inhalte gewinnt auch das Bedürfnis, sich für das Wohlergehen anderer Personen einzusetzen, persönliche Erfahrungen weiterzugeben und Bleibendes zu schaffen, an Bedeutung. Gleichzeitig sind ältere Menschen infolge ihrer höheren Sensibilität für emotionale Inhalte und der als Positivitätseffekt beschriebenen Akzentuierung positiver Aspekte zum Teil besser als Jüngere in der Lage, Welt- und Beziehungswissen an nachfolgende Generationen weiterzugeben und zwischen unterschiedlichen Interessen zu vermitteln.

Praxishandbuch Altersmedizin

Подняться наверх