Читать книгу Praxishandbuch Altersmedizin - Группа авторов - Страница 134
5.10.3 Offenheit des Menschen für neue Entwicklungsmöglichkeiten
ОглавлениеDer wissenschaftliche Diskurs über Potenziale im Alter sollte nicht losgelöst von der Offenheit des Menschen für neue Herausforderungen und Anforderungen – seiner Person wie auch der Gesellschaft und Kultur – geführt werden. Denn erst die Offenheit lässt den Menschen jene Entwicklungsmöglichkeiten, die in einer Situation gegeben sind, differenziert wahrnehmen und erkennen.
Die prinzipielle Veränderungs- und Wandlungsfähigkeit des Menschen über die gesamte Lebensspanne bildet eine der grundlegenden Aussagen der empirisch fundierten Psychologie der Lebensspanne. Diese zeigt sich nicht lediglich in körperlichen und geistigen Leistungen, sondern auch im Erleben, Verhalten und Handeln – mithin bedeutsamen Seiten der Persönlichkeit. Klassische Entwicklungstheorien – zu nennen sind hier zum Beispiel jene der Individuation von Carl Gustav Jung oder des epigenetischen Diagramms von Erik Homburger Erikson – postulieren die in der späteren, empirisch ausgerichteten Lebensspannenforschung bestätigte Veränderbarkeit und Formbarkeit (Plastizität) der Persönlichkeit, wobei in neueren theoretischen Arbeiten der Aspekt der Entwicklungsfähigkeit im Alter um jenen der Entwicklungsnotwendigkeit im Alter ergänzt wurde. Diese Ergänzung erscheint dabei vor allem im Kontext der zum Teil hohen Anforderungen, die dem Menschen speziell im hohen Alter gestellt sind (erhöhte körperliche Vulnerabilität, Verluste im sozialen Bereich, vermehrte Konfrontation mit der Endlichkeit und mit dem Leben als Fragment), sinnvoll. Doch gilt dies nicht nur im Hinblick auf diese Anforderungen. Genauso bedeutsam sind mögliche Formen der Kreativität im hohen Alter, deren Verwirklichung auch Entwicklung notwendig machen: Zu nennen sind hier zum Beispiel der originelle Gebrauch von Wissen und Strategien mit dem Ziel, zur einer neuartigen Lösung eines Problems zu gelangen oder die Verbindung der Ordnung des Lebens – d. h. der Entfaltungsmöglichkeiten – mit der Ordnung des Todes – d. h. mit endgültigen Verlusten des Menschen – zu einer Haltung, die in der Begrifflichkeit der Theorie Eriksons mit Integrität umschrieben werden kann (Kruse 2017).
Die Veränderungs- und Wandlungsfähigkeit ist an die grundlegende Offenheit des Menschen für neue Entwicklungsanforderungen und Entwicklungsaufgaben gebunden – eine Aussage, die in der Weiterführung der Entwicklungstheorie Eriksons durch Peck (1977) eine besondere Akzentuierung erfahren hat; Peck wählt hier den Begriff der kathektischen Flexibilität, den er im Sinne der Fähigkeit deutet, »emotionelle Bindungen von einer Person auf die andere und von einer Tätigkeit auf die andere zu übertragen. In gewisser Weise sind alle Umstellungen in der Anpassung, die während des ganzen Lebens vollzogen werden, eine solche Verschiebung emotionaler Bindungen« (Peck 1977, S. 537).
Thomae hebt in seiner Schrift Persönlichkeit – eine dynamische Interpretation (1966) hervor, dass die im Lebenslauf entwickelte und erhaltene Offenheit für neue Möglichkeiten und Anforderungen einer Situation grundlegend für die Entwicklungsfähigkeit im Alter und dabei auch für die gelingende Auseinandersetzung mit den Grenzsituationen des Lebens sei. So charakterisiert Thomae (1966) diesen Zusammenhang wie folgt:
»So könnte man etwa als Maßstab der Reife die Art nehmen, wie der Tod integriert oder desintegriert wird, wie das Dasein im ganzen eingeschätzt und empfunden wird, als gerundetes oder unerfüllt und Fragment gebliebenes, wie Versagungen, Fehlschläge und Enttäuschungen, die sich auf einmal als endgültige abzeichnen, abgefangen oder ertragen werden, wie Lebenslügen, Hoffnungen, Ideale, Vorlieben, Gewohnheiten konserviert oder revidiert werden. Güte, Gefasstheit, Abgeklärtheit sind Endpunkte einer Entwicklung zur Reife hin, Verhärtung, Protest, ständig um sich greifende Abwertung solche eines anderen Verlaufs. […] Güte, Abgeklärtheit und Gefasstheit sind nämlich nicht einfach Gesinnungen oder Haltungen, die man diesen oder jenen Anlagen oder Umweltbedingungen zufolge erhält. Sie sind auch Anzeichen für das Maß, in dem eine Existenz geöffnet blieb, für das Maß also, in dem sie nicht zu Zielen, Absichten, Spuren von Erfolgen oder Misserfolgen gerann, sondern so plastisch und beeindruckbar blieb, dass sie selbst in der Bedrängnis und noch in der äußersten Düsternis des Daseins den Anreiz zu neuer Entwicklung empfindet.« (S. 145)