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5.10.4 Kohorte und Altersschichtung
ОглавлениеErleben und Verhalten alter Menschen, körperliche, seelische, geistige Ressourcen, die objektiv gegebene und subjektiv erlebte Gesundheit, die Grade und Formen von Vulnerabilität, schließlich die Art und Weise, wie diese verarbeitet und bewältigt wird, sind Merkmale, die nicht nur von der Entwicklung des Individuums in früheren Lebensabschnitten oder von den in den verschiedenen Lebensabschnitten gegebenen Situations- und Umweltbedingungen beeinflusst sind. Über diese Einflussfaktoren hinaus ist auch die Kohortenzugehörigkeit bedeutsam, die Tatsache, dass Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt geboren wurden, sich in einer bestimmten Zeitperiode und in bestimmten historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten entwickelt haben. Die Art und Weise, wie sich das hohe Alter darstellt – körperlich, seelisch, geistig, spirituell, sozial, materiell –, ist auch von einer Kohortenperspektive aus zu untersuchen. Eine Kohorte mit besseren Ernährungs-, Hygiene- und Bildungsbedingungen, mit einer besseren medizinischen Versorgung und mit einem höheren Maß an sozialer Sicherung tritt mit höheren Ressourcen und damit auch besseren Entwicklungsbedingungen in das hohe Alter ein als eine Kohorte, deren Angehörige nicht auf diese entwicklungsförderlichen Bedingungen blicken konnten.
Die Sensibilität für mögliche Kohorteneffekte wurde durch Ergebnisse der Seattle Longitudinal Study (Schaie 2013) erheblich gefördert. Diese zeigen, dass ein Gutteil der beobachteten Altersunterschiede in der kognitiven Leistungsfähigkeit nicht – wie traditionell angenommen – auf mit dem Alternsprozess einhergehende Einbußen und Defizite zurückgeht. Vielmehr sind diese auch auf Niveauunterschiede zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Kohorten zurückzuführen, wie sie etwa infolge ungleicher Bildungs-, Gesundheits- und Karrierechancen auftreten. Des Weiteren liegen Hinweise vor, dass sich die Angehörigen unterschiedlicher Kohorten nicht nur in ihrem jeweiligen Leistungsniveau unterscheiden, sondern auch qualitativ verschiedenartige Entwicklungsverläufe aufweisen. Ausgeprägte Kohortenunterschiede finden sich in der Lebenserwartung und im Bildungsstand ebenso wie in den allgemeinen Lebensbedingungen und im Funktionsstatus. Angesichts einer im Durchschnitt besseren Gesundheit, eines im Durchschnitt höheren Bildungsniveaus, einer im Durchschnitt höheren Vertrautheit mit Bildungsangeboten und Lernsituationen sowie einer im Durchschnitt besseren finanziellen Situation kann davon ausgegangen werden, dass zukünftige Kohorten alter Menschen eher länger in der Lage sein werden, ein selbstverantwortliches und mitverantwortliches Leben zu führen und ein gewisses Maß an Reziprozität zwischen den von anderen in Anspruch genommenen und den für andere erbrachten Leistungen aufrechtzuerhalten.
Die im Arbeitskreis von Mathilda Riley entwickelte Altersschichtungstheorie (Riley et al. 1988) bildet einen heuristischen Rahmen für die Analyse von Zusammenhängen zwischen den in aufeinander folgenden Kohorten beobachtbaren individuellen Alternsprozessen und altersbezogenen gesellschaftlichen Strukturen und Rollen. Den Ausgangspunkt dieser Theorie bildet die Annahme, dass dem Alter für die Schichtung einer Gesellschaft ebenso große Bedeutung zukommt wie dem sozioökonomischen Status, dem Geschlecht oder (in manchen Gesellschaften) der Ethnizität. Je nach Lebensalter werden Menschen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Aufgaben und Erwartungen konfrontiert. Je nach Lebensalter stehen für die Auseinandersetzung mit diesen Aufgaben und Erwartungen unterschiedliche Gelegenheitsstrukturen zur Verfügung.
Die für die Angehörigen einer Kohorte charakteristischen lebensaltersspezifischen Erlebnisse und Erfahrungen können einerseits als Ergebnis gesellschaftlicher Altersschichtung interpretiert werden: Die Angehörigen einer Kohorte werden je nach Lebensalter mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Anforderungen, Erwartungen, Möglichkeiten und Chancen konfrontiert. Individuelles Erleben und Verhalten wird in vielfältiger Weise sozial normiert und sanktioniert. Andererseits ist aber die gesellschaftliche Altersschichtung keine Konstante, mit der sich die Angehörigen aufeinanderfolgender Kohorten in vergleichbarer Weise auseinanderzusetzen hätten. Gesellschaftliche Strukturen spiegeln ebenso den Verlauf und Wandel individueller Alternsprozesse wider wie individuelle Alternsprozesse eine sich wandelnde Sozialstruktur. Nun ist aber zu bedenken, dass der Wandel gesellschaftlicher Strukturen hinter der Veränderung individueller Alternsprozesse ebenso zurückbleiben kann, wie sich Menschen nur mit zeitlicher Verzögerung an neue Strukturen anpassen können. Diese Aussage ist besonders wichtig für das Verständnis jenes relativ jungen und wissenschaftlich wie gesellschaftlich breit diskutierten sozialen Phänomens, das mit dem Begriff der »Neuen Alten« umschrieben wird. Die sogenannten Neuen Alten verfügen heute über ideelle, soziale, finanzielle und gesundheitliche Ressourcen, wie sie in früheren Generationen nicht vorhanden waren – zu nennen sind hier durchschnittlich höhere Bildungsabschlüsse, höhere finanzielle Ressourcen oder ein besserer Gesundheitszustand. Diese Ressourcen tragen dazu bei, dass die Rollen, die unsere Gesellschaft älteren Menschen zur Verfügung stellt, in einem nicht mehr tolerierbaren Maße deren Möglichkeiten und Bedürfnissen widersprechen. Dies hat zur Folge, dass altersbezogene Strukturen in zunehmendem Maße zur Disposition stehen und verändert werden. Die Anpassung von Strukturen ist allerdings erst zu einem Zeitpunkt abgeschlossen, zu dem jene Menschen, die den Wandel altersbezogener Strukturen angestoßen haben, bereits ein hohes Alter erreicht haben und nicht mehr in vollem Umfang von diesem Strukturwandel profitieren können. Die Angehörigen späterer Kohorten können zwar in vollem Umfang von den veränderten Strukturen profitieren, doch sind diese auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse der früheren Kohorte abgestimmt. In dem Maße, in dem sich Möglichkeiten und Bedürfnisse kontinuierlich weiter verändern, müssen deshalb auch die gesellschaftlichen Strukturen kontinuierlich weiterentwickelt werden. Dies zeigt: Vom gesellschaftlichen Altern – und zwar in dem Sinne, dass immer größere Kohorten älterer Menschen nachwachsen – kann ein erheblicher Innovationsschub ausgehen, auch wenn von diesem die alten Menschen selbst nicht immer in vollem Umfang profitieren. Dies ist eine besondere Variante von Mitverantwortung für nachfolgende Kohorten.