Читать книгу Praxishandbuch Altersmedizin - Группа авторов - Страница 149
Оглавление
6 Einführung
Johannes Pantel
In diesem Teil des Handbuchs werden altersmedizinisch relevante Syndrome und Krankheitsbilder interventionsbezogen dargestellt. Grundsätzlich können die ausgewählten Krankheitsbilder auch bei jüngeren Menschen auftreten. Sie präsentieren sich beim hochbetagten Menschen jedoch in spezifischen Problemkonstellationen und erfordern hier ein angepasstes Vorgehen in Diagnostik und Therapie. Einem engeren Krankheitsverständnis folgend, handelt es sich darüber hinaus bei einigen der nachfolgend behandelten Syndrome nicht um eigenständige nosologische Entitäten und teilweise nicht einmal um Syndrome im herkömmlichen medizinischen Sinne. So beschreibt z. B. der Begriff »Isolation« eine prekäre Lebenssituation (die gleichwohl als Risikofaktor für definierte gesundheitliche Beeinträchtigungen verstanden werden kann, aber auch als Folge von ihnen), und das Problemfeld »iatrogene Schädigung (durch Polypharmazie)« verweist auf die für das höhere Alter charakteristische Vulnerabilität in Bezug auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Interaktionen. Auch die Begriffe »Immobilität« und »Instabilität« bezeichnen keine Krankheit, sondern stellen eine klar definierte Funktionseinschränkung in den Vordergrund. In weiteren Kapiteln werden dagegen klassische klinisch oder psychopathologisch definierte Syndrome – im Sinne einer typischen Konstellation definierter Einzelsymptome (z. B. Delir, Demenz, Depression) – oder Krankheitsbilder (z. B. Hypertonie) behandelt, die im Alter häufig sind und auch aufgrund ihrer ätiologischen Heterogenität ein angepasstes, häufig interdisziplinäres Management erfordern.
Das hier zugrunde gelegte Verständnis des Begriffs »Syndrom« ist angelehnt an die Konzeption der bekannten »geriatrischen Syndrome«, deren Stellung in der Altersmedizin bereits in Teil I dieses Buches dargestellt wurde ( Kap. 3.1). In einem verdienstvollen Versuch der konzeptionellen Präzisierung des »geriatrischen Syndroms« in Abgrenzung vom herkömmlichen klinischen Syndrombegriff nennen Olde Rikkert et al. (2003) vier Charakteristika geriatrischer Syndrome: 1. Eine hohe Prävalenz im höheren Lebensalter, 2. ein Leitsymptom, das auf multiple ätiologische Faktoren, Risikofaktoren oder Komorbiditäten bezogen werden kann, 3. eine breite Überlappung der ätiologischen Faktoren verschiedener geriatrischer Syndrome (so kann z. B. eine zerebrovaskuläre Erkrankung mit Schlaganfall sowohl zu Immobilität, Instabilität, Demenz als auch Inkontinenz führen) und 4. die Koinzidenz von mehreren geriatrischen Syndromen bei einem hochbetagten Patienten.
Im Gegensatz zu einem monodisziplinären Vorgehen sollten Diagnostik und Assessment beim Vorliegen eines geriatrischen Syndroms immer die Identifizierung der zumeist multiplen Grunderkrankungen und Risikofaktoren anstreben, die bei den – häufig komplexen – präventiven, therapeutischen und rehabilitativen Interventionen angemessen zu berücksichtigen sind ( Kap. 5.3).
Ein verbindlicher Konsens darüber, welche Krankheitsbilder und Problemkonstellationen den geriatrischen Syndromen zuzurechnen sind, besteht bis heute nicht. Die in den frühen 1980er Jahren eingeführten vier »klassischen« geriatrischen Syndrome (Isaacs 1981) »Instabilität«, »Immobilität«, »intellektueller Abbau«7 und »Inkontinenz« wurden im deutschen Sprachraum um die »Mangelernährung«, die »Exsikkose«, die »iatrogene Schädigung (vorwiegend durch Polypharmazie)« und die »Depression« ergänzt (von Renteln-Kruse et al. 2009). Darüber hinaus führt die American Geriatric Society in einer Empfehlung für das medizinische Curriculum zusätzlich noch die »Osteoporose«, die »sensorischen Beeinträchtigungen«, »Antriebsstörungen«, den »Dekubitus« und »Schlafstörungen« unter den geriatrischen Syndromen auf (Eleazer et al. 2000). An anderen Stellen der Literatur werden zusätzlich »Schwindel«, »Synkopen«, »Übelkeit«, »Sprachstörungen«, »sexuelle Dysfunktion«, »Schmerz«, »funktionelle Abhängigkeit« und die »stille Angina pectoris« den geriatrischen Syndromen zugeordnet (Flacker 2003).
Vor dem Hintergrund dieser Heterogenität und den bislang relativ unscharf definierten Kriterien für ein geriatrisches Syndrom erhebt die in diesem Buch getroffene und im Folgenden detailliert dargestellte Auswahl weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch strebt sie die Definition eines verbindlichen Kanons altersmedizinischer Syndrome an. Darüber hinaus wurden weitere der im Folgenden behandelten Syndrome bislang nicht den typischen geriatrischen Syndromen zugerechnet, stellen jedoch gerade auch in der Gerontopsychiatrie häufig beobachtete Störungsbilder dar. Diese erfordern in Diagnostik und Therapie zumeist eine spezielle psychiatrisch-psychotherapeutische Kompetenz ( Kap. 3.2). Hierzu zählen u. a. die »Suizidalität«, die »Angststörungen«, »psychotische Syndrome«, »Suchterkrankungen« und »somatoforme Störungen«. Mit den geriatrischen Syndromen im engeren Sinne teilen diese Störungsbilder die Eigenschaft, altersmedizinisch handlungsleitende Konstrukte zu sein, die ein ganzheitliches, am biopsychosozialen Modell des Menschen orientiertes Management erfordern. Dieses profitiert stets auch vom interdisziplinären und interprofessionellen Austausch ( Kap. 4 und Kap. 50) und hat neben der – nicht immer erreichbaren – Heilung des Patienten insbesondere auch den Erhalt und die Wiederherstellung der physischen, psychischen und sozialen Funktionsfähigkeit und Lebensqualität des alten Menschen zum Ziel.
Der Schwerpunkt der folgenden Kapitel liegt auf der pragmatischen Therapie bzw. auf pragmatischen Interventionsmöglichkeiten. Dabei sollen Therapieoptionen mit möglichst großer wissenschaftlicher Fundierung berücksichtigt werden. Unwirksame, obsolete oder nicht evidenzbasierte Verfahren werden, soweit dies zur besseren Orientierung des Lesers sinnvoll erscheint, als solche gekennzeichnet, und ebenfalls erwähnt. Insbesondere wenn entsprechende Angaben z. B. aus einschlägigen Metaanalysen und/oder Leitlinien verfügbar sind, werden Hinweise zur Evidenzklasse und Empfehlungsgrad in speziell gekennzeichneten EBM-Boxen wiedergegeben.
Erläuterung der Hinweise in den »EBM-Boxen«
Evidenzklassen (nach: Das Deutsche Cochrane Zentrum; www.cochrane.de)
Auf der Basis umfangreicher, systematischer Literaturrecherchen treffen Evidenzklassen eine Aussage über die wissenschaftliche Aussagekraft klinischer Studien bzgl. einer spezifischen Intervention.
Klasse Ia: Evidenz aus wenigstens einem systematischen Review auf der Basis methodisch hochwertiger kontrollierter, randomisierter Studien (RCTs)
Klasse Ib: Evidenz aus wenigstens einem ausreichend großen, methodisch hochwertigen RCT
Klasse IIa: Evidenz aus wenigstens einer hochwertigen (kontrollierten) Studie ohne Randomisierung
Klasse IIb: Evidenz aus wenigstens einer hochwertigen Studie eines anderen Typs, quasi-experimenteller Studien
Klasse III: Evidenz aus mehr als einer methodisch hochwertigen nichtexperimentellen Studie (z. B, Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fall-Kontroll-Studien)
Klasse IV: Evidenz aus Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Autoritäten (aus klinischer Erfahrung), Expertenkommissionen oder beschreibenden Studien
Empfehlungsgrad
Der Empfehlungsgrad kennzeichnet die Verbindlichkeit einer Behandlungsempfehlung auf der Basis der ermittelten Evidenzklassen. In systematisch erstellten Leitlinien ist dabei die folgende Abstufung üblich:
Grad A: »Soll«-Empfehlung: zumindest eine randomisierte kontrollierte Studie von insgesamt guter Qualität und Konsistenz, die sich direkt auf die jeweilige Empfehlung bezieht und nicht extrapoliert wurde (Evidenzebenen Ia und Ib).
Grad B: »Sollte«-Empfehlung: gut durchgeführte klinische Studien, aber keine randomisierten klinischen Studien, mit direktem Bezug zur Empfehlung (Evidenzebenen II oder III) oder Extrapolation von Evidenzebene I, falls der Bezug zur spezifischen Fragestellung fehlt.
Grad C: »Kann«-Empfehlung: Berichte von Expertenkreisen oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten (Evidenzkategorie IV) oder Extrapolation von Evidenzebene IIa, IIb oder III; diese Einstufung zeigt an, dass direkt anwendbare klinische Studien von guter Qualität nicht vorhanden oder nicht verfügbar waren.
Good Clinical Practice (GCP): GCP-Empfehlungen können von Expertenseite oder von Leitliniengruppen ohne eine formalisierte Evidenzbasierung gegeben werden. Dies ist z. B. möglich, wenn es keine experimentellen wissenschaftlichen Studien gibt, die Durchführung solcher Studien nicht möglich ist oder nicht angestrebt wird, die Intervention gleichwohl allgemein üblich ist und ein diesbezüglicher Konsens erzielt werden konnte.
Abweichend von der oben dargestellten Systematik werden in einigen Publikationen auch andere Evidenz- und Empfehlungsgraduierungen angewendet, z. B. das American College of Physicians’ Guideline Grading System8 (Qaseem et al. 2010). Zur Vertiefung wird dem Leser daher empfohlen, die zitierte Leitlinie bzw. Konsensempfehlung direkt einzusehen.
Literatur
Eleazer GP, McRae T, Knebl J, Rueben D, SullivanG, Thompson B, Dupee R (2000) Core competencies for the care of older patients. Recommendations of American Geriatrics Society. Academic Medicine 75: 252–255.
Flacker JM (2003) What is a geriatric syndrome anyway? Journal of the American Geriatric Society 51: 574–575.
Isaacs B (1981) Is geriatric a specialty? In: Arie A (Hrsg.) Health care of the elderly. London: CroomHelm. S. 224–235.
Olde Rikkert MGM, Rigaud AS, van Hoeyweghen RJ, de Graaf J (2003) Geriatric syndromes: medical misnomer or progress in geriatrics? The Netherlands Journal of Medicine 61: 83–87.
Qaseem A, Snow V, Owens DK et al. (2010) The development of clinical practice guidelines and guidance statements of the American College of Physicians: Summary of Methods. Ann Intern Medicine 153: 194–199.
Von Renteln-Kruse W, Anders J, Dieckmann P (2009) Geriatrische Syndrome. In: von Renteln-Kruse W (Hrsg.) Medizin des Alterns und des alten Menschen. Darmstadt, Steinkopf. S. 63–182.
7 »intellektueller Abbau« ist ein unscharfer Sammelbegriff, der u. a. die neuropsychiatrischen Syndrome Demenz und Delir umfasst
8 Vgl. hierzu Kapitel 11 »Iatrogene Schäden durch Polypharmazie im Alter« im vorliegenden Buch.